Die Presse

Auch Muti kann Strauß nicht erklären

Neujahrsko­nzert. Zum fünften Mal haben die Wiener Philharmon­iker Riccardo Muti für ihr Neujahrsko­nzert eingeladen. Mit der „Presse“sprach er über die musikalisc­he Seele Wiens, über Vorbilder, Wünsche und 50 Jahre Dirigieren.

- DONNERSTAG, 28. DEZEMBER 2017 VON WALTER DOBNER ORF2 überträgt live ab 11.15 Uhr.

Zum fünften Mal dirigiert Riccardo Muti das Neujahrsko­nzert. Den Walzer könne man nicht erklären, meint er im Interview, er sei ein Charakteri­stikum der Wiener Seele.

Die Presse: Maestro Muti, erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Neujahrsko­nzert? Riccardo Muti: Das liegt schon viele Jahre zurück . . . Dirigent war Willi Boskovsky, er hat mit der Geige in der Hand dirigiert.

Welchen Eindruck hatten Sie? Es war das Bild, das Italiener üblicherwe­ise mit Wien verbinden: eine Stadt der Romantik und Nostalgie, die in das letzte Jahrhunder­t zurückblic­kt, mit Musik von Strauß. Und weil die Nacht davor lang war, schien mir, dass dieser Traum auch wahr sei.

Wann haben Sie erstmals mit dem Gedanken gespielt, ein Neujahrsko­nzert zu dirigieren? Bevor man mich gefragt hat, war es nie ein Thema. Eingeladen hat mich der damalige Philharmon­iker-Vorstand Professor Resel. Ihm gefiel, wie ich die Schubert-Symphonien, die ich mit den Philharmon­ikern gerade aufnahm, dirigierte. Er meinte, ich würde ein guter Neujahrsko­nzert-Dirigent sein, denn Schubert ist das Tor zu Strauß, er ist die musikalisc­he Seele Wiens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts. Strauß ist ein anderer Aspekt dieser Seele in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunder­ts. Das führte zu meinem ersten Neujahrsko­nzert 1993. Zu Beginn war ich mir nicht sicher, ob es mir gelingen wird, diese typisch wienerisch­e Atmosphäre zu schaffen. Man darf aber nicht vergessen, dass Neapel und Wien im 18. und Anfang des 19. Jahrhunder­ts eng verbunden waren. Das Konzert war ein Erfolg. Ich empfand es als große Ehre, diese spezielle Bewegung im Walzer mitfühlen zu dürfen – dieses eins, zwei und vielleicht drei, wie die Wiener sagen. Man kann diesen Rhythmus nicht erklären, niemand kann das imitieren, es ist ein Charakteri­stikum der Wiener Seele. Kein Orchester versteht sich so darauf wie die Wiener Philharmon­iker, es ist wie der Weg des Wassers auf dem Ozean. 1997 folgte mein zweites Neujahrsko­nzert, 2000 das dritte, 2004 das vierte. Wenn ich nun mein fünftes dirigieren werde, bedeutet das auch, dass ich seit 48 Jahren mit den Wiener Philharmon­ikern zusammenar­beite.

Wird es Ihr letztes Neujahrsko­nzert sein? Es ist schön, bestimmte Anlässe im Kreise der Familie, der Kinder, der Enkelkinde­r zu verbringen. Dazu gehören Weihnachte­n und der Jahreswech­sel. Deshalb habe ich vor, im Sommer in Salzburg keine Oper mehr dirigieren. Ein Konzert ist schön, für eine Oper aber muss man mehrere Wochen im Juli und August dort sein. Diese Zeit will ich auch am Meer und mit der Familie verbringen. Aber die Enkelkinde­r werden größer und wenn sie Lust haben, mit mir zu reisen, ändere ich vielleicht diese Meinung.

Professor Franz Mailer, der durch Jahrzehnte die Programme der Neujahrsko­nzerte zusammenst­ellte, hat Sie als idealen Strauß-Dirigenten bezeichnet. Mailer war mit seiner Liebe zu Strauß und seinem immensen Wissen für mich eine Inspiratio­n. Er begleitete mich bei meinen ersten Neujahrsko­nzerten und suchte nach Werken, die meinem Naturell ideal entspreche­n. Wenn er Strauß hörte, begleitete er das immer mit entspreche­nden Handbewegu­ngen. Deshalb sagte ich ihm, nicht ich, sondern er sollte dirigieren, das wäre perfekt.

Was ist denn wichtig für einen Strauß-Dirigenten? Er sollte eine längere Zeit in Wien verbracht haben, um zu wissen: Was ist die Seele, was die Natur der Wiener. Das ist gar nicht so einfach, denn der Großteil der Wiener stammt nicht aus Wien. Wien ist ein Schmelztie­gel aus verschiede­nen Nationen. Das schafft einen speziellen Charakter; die Musik von Strauß repräsenti­ert diesen Charakter, der sich zwischen der Sehnsucht nach Freude und Traurigkei­t bewegt. Auch Gefühle von Nostalgie schwingen mit. Walzerdiri­gieren ist alles andere als einfach, man muss Flexibilit­ät mitbringen, dabei auf die Präzision achten, die diese Stücke erfordern. Bei meinem ersten Konzert habe ich viel von den Philharmon­ikern gelernt. Als Dirigent muss man eine Idee haben, aber ebenso die Tradition kennen, ohne ihr kritiklos zu folgen. Ich habe einmal mehrere Aufnahmen des Radetzkyma­rsches mit den Wiener Philharmon­ikern gehört – obwohl es sich um einen Marsch handelt, findet man hier zahlreiche unterschie­dliche Darstellun­gen. Daher ist die Verbindung zwischen Dirigent und Orchester wichtig.

Haben Sie Vorbilder unter den Strauß-Dirigenten? Karajan und Carlos Kleiber hatten einen besonders beeindruck­enden Zugang zu dieser Musik. Carlos, mit dem ich eng befreundet war, hatte diese Musik im Blut, Clemens Krauss kam wohl dem Geist dieser Musik am nächsten. Und Karajan, der nur ein einziges Neujahrsko­nzert dirigiert hat, machte die Ernsthafti­gkeit dieser Musik deutlich.

Schon bei einem ihrer früheren Neujahrsko­nzerte hatten Sie mit der Ouvertüre „Leichte Kavallerie“ein Werk von Suppe´ auf dem Programm, diesmal ist es die „Boccaccio“-Ouvertüre. Als ich 1993 „Aida“an der Staatsoper dirigierte, luden mich die Philharmon­iker ein, ihren Ball zu eröffnen. Ich wählte die Ouvertüre zu „Donna Diana“von Reznicek, das war meine erste Begegnung mit dieser Art von Musik. Die Werke von Suppe´ sind brillant und sehr effektvoll, in der „Boccaccio“Ouvertüre hört man den Einfluss Rossinis.

Ihr Programm schlägt mehrere Brücken zwischen Österreich und Italien, etwa mit dem „Wilhelm-Tell“-Galopp von Strauß Vater oder der „Un ballo di maschera“Quadrille des Walzerköni­gs. Das erinnert uns, wie populär die Musik von Rossini und Verdi damals war und dass sie zahlreiche Komponiste­n inspiriert hat, auch Liszt. Die Quadrille ist voller Humor, und das populäre „Wilhelm-Tell“-Thema regte Strauß Vater zu einem sehr witzigen Stück an.

Mit dem Neujahrsko­nzert wird nicht nur das neue Jahr begrüßt, es ist auch eine ideale Möglichkei­t, Wünsche zu äußern. Welche haben Sie? Es mag pathetisch klingen, aber wenn man Kinder hat, an die Zukunft denkt und weiß, wie komplizier­t unsere Welt geworden ist, dann wünsche ich mir vor allem, dass Europa alles unternimmt, um seine Identität nicht zu verlieren. Europa ist eine der Wiegen der Welt, Europas Werte haben unsere Geschichte geschaffen, Musik spielt dabei eine wesentlich­e Rolle. Deshalb liebe ich die Wiener Philharmon­iker, sie arbeiten hart, um ihre Tradition, ihre Geschichte, ihren Klang zu bewahren, das ist ein Herzstück Österreich­s. Um diese Werte geht es, um diese Wurzeln. Wir wissen, wenn die Bäume keine Wurzeln haben, sterben sie.

Im kommenden Jahr begehen Sie Ihr 50-jähriges Dirigenten­jubiläum. In Florenz, wo ich meine Karriere begonnen habe. Ich freue mich, dass man mich eingeladen hat, ich werde Verdis „Macbeth“dirigieren.

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 ?? [ ORF/Ali Schafler] ?? „Dieses eins, zwei und vielleicht drei“: Riccardo Muti beim Neujahrsko­nzert 2004.
[ ORF/Ali Schafler] „Dieses eins, zwei und vielleicht drei“: Riccardo Muti beim Neujahrsko­nzert 2004.

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