Der Brexit ist „ein Crash in Zeitlupe“
Interview. Der ehemalige Staatssekretär David Willetts warnt vor dem Verlust der Mitte in Großbritanniens Gesellschaft.
Die Presse: In Ihrem neuen Buch, „A University Education“, schreiben Sie: „Es gibt das fundamentale menschliche Verlangen zu verstehen.“Wie können wir die Entscheidung der Briten für den Brexit verstehen? David Willetts: Nach meiner Ansicht ist die Mehrheit für den Brexit aus einer Koalition von zwei Gruppen zustande gekommen: den Ausgeschlossenen und den Isolierten. Zudem hätten wir mehr machen müssen, um die Menschen zu gewinnen. Als man ihnen dazu die Gelegenheit gab, verpassten sie uns einen gewaltigen Tritt.
Wie schwer ist der Druck, unter dem die Mittelklasse nun steht? Für viele Menschen, insbesondere junge, steigen die Einkommen nicht. Entsprechend trist sind ihre Zukunftsperspektiven. Wir schaffen viele Jobs, aber sie sind schlecht bezahlt. Wer heute in Großbritannien zwischen 20 und 30 Jahren alt ist, verdient weniger als seine Eltern. Dazu kommt, dass es für junge Menschen sehr schwer ist, zwei fundamentale Vermögenswerte zu schaffen: Das eine ist die Pension, das andere die Schaffung von Wohnungseigentum. Wir brauchen 300.000 neue Wohnungen im Jahr, aber wir schaffen nicht mehr als 150.000.
Sehen Sie Argumente für eine Umverteilung? Ich bin sicherlich für progressive Steuern, und tatsächlich zahlen die Reichsten einen sehr hohen Steuersatz. Das Problem sind die Armen in der Mitte. Sie verdienen wenig, und daher zahlen sie auch wenig Steuern. Der Staat wird von den Spitzensteuern immer abhängiger. Es ist eine Fantasie der Lin- ken, dass man nur die Reichen höher besteuern muss, um den Wohlfahrtsstaat finanzieren zu können.
Labour-Chef Jeremy Corbyn will 250 Milliarden Pfund in die Infrastruktur investieren. Hat er nicht recht? Es ist schon etwas Wahres an dem Argument, dass Niedrigzinsen eine Chance für mehr Ausgaben sind, vorausgesetzt, es sind sinnvolle Investitionen.
Es gibt aber nicht einmal darüber Konsens. Ist Großbritannien nach dem Brexit eine völlig gespaltene Gesellschaft? Nein, Großbritannien ist nicht völlig zersplittert. Es stimmt, dass es enorme Spannungen und Belastungen gibt, die auch zum Brexit geführt haben, aber wir sind eine robuste und gesunde Gesellschaft.
Fürchten Sie, dass der Brexit diese Grundlagen gefährden könnte? Ich mache mir Sorgen. Ich denke, dass Großbritannien in den ver- gangenen 30 Jahren eine erfolgreiche Entwicklung genommen hat. Aber der Brexit wird eine enorme Belastung bedeuten, insbesondere für die Jugend.
Es scheint ein gewisses Umdenken einzusetzen. Ist der Brexit unumkehrbar? Man kann Szenarios – unwahrscheinliche, aber nicht undenkbare – sehen, in denen uns ein Licht aufzugehen beginnt und das Parlament etwa ein schädliches Abkommen ablehnt. In diesem Fall müsste es Neuwahlen oder eine zweite Volksabstimmung geben. Aber es muss erst zu einem großen Einsehen kommen, was der Brexit wirklich bedeutet. Die EU-Anhänger hatten für den Fall des Austritts eine Katastrophe vom ersten Tag an prophezeit. In Wahrheit entfaltet es sich wie ein Crash in Zeitlupe. So sehen wir auch nur eine langsame Bewegung in Richtung des EU-Verbleibs, aber keine rasante Verschiebung.
In der politischen Elite oder der Bevölkerung? Unter den Bürgern. Wenn wir regelmäßig Umfragen mit 60 zu 40 Prozent für die EU haben, werden auch die Politiker umdenken.
In Europa fragt man sich immer noch, ob die Briten angesichts der negativen Auswirkungen des Brexit umdenken oder weiter auf ein „Augen zu und durch“setzen werden. Ich habe Freunde im Parlament, die davon überzeugt sind, dass der Brexit einen schweren Schaden für uns darstellt. Aber sie haben die Volksabstimmung zu berücksichtigen, sie vertreten möglicherweise einen Wahlkreis, der für den Brexit gestimmt hat, der Vorsitzende ihres Ortsverbands will aus der EU austreten, und – im Fall der Konservativen – sie vertreten eine Regierung, die sich zum Brexit bekannt hat. Es ist ganz schön schwer, sich individuell diesem Druck zu widersetzen.
Wie interpretieren Sie das Ergebnis der ersten Phase der Brexit-Verhandlungen? Momentan scheint jeder herauszulesen, was er herauslesen will. Das ist richtig. Aber wenn da steht, wir müssen „in Übereinstimmung“mit EU-Bestimmungen bleiben, ist schwer zu erkennen, wie wir unsere eigenen Regeln festlegen, aus der Zollunion austreten und doch weiterhin „abgestimmt“sein können. Es ist großartig, dass wir keine befestigte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland bekommen werden. Aber das bedeutet grundsätzlich, mit der EU und ihren Regeln verbunden zu bleiben.
Wenn Sie fünf Jahre vorausblicken, was für ein optimistisches und was für ein pessimistisches Szenario sehen Sie für Ihr Land? Ich habe zwei optimistische Szenarien und ein pessimistisches. Das erste optimistische Szenario ist, dass wir erkennen, wie viel Schaden wir uns selbst zufügen, und in Folge kommt es zu einem sehr weichen Brexit, bei dem wir mindestens im Binnenmarkt und in der Zollunion bleiben. Das zweite optimistische ist die bestmögliche Folge des Brexit, indem der EU-Austritt uns dazu zwingt, Probleme zu lösen, die wir jahrzehntelang ignoriert haben und für die wir nun nicht länger Brüssel die Schuld geben können. Die pessimistische Voraussage ist, dass sich der Brexit über Jahre ziehen und das politische Leben lahmlegen wird, Reformen noch schwieriger werden und Hindernisse entstehen, die unserer Wirtschaft schaden.
Ihr Institut ist auf Fragen spezialisiert, die ursächlich zum Brexit geführt haben, wie fallende Lebensstandards und steigende Ungleichheit. Was geschieht mit einer Gesellschaft, die ihre Mitte bzw. Mittelklasse verliert? Darum geht es. Wir Konservative haben über Jahrzehnte ein Bündnis zwischen der Mitte und den Reichen hergestellt, denn die Mittelklasse strebt nach oben. Heute aber ist die Mittelklasse jenen Bedrohungen näher, denen üblicherweise die Armen ausgesetzt sind. Gesellschaftlich ist ein Vertreter der Mittelklasse heute der Unterklasse näher als der Oberklasse. Das ist es, was in unserer Gesellschaft schiefläuft. Die Folgen sind unabsehbar.