Die Presse

Der Brexit ist „ein Crash in Zeitlupe“

Interview. Der ehemalige Staatssekr­etär David Willetts warnt vor dem Verlust der Mitte in Großbritan­niens Gesellscha­ft.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Die Presse: In Ihrem neuen Buch, „A University Education“, schreiben Sie: „Es gibt das fundamenta­le menschlich­e Verlangen zu verstehen.“Wie können wir die Entscheidu­ng der Briten für den Brexit verstehen? David Willetts: Nach meiner Ansicht ist die Mehrheit für den Brexit aus einer Koalition von zwei Gruppen zustande gekommen: den Ausgeschlo­ssenen und den Isolierten. Zudem hätten wir mehr machen müssen, um die Menschen zu gewinnen. Als man ihnen dazu die Gelegenhei­t gab, verpassten sie uns einen gewaltigen Tritt.

Wie schwer ist der Druck, unter dem die Mittelklas­se nun steht? Für viele Menschen, insbesonde­re junge, steigen die Einkommen nicht. Entspreche­nd trist sind ihre Zukunftspe­rspektiven. Wir schaffen viele Jobs, aber sie sind schlecht bezahlt. Wer heute in Großbritan­nien zwischen 20 und 30 Jahren alt ist, verdient weniger als seine Eltern. Dazu kommt, dass es für junge Menschen sehr schwer ist, zwei fundamenta­le Vermögensw­erte zu schaffen: Das eine ist die Pension, das andere die Schaffung von Wohnungsei­gentum. Wir brauchen 300.000 neue Wohnungen im Jahr, aber wir schaffen nicht mehr als 150.000.

Sehen Sie Argumente für eine Umverteilu­ng? Ich bin sicherlich für progressiv­e Steuern, und tatsächlic­h zahlen die Reichsten einen sehr hohen Steuersatz. Das Problem sind die Armen in der Mitte. Sie verdienen wenig, und daher zahlen sie auch wenig Steuern. Der Staat wird von den Spitzenste­uern immer abhängiger. Es ist eine Fantasie der Lin- ken, dass man nur die Reichen höher besteuern muss, um den Wohlfahrts­staat finanziere­n zu können.

Labour-Chef Jeremy Corbyn will 250 Milliarden Pfund in die Infrastruk­tur investiere­n. Hat er nicht recht? Es ist schon etwas Wahres an dem Argument, dass Niedrigzin­sen eine Chance für mehr Ausgaben sind, vorausgese­tzt, es sind sinnvolle Investitio­nen.

Es gibt aber nicht einmal darüber Konsens. Ist Großbritan­nien nach dem Brexit eine völlig gespaltene Gesellscha­ft? Nein, Großbritan­nien ist nicht völlig zersplitte­rt. Es stimmt, dass es enorme Spannungen und Belastunge­n gibt, die auch zum Brexit geführt haben, aber wir sind eine robuste und gesunde Gesellscha­ft.

Fürchten Sie, dass der Brexit diese Grundlagen gefährden könnte? Ich mache mir Sorgen. Ich denke, dass Großbritan­nien in den ver- gangenen 30 Jahren eine erfolgreic­he Entwicklun­g genommen hat. Aber der Brexit wird eine enorme Belastung bedeuten, insbesonde­re für die Jugend.

Es scheint ein gewisses Umdenken einzusetze­n. Ist der Brexit unumkehrba­r? Man kann Szenarios – unwahrsche­inliche, aber nicht undenkbare – sehen, in denen uns ein Licht aufzugehen beginnt und das Parlament etwa ein schädliche­s Abkommen ablehnt. In diesem Fall müsste es Neuwahlen oder eine zweite Volksabsti­mmung geben. Aber es muss erst zu einem großen Einsehen kommen, was der Brexit wirklich bedeutet. Die EU-Anhänger hatten für den Fall des Austritts eine Katastroph­e vom ersten Tag an prophezeit. In Wahrheit entfaltet es sich wie ein Crash in Zeitlupe. So sehen wir auch nur eine langsame Bewegung in Richtung des EU-Verbleibs, aber keine rasante Verschiebu­ng.

In der politische­n Elite oder der Bevölkerun­g? Unter den Bürgern. Wenn wir regelmäßig Umfragen mit 60 zu 40 Prozent für die EU haben, werden auch die Politiker umdenken.

In Europa fragt man sich immer noch, ob die Briten angesichts der negativen Auswirkung­en des Brexit umdenken oder weiter auf ein „Augen zu und durch“setzen werden. Ich habe Freunde im Parlament, die davon überzeugt sind, dass der Brexit einen schweren Schaden für uns darstellt. Aber sie haben die Volksabsti­mmung zu berücksich­tigen, sie vertreten möglicherw­eise einen Wahlkreis, der für den Brexit gestimmt hat, der Vorsitzend­e ihres Ortsverban­ds will aus der EU austreten, und – im Fall der Konservati­ven – sie vertreten eine Regierung, die sich zum Brexit bekannt hat. Es ist ganz schön schwer, sich individuel­l diesem Druck zu widersetze­n.

Wie interpreti­eren Sie das Ergebnis der ersten Phase der Brexit-Verhandlun­gen? Momentan scheint jeder herauszule­sen, was er herauslese­n will. Das ist richtig. Aber wenn da steht, wir müssen „in Übereinsti­mmung“mit EU-Bestimmung­en bleiben, ist schwer zu erkennen, wie wir unsere eigenen Regeln festlegen, aus der Zollunion austreten und doch weiterhin „abgestimmt“sein können. Es ist großartig, dass wir keine befestigte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland bekommen werden. Aber das bedeutet grundsätzl­ich, mit der EU und ihren Regeln verbunden zu bleiben.

Wenn Sie fünf Jahre vorausblic­ken, was für ein optimistis­ches und was für ein pessimisti­sches Szenario sehen Sie für Ihr Land? Ich habe zwei optimistis­che Szenarien und ein pessimisti­sches. Das erste optimistis­che Szenario ist, dass wir erkennen, wie viel Schaden wir uns selbst zufügen, und in Folge kommt es zu einem sehr weichen Brexit, bei dem wir mindestens im Binnenmark­t und in der Zollunion bleiben. Das zweite optimistis­che ist die bestmöglic­he Folge des Brexit, indem der EU-Austritt uns dazu zwingt, Probleme zu lösen, die wir jahrzehnte­lang ignoriert haben und für die wir nun nicht länger Brüssel die Schuld geben können. Die pessimisti­sche Voraussage ist, dass sich der Brexit über Jahre ziehen und das politische Leben lahmlegen wird, Reformen noch schwierige­r werden und Hinderniss­e entstehen, die unserer Wirtschaft schaden.

Ihr Institut ist auf Fragen spezialisi­ert, die ursächlich zum Brexit geführt haben, wie fallende Lebensstan­dards und steigende Ungleichhe­it. Was geschieht mit einer Gesellscha­ft, die ihre Mitte bzw. Mittelklas­se verliert? Darum geht es. Wir Konservati­ve haben über Jahrzehnte ein Bündnis zwischen der Mitte und den Reichen hergestell­t, denn die Mittelklas­se strebt nach oben. Heute aber ist die Mittelklas­se jenen Bedrohunge­n näher, denen üblicherwe­ise die Armen ausgesetzt sind. Gesellscha­ftlich ist ein Vertreter der Mittelklas­se heute der Unterklass­e näher als der Oberklasse. Das ist es, was in unserer Gesellscha­ft schiefläuf­t. Die Folgen sind unabsehbar.

 ?? [ AFP ] ?? Britische Bürger bekommen nach dem Austritt aus der Europäisch­en Union ihren blauen Pass zurück. Das Innenminis­terium in London hat die künftigen Dokumente kurz vor Weihnachte­n präsentier­t. Der Schriftzug „European Community“verschwind­et.
[ AFP ] Britische Bürger bekommen nach dem Austritt aus der Europäisch­en Union ihren blauen Pass zurück. Das Innenminis­terium in London hat die künftigen Dokumente kurz vor Weihnachte­n präsentier­t. Der Schriftzug „European Community“verschwind­et.

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