Die Presse

Zwischen Faszinatio­n und Skepsis

66. Vierschanz­entournee. Skispringe­n nach Weihnachte­n ist nicht bloß ein Sportklass­iker, es ist stets ein massentaug­liches Physikscha­uspiel, das mit Absprung, V-Stil und Patriotism­us bewegt.

- VON MARKKU DATLER

Vier Schanzen, ein Mythos – auf diesen Nenner lässt sich die Vierschanz­entournee der Skispringe­r zwar leicht bringen. Doch es ist weitaus mehr als nur Skispringe­n nach den Weihnachts­feiertagen, rund um den Jahreswech­sel bis hin zum Dreikönigs­tag. Es sind nicht nur vier zusammenge­schlossene Weltcupbew­erbe. Die Tournee mit ihren Stationen in Oberstdorf (30. Dezember), Garmisch-Partenkirc­hen (1. Jänner), Innsbruck (4. Jänner) und dem Finale am Dreikönigs­tag in Bischofsho­fen ist gelebte Tradition seit 1953. In der Gegenwart ist es die „Premiumser­ie im Skisprungw­eltcup“, sagt FIS-Renndirekt­or Walter Hofer stolz. ÖSV-Chef Ernst Vettori, selbst zweimal Gewinner dieses Events, hat eine bessere Bezeichnun­g gefunden: „Die Tournee ist für uns wie die Tour de France!“

Wenn Stefan Kraft, Richard Freitag (GER), Kamil Stoch (POL) oder der Norweger Anders Fannemel dieser Tage abspringen, heben in ihrer jeweiligen Heimat Tausende TV-Zuschauer mit ab. Das ist womöglich auch das wahre Geheimnis, warum die Tournee auch in ihrer 66. Auflage weiterhin derart populär bis massentaug­lich ist: Alle haben frei und Zeit, die Telemarkla­ndung von der Wohnzimmer­couch aus zu probieren. Ist die Breitenwir­ksamkeit und -tauglichke­it im Skispringe­n an sich zweifelhaf­t, so besteht während der Tournee jedoch kein Diskussion­sbedarf. Hier verschwimm­en Patriotism­us, Faszinatio­n, Weitenjagd, Geschick, Talent, Wissenscha­ft und Glühweinge­ruch; immer wieder. Die Tournee hat ihre eigenen Gesetze – und Sieger.

Wo ist Dieter Bohlen?

Österreich­s Siegesseri­e mit sieben Erfolgen in Serie (2009–2015) ist unerreichb­ar, auch bleibt es womöglich ein historisch­es Kunststück, das der Deutsche Sven Hannawald 2002 landen konnte mit Siegen auf jeder Station. Vom „Grand Slam“, dem Perpetuum mobile, spricht man heute noch, in Ehrfurcht, mit Respekt, mit Gänsehaut. 14,89 Millionen Zuschauer zählte RTL damals am Dreikönigs­tag, Skispringe­n – nein, die Tournee – war eine Millionens­how geworden. Wer dabei war, schätzt sich bis dato glücklich. Es springt aber trotzdem ein wenig Wehmut mit, denn ein Aspekt ist der Tournee verlustig gegangen: An sich Unmögliche­s ist doch möglich.

Mit dem Hoch der Deutschen wurde die Tournee ein Geschäft, Martin Schmitt und Hannawald waren Teenie-Idole, Sponsoren und TV-Sender standen Schlange. Dieter Bohlen und Pur spielten Pausenfüll­er oder Anheizer für Skispringe­r, Unmögliche­s war gelebte Wirklichke­it. Weil Siege ausblieben, wechselten Geldgeber und Sender, „ziiiehen“nun andere über den Schanzenti­sch. Doch das Warten des Nachbarn könnte in diesem Anlauf nach 16 Jahren ein Ende haben. Zwei (mickrige) Tagessiege stehen seit damals zu Buche, jetzt aber herrscht neue Zuversicht. Richard Freitag, ein im beschaulic­h-idyllische­n Kurort Oberstdorf glücklich gewordener Sachse, führt im Gesamtwelt­cup. An seiner Technik, wohl an seinem Material (Anzug, Ski), führt derzeit kaum ein Flug- weg vorbei. Er kommt wie Hannawald aus Erlabrunn, der sympathisc­he Schnurrbar­tträger könnte die Lücke schließen, seinem Sport den so dringend benötigten Impuls geben. Dass er vom Vorarlberg­er Werner Schuster betreut wird, stört im Nachbarlan­d weniger, als wenn es umgekehrt wäre. Das Auftaktspr­ingen am Samstag (25.000 Zuschauer) ist bereits ausverkauf­t.

Wer niemals abspringen wird

Ein Springen zu gewinnen, mag für viele als schlichte Routine erscheinen. Den Tourneesie­g in Bischofsho­fen zu fixieren, ist jedoch ein das Nervenkost­üm dieser – ungemein filigran auftretend­en – Athleten höchst strapazier­ender Augenblick. Beobachter müssen ihnen diese Anspannung glauben, ihren Erzählunge­n über Anfahrtsho­cke, Absprung, Flugphase, V-Stil und Telemark bzw. „Kacherl“folgen.

In gewisser Weise erklärt sich vielleicht so auch relativ simpel der Mythos der Vierschanz­entournee. Es ist ein Mix aus der tatsächlic­hen Faszinatio­n des Fliegens, echter Bewunderun­g und der unbestritt­enen Tatsache, es nie im Leben selbst probieren zu wollen, geschweige denn je zu werden. Schon gar nicht nach dem üppigen Weihnachts­festmahl . . .

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