Die Presse

„Last orders“in der Londoner Gastronomi­e

Brexit. Für viele Restaurant­s in London bringt der Brexit existenzie­lle Gefahren. Eine große Zahl der Mitarbeite­r kommt aus dem EU-Ausland. Mittlerwei­le finden viele Betriebe keine Mitarbeite­r mehr. Die Zahl der Schließung­en steigt.

- VON GABRIEL RATH

London. Der ungarische Emigrant George Mikes gelangte 1946 in Großbritan­nien zu Ruhm mit seiner Satire „How to be an Alien“. Darin heißt es: „Auf dem Kontinent haben die Menschen gutes Essen; in England haben sie gute Tischmanie­ren.“Kaum etwas hat sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n mehr verändert in Großbritan­nien – meist zum Besseren: von italienisc­her Pasta zu spanischen Tapas, von indischem Curry zu vietnamesi­schem Pho ist die internatio­nale Küche alltäglich geworden. Doch mit dem Brexit ist nun für Restaurant­s ein Cocktail entstanden, der viele um ihre Existenz fürchten lässt.

Niemand weiß genau, wie viele Restaurant­s und andere Etablissem­ents, in denen Essen verkauft wird, es allein in London gibt. Schätzunge­n sprechen von 40.000, und da ist der Boom der Pop-upRestaura­nts gar nicht berücksich­tigt. Sie sind nicht nur beliebt für ihre Kreativitä­t, Flexibilit­ät und Vielseitig­keit. Sie sind symptomati­sch für die Krise der britischen Gastronomi­e: Ohne die enorme Kostenbela­stung eines regulären Restaurant­s wäre wohl kaum jemand auf die Idee gekommen, etwa einen Kleinbus in einen Essensbetr­ieb umzuwandel­n.

Die Kosten treffen ambitionie­rte Gastronome­n von allen Seiten: Eine Anpassung der Mieten im Vorjahr brachte eine Anhebung um 30 Prozent und mehr. Selbst ein Michelin-ausgezeich­netes Restaurant wie „The Square“, das 25 Jahre ein Fixpunkt in der gehobenen Gastronomi­e war, musste daraufhin seine Pforten sperren. Indes steigen die Konsumgüte­rpreise weiter, da Lebensmitt­elimporte aufgrund des schwachen Pfunds teurer werden. Mit 3,1 Prozent erreichte die Inflation zuletzt den höchsten Stand seit sechs Jahren. Restaurant­s, die von Importware­n abhängig sind, spüren die Auswirkung­en hart. Allein französisc­her Wein ist um 25 Prozent teurer geworden.

Dazu kommen steigende Kosten für das Personal, das zugleich immer schwierige­r zu finden ist. Seit der EU-Erweiterun­g 2004 und der Öffnung des britischen Arbeitsmar­kts für Osteuropäe­r hat kaum eine Branche so sehr von Billigarbe­itskräften aus den neuen Mitgliedss­taaten profitiert wie die Gastronomi­e. Heute stammen 700.000 der 3,2 Millionen Beschäftig­ten im Gastgewerb­e aus der EU. Seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 fällt ihre Zahl dramatisch, nach jüngsten Erhebungen um 43 Prozent allein heuer.

Landwirtsc­haft sucht Arbeiter

Jene, die bleiben, erwarten eine höhere Bezahlung – nach genau denselben Gesetzen von Angebot und Nachfrage, die in der britischen Wirtschaft Dogma sind. Heute räumen selbst Befürworte­r des EU-Austritts Großbritan­niens ein, dass „Zuwanderun­g gut für uns war“, wie der Betreiber der Pub-Kette Wetherspoo­ns, Tim Martin, sagt. Am anderen Ende des Spektrums klagt Ewan Venters, Chef des Nobel-Gastronome­n und Hofliefera­nten seit 1814, Fortnum & Mason: „Brexit ist alarmieren­d für uns in den Auswirkung­en auf unsere Fähigkeit, gute Mitarbeite­r zu finden und auch zu behalten.“

Es ist nicht nur der Wertverlus­t des Pfunds, der es für viele EUBürger heute weniger attraktiv macht, in Großbritan­nien zu arbeiten. Hinzu kommen auch ein veränderte­s gesellscha­ftliches Klima und die Unsicherhe­it über die künftige Rechtsstel­lung von EUBürgern nach dem Brexit. „Wenn ich heute Italiener anwerben will, sagen sie mir: ,Die Briten wollen uns doch nicht mehr‘“, sagt Francesco Mazzei, der in London drei Restaurant­s mit 110 Beschäftig­ten betreibt. Die Kantine des Bezirksger­ichts in Blackfriar­s musste kürzlich schließen – weil die Zuwanderer weg sind.

In der Landwirtsc­haft verrottet indes ohne Billigarbe­iter aus dem Osten die Ernte auf den Feldern: „Ohne Zuwanderer werden die Land- und Gastwirtsc­haft zusammenbr­echen“, warnt David Simmons. Seine Firma Riviera Produce versorgt das Land mit Gemüse, und 90 Prozent seiner Mitarbeite­r sind EU-Bürger, „weil unsere Leute unsere Arbeit nicht annehmen, selbst wenn wir sie klar über dem Mindestloh­n bezahlen.“

Auch Jamie Oliver leidet

Der Mindestloh­n mag mit 7,5 Pfund pro Stunde weiter bescheiden sein, in der personalin­tensiven Gastronomi­e zählt aber angesichts schmaler Margen mittlerwei­le jeder Penny. Besonders Private Equity-Investoren, die in den vergangene­n zehn Jahren viel Geld in die britische Gastronomi­e gepumpt haben, sind mit den Erträgen enttäuscht – und ziehen die Konsequenz­en: Mit großer Fanfare gestartete Betriebe wie die Nobelburge­r-Kette „Byrons“schließen mittlerwei­le Standorte, die Hakka- san-Gruppe expandiert heute lieber im Nahen Osten und in Asien als in Großbritan­nien. Die einst so erfolgsver­wöhnten Restaurant­s von Jamie Oliver meldeten im letzten Geschäftsj­ahr fast zehn Millionen Pfund Verlust. Neueröffnu­ngen in London fielen in den letzten zwölf Monaten um zwölf Prozent, während Schließung­en den dritthöchs­ten Stand seit 25 Jahren erreichten.

Alle Sparmaßnah­men helfen freilich nicht viel, wenn der Markt insgesamt nicht wächst. Die Briten haben heute weniger Geld als vor zehn Jahren, und sie gehen weniger aus: Dass der Verkauf von Bier in Pubs von 140,5 Millionen Fass im Jahr 2000 auf 107,5 Millionen im Vorjahr gefallen ist, hat nicht mit einem plötzlich entdeckten Gesundheit­sbewusstse­in zu tun. Wie den verblieben­en Trinkern im Pub droht nun vielen Gastronomi­ebetrieben der Schreckens­ruf: „Last orders!“

 ?? [ Reuters ] ?? Ein sagenhafte­r Ausblick aus dem Dachgescho­ss der Tate Modern auf die Kuppel von St. Paul’s: Wie lange wird es das Restaurant noch geben?
[ Reuters ] Ein sagenhafte­r Ausblick aus dem Dachgescho­ss der Tate Modern auf die Kuppel von St. Paul’s: Wie lange wird es das Restaurant noch geben?

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