Härte ist nicht alles
Jahreswende 1917/1918. Endzeitstimmung. Siegfrieden. Verzichtfrieden. Friedensgedusel. Brennnesselmahlzeiten. Allen ist klar, hier tut sich Umwälzendes. Wien vor hundert Jahren: Was für ein Silvester!
Ein fast vergessenes Jubiläum: Vor 65 Jahren wurde die Knautschzone erfunden. Ein wahres Stück Österreich.
Was war das doch für ein Jahreswechsel, damals, vor hundert Jahren! Als sich Politiker, Intellektuelle, Militärs, Journalisten und „das Volk“Gedanken darüber machten, was das alte Jahr, 1917, gebracht hatte und was vom neuen zu erwarten war, lagen ihre Wahrnehmungen weit auseinander. Einig war man sich nur in dem Wissen, dass das alte Jahr ereignisreich gewesen war und dass es gleich mehrere unerwartete Entwicklungen gegeben hatte. Von Hoffnung war kaum die Rede.
Der Minister des Äußern der Habsburgermonarchie, Ottokar Graf Czernin, träumte vom Siegfrieden. Russland war am Ende; es herrschte Waffenstillstand, und in der Festung von Brest-Litowsk verhandelte man mit dem Gottseibeiuns, den Bolschewiken Lenins, über einen Frieden. Rumänien war niedergeworfen, Serbien, Montenegro waren besiegt und besetzt, zwei Drittel von Albanien wurden von k. u. k. Truppen kontrolliert. Und in Italien war mit deutscher Hilfe ein riesiger Sieg errungen worden, der hoffen ließ, auch die Italiener wären aus dem Feld geschlagen. Die siegreichen Truppen in Italien waren noch immer dabei, die Beute zu zählen. Den Chef der Quartiermeisterabteilung des k. u. k. Armeeoberkommandos, Theodor Ritter von Zeynek, ärgerte freilich, dass auch die Deutschen kräftig zulangten. Währenddessen gingen die Kämpfe weiter. Soldaten, die einen meist nur kurzen Urlaub bewilligt bekommen hatten, rückten wieder zu ihren Einheiten ein. „Das neue Jahr 1918 machte bei uns einen traurigen Einzug. Keine Aussicht auf ein Ende ist vorhanden“, schrieb der Gefreite Franz Arneitz vom k. u. k. Infanterie-Regiment Nr. 7. Italienische und neuerdings auch französische Artillerie hämmerte auf die österreichischen Stellungen am Monte Asolone und auf den Monte Tomba ein. Rüstungsmaterial wurde an die Front gekarrt, und schnell machten Meldungen von einer neuerlichen Offensive die Runde. Die Deutsche Oberste Heeresleitung zog zwar ihre letzten Verbände aus Italien ab, stellte aber gewissermaßen als Ausgleich dem k. u. k. Armeeoberkommando eine schwere Bomberstaffel zur Verfügung, die am Heiligen Abend Padua bombardierte. Die Italiener antworteten am ersten Weihnachtsfeiertag mit Bomben auf Vittorio Veneto. Die Schäden waren nicht sehr groß, doch unzählige Fensterscheiben gingen zu Bruch. Der Oberbefehlshaber der deutschen 14. Armee, General von Below, nahm’s leicht: „Überall Scherben . . . das bedeutet Glück im Neuen Jahr“, ließ er die Österreicher wissen, ehe er ein neues Kommando an der Front in Frankreich übernahm. Er ließ ein k. u. k. Oberkommando zurück, das vor Zuversicht strotzte.
Als der Chef des Generalstabes Österreich-Ungarns, General Arthur Arz von Straußenburg, von seiner Operationsabteilung Auskunft über die Widerstandskraft und Angriffsfähigkeit der Armee im Frühjahr 1918 haben wollte, bekam er eine überschwängliche Einschätzung: „Wie die jetzigen Ereignisse beweisen, besitzt unsere Armee nach wie vor volle Offensivfähigkeit. Die Abwehrfähigkeit gegen feindliche Offensiven wird im Frühjahr 1918 keine geringere sein als jetzt. 10.000 Maschinengewehre werden mehr eingestellt, und die Dotierung mit Minenwerfern wird eine ungleich reichere sein.“Auch ein Durchhalten, ohne anzugreifen, ist gewährleistet, „wenn nicht das für den Geist der Armee wie Gift wirkende Friedensgedusel der Presse etc. die Wehrmacht zersetzt. Wenn das Friedensgewinsel verstummt, Volk und Armee über die zwingende Notwendigkeit, den uns aufgezwungenen weiteren Kampf zu führen, überzeugt wird (Sache einer vernünftigen Pressepolitik, Aufklärung etc.), so wird die brave Armee auch im Stellungskrieg durchhalten!“
Das konnte man nur als sträflich leichtfertig und bar jeglichen Realitätssinns bezeichnen. Die Wirklichkeit sah denn auch anders aus. Und Kaiser wie Armeeoberkommando wussten das. In einer anonymen Zu- schrift an Kaiser Karl hieß es dazu: „Die allgemeine Stimmung ist schlecht, nein, sie ist miserabel! Es sind alle Anzeichen einer trostlosen Resignation erkennbar. Die Siege der Armee werden kaum beachtet. Es ist so weit gekommen, dass das Anwachsen der Gefangenenzahlen auf die Bevölkerung direkt aufreizend wirkt; sie erblickt darin lediglich eine Erhöhung der Zahl der Fresser; sie erblickt im Fortschreiten der Offensive lediglich ein Anwachsen der zu ernährenden Bevölkerung. Denn alles und alles dreht sich heute nur mehr um den Frieden, weil von ihm eine Besserung der Ernährungsverhältnisse erhofft wird.“In Pazin in Mittelistrien starben im Winter 47 Menschen an Hunger. Man kochte Brennnesseln und Gras. Was sollte da der Traum vom Sieg? Selbst die innenpolitischen Verhältnisse traten davor zurück.
„Der größte Teil der Bevölkerung hat kein Interesse für das Parlament“, wurde dem Kaiser gemeldet. Tatsächlich musste man im österreichischen Reichsrat den Eindruck gewinnen, dass auch die Abgeordneten entweder resignierten oder ihrem Hass auf die Kollegenschaft anderer Kronländer freien Lauf ließen. Für die Deutschen, Tschechen und Südslawen galt nicht, sich mit den Vorgängen an der Front zu beschäftigen, sondern die Schuld den Ungarn zuzuschieben. Als im Dezember 1917 die geltenden Verträge mit Ungarn erneuert werden sollten und der Berichterstatter, der Abgeordnete Wilhelm Miklas, das Ergebnis der sogenannten Ausgleichsverhandlungen zusammenfasste, hörten ihm gerade zwei Dutzend Parlamentarier zu. Der kroatisch-slowenische Abgeordnete Ante Dulibic´ brachte es auf den Punkt: „Der Dualismus ist die Quelle aller Leiden, aller Qualen des ganzen Elends der Südslawen . . . Der Dualismus verekelt dem Volke das Leben im Staate.“
Seine Polemik wurde immer wieder von Beifall unterbrochen. Aber warum sollte man gerade die Magyaren hervorheben? Die Tschechen blockierten im Verfassungsausschuss die Verhandlungen, indem sie den Beratungen fernblieben und damit den Wünschen der tschechischen Emigration nachkamen. Frankreich hatte mittlerweile tschechische Legionäre als Verbündete anerkannt;
Christtag. Italienische Bomben auf Vittorio Veneto. Die Schäden sind nicht sehr groß, doch unzählige Fensterscheiben gehen zu Bruch.
600.000 Arbeiter streiken allein in Österreich. Und schon mischen sich deutlich Parolen der Oktoberrevolution in die Straßenkrawalle.
die Polen beschäftigte die Zukunft ihres dreigeteilten Landes weit mehr als das Schicksal der Habsburgermonarchie; und die deutschen Österreicher setzten voll auf die reichsdeutsche Karte und führten sich als Herrenvolk auf. „Es scheint ein Krieg Aller gegen Alle“, schrieb Fürst Aloys Schönburg-Hartenstein zu Weihnachten an seine Frau. Aber egal, wie man sich zu dem taumelnden Riesen Österreich-Ungarn stellte: Allen war klar, dass sich Umwälzendes tat.
Da war ja nicht nur der Sieg in Italien gewesen. Weit mehr noch fesselte die Aufmerksamkeit, was im Osten geschah. Es ging um den Frieden mit Russland. Kaiser Karl war von der Aussicht, mit den Bolschewiken verhandeln zu sollen, zwar alles andere als angetan gewesen. Doch den Verhandlungen fernzubleiben ging auch nicht, denn so viel war rasch klar geworden: Deutschland wollte die größtmögliche Kriegsbeute einfahren. Und wollte man deutsche Begehrlichkeiten eindämmen und auch selbst etwas von der Beute bekommen, musste auch Österreich mittun. Der Minister des Äußern, Graf Czernin, umriss die österreichische Verhandlungsposition recht einfach: Der Frieden sollte militärisch gesichert werden und den Bezug von Nahrungsmitteln und Rohmaterialien aus Russland ermöglichen. Polen war der russischen Einflusssphäre zu entziehen, und Russland sollte Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten Österreichs zusichern. Dann aber wurde ganz konkret auf die Haltung gegenüber Deutschland Bezug genommen: „Als oberste Maxime gilt, dass der Frieden mit Russland unter allen Umständen zustande kommen muss und dass alle Eventualitäten möglich sind, ausgenommen der Zusammenbruch der Verhandlungen durch Schuld der Mittelmächte . . . Von kardinaler Wichtigkeit ist natürlich, dass die maßlosen Begierden der Deutschen Obersten Heeresleitung den Frieden nicht gefährden . . . Selbst ein Separatfrieden zwischen uns und Russland wäre der Eventualität eines Scheiterns durch deutsche Wünsche vorzuziehen.“
Die Bereitschaft, ja letztlich Notwendigkeit, in Brest-Litowsk dabei zu sein, resultierte aber nicht nur aus der Absicht, die Deutschen nicht übermächtig werden zu lassen, sondern ganz konkret aus der immer katastrophaleren Situation in Österreich. Alles war aufgebraucht, und um die letzten Vorräte zu strecken, sollte im Jänner 1918 die Pro-Kopf-Quote an Mehl von 200 Gramm am Tag auf 165 Gramm herabgesetzt werden. In Polen, Mähren und den alpinen Gebieten der österreichischen Reichshälfte kam man ohnedies nicht einmal mehr auf diese Hungerration. Die Fleischquote wurde auf 160 Gramm pro Woche reduziert. Dazu sollte es pro Woche ein bis eineinhalb Kilogramm Kartoffeln geben, doch die waren oft nicht vorhanden. In dem zu Ungarn gehörenden Kroatien hingegen kannte man 1917 noch nicht einmal Brotkarten, da Brot nicht rationiert werden musste. Wieder ein guter Grund, um Ungarns Egoismus schärfstens zu geißeln.
Wo man hinsah, taten sich Probleme auf. Dementsprechend durchmischt waren die Jahresbilanzen. Der Reichsratsabgeordnete Josef Redlich notierte in sein Tagebuch: „Der Rückblick ist traurig: die Hoffnung für 1918 noch geringer. Die Menschheit ist durch Technik, Naturwissenschaften und Kapitalismus so seelenlos geworden, dass sie die geistigen und physischen Kräfte vielleicht gar nicht mehr besitzt, um sich aus diesem entsetzlichen Krieg herauszuarbeiten . . . Aber ich bin sicher, dass wir das Äußerste durchmachen müssen, damit es dauernd besser und vernünftiger zugehe auf dieser Erde.“
Die Parameter verschoben sich weiter. Kaiser Karl schien entschlossen, das Bündnis mit dem Deutschen Reich aufs Spiel zu setzen. Griffen einmal amerikanische Truppen in Europa in den Krieg ein, dann würden die U-Boote nicht ausreichen, um das Gleichgewicht der Kräfte aufrechtzuerhalten, meinte der Kaiser. Aber er schwankte wie ein Rohr im Winde. Er wollte Frieden und führte Krieg. Er hatte in Geheimverhandlungen mit Frankreich einen Verzichtfrieden angedeutet und träumte gleichzeitig von Gebietserweiterungen. Karl reduzierte den Gesamtstand der Armee und bereitete die Pensionierung eines Teils der Generalität vor. Doch als er von Kaiser Wilhelm II. aufgefordert wurde, eine deutsche Offensive in Frankreich zu unterstützen, sagte er am 26. Dezember 1917 zu. Karl zweifelte offenbar nicht, dass es den Deutschen gelingen würde, Frankreich niederzuwerfen. Und sollten die Deutschen Paris einnehmen, würden ihre Forderungen ins Unermessliche steigen. Um nicht auch in diesem Fall „außen vor“zu bleiben, musste man mittun.
So einfach war das. Paris würde jedenfalls früher fallen, als der Kriegseintritt der USA die Situation der Mittelmächte nennenswert beeinflussen konnte, meinte der Kaiser und unterband zu Jahresende 1917 die Gesprächskontakte zu den USA. In Washington war mit Aufmerksamkeit verfolgt worden, dass Österreich-Ungarn trotz seiner augenfälligen Abhängigkeit von Deutschland auch noch im Spätherbst 1917 moderate Kriegsziele verfolgte. Als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson zu Jahresende 1917 daranging, die eigenen Ziele zu formulieren, ließ er sich in einigen Punkten von dem leiten, was ihm als offiziöse österreichische Haltung genannt worden war. Wilson erfuhr von einer Art Friedensvorschlag, den ein Herr Julius Meinl, ein „Kommerzialrat“, wie es in einem amerikanischen Bericht aus Bern hieß, unterbreitet hatte. Meinls Problem war nur, dass er zu diesen Gesprächen von niemandem autorisiert worden war.
Doch der Kommerzialrat war wie elektrisiert, berichtete zu Silvester Minister Czernin, und glaubte wohl, den Schlüssel zum Frieden in Händen zu halten. Tags darauf traf es ihn wie eine kalte Dusche. Czernin ließ ihm ein kurzes Schreiben zukommen, in dem es hieß: „Euer Hochwohlgeboren! Ihre mündlichen Darlegungen haben mich, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, in hohem Maße interessiert. Ich komme aber bei näherem Überdenken Ihrer Mitteilungen zu dem Schlusse, dass es sich aus taktisch politischen Erwägungen nicht empfiehlt, im gegebenen Momente und wohl auch für die nächste Zukunft die von Ihnen aufgenommenen Fäden fortzuspinnen. Ich beehre mich daher, das Ersuchen an Sie zu stellen, sich bis auf Weiteres nicht in das Ausland zu begeben . . . Empfangen Euer Hochwohlgeboren den Ausdruck meiner . . .“
Im Gegensatz zu Graf Czernin war der amerikanische Präsident von den Vorschlägen Meinls sehr angetan. Wilson teilte am 1. Jänner 1918 den Inhalt der Meinl’schen Vorschläge dem amerikanischen Außenminister Lansing mit und sagte, dass sie so gut wie vollständig seiner eigenen Auffassung entsprächen. Lansing meinte zwar, dass die Absicht des Präsidenten, die Zerschlagung Österreich-Ungarns nicht als regelrechtes Kriegsziel zu verfolgen, letztlich nur Deutschland nützen könnte. Doch Wilson beließ es bei seinen Überlegungen und verlas am 8. Jänner 1918 im Kongress als Punkt 10 seiner „14 Punkte“: „Den Völkern Österreich-Ungarns, deren Platz unter den Nationen wir geschützt und gesichert zu sehen wünschen, sollte die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung zugestanden werden.“Was der Amerikaner da in seiner großen Kongressrede unter dem Jubel der Abgeordneten verkündete, wurde in Österreich-Ungarn zwar veröffentlicht, aber mit den Kriegszielen der feindlichen Entente gleichgesetzt. Kaiser Karl verschwendete denn auch kein Wort auf Wilsons „14 Punkte“und resümierte im Jänner 1918 die Ergebnisse eines Kronrats unter seiner Leitung: Die Hoffnung auf ein vereinigtes Polen unter dem Dach der Habsburgermonarchie müsse fallen gelassen werden. Also sollte getrachtet werden, den Anschluss eines „möglichst hypothekenfreien Rumänien“ins Auge zu fassen. Konzessionen an Deutschland bei den Verhandlungen in Brest-Litowsk würde es erst geben, wenn die territorialen Fragen gelöst seien.
Da mischte sich wieder einmal eine realistische mit einer revanchistischen Sicht. Dass es in Österreich mittlerweile brodelte und das Reich zu kollabieren drohte, beschäftigte den Kronrat nicht. In den ersten Jännertagen 1918 flackerten in Teilen der Monarchie kurzfristige Streiks auf. Es war wieder der Hunger, der die Menschen auf die Straßen trieb. Doch dann mischten sich schon deutlich Parolen der Oktoberrevolution in die Proteste der Streikenden. In Brest-Litowsk, so hieß es, „haben die Grafen und Generale, gestützt auf das Schwert, den Friedenswillen unserer russischen Brüder brutal zurückgewiesen. Die Volksmassen aber wollen nicht Sieg noch Waffenruhm – sie wollen den sofortigen Frieden, den Frieden um jeden Preis . . . Die russischen Arbeiter und Soldaten haben nicht nur für die eigene Freiheit gestritten! Sie haben ihr Blut vergossen für die Befreiung aller Völker der Erde von den Leiden des Krieges und vom Joch des Kapitalismus . . . Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“Damit nicht genug, meldeten sich Tschechen und Südslawen mit der Forderung nach Unabhängigkeit und dem Wunsch nach Frieden zu Wort. Die Tschechen taten es mit der sogenannten Dreikönigsdeklaration, in der sie ihre Teilnahme an den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk forderten; Slowenen, Bosnier, Serben und Kroaten warben um die Unterstützung einer im Mai 1917 formulierten Deklaration, die mittlerweile massenhaft Befürworter fand und auf ein südslawisches Königreich abzielte.
Wegen ihres staatsgefährdenden Charakters sollte die Dreikönigsdeklaration zunächst nicht veröffentlicht werden. Dann aber wurde sie doch publiziert und hatte durchaus die Qualität, ein innerhalb weniger Tage ausgebrochenes Chaos zu vergrößern. Hunger, die von Bolschewisten wie Amerikanern erhobene Forderung nach Selbstbestimmung, Unabhängigkeitsbestrebungen und Überforderung vermengten sich und ergaben eine explosive Mischung.
Am Morgen des 14. Jänner 1918 versammelten sich Arbeiter der Daimler-Werke in Wiener Neustadt, um gegen die Kürzung der Mehlquote zu protestieren. Es war die schon erwähnte Herabsetzung von 200 Gramm auf 165 Gramm Mehl pro Tag für den Durchschnittsverbraucher. Am nächsten Tag griffen die Streiks auf andere Industriebetriebe im Steinfeld und im Alpenvorland sowie in der Steiermark über. Dann wurden Unruhen aus Triest gemeldet. Die Streiks erfassten Wien, und die Forderungen wurden immer radikaler. Der Führung der österreichischen Sozialdemokratie gelang es, der Radikalität noch einmal die Spitze zu nehmen. Dennoch drohte die Ausweitung des Streiks auf Mähren, Schlesien und Böhmen. Und immer noch glaubte man, der Hunger sei das zentrale Problem. Erst nach Tagen wurde die Richtung deutlicher. Die Forderungen nach besserer Verpflegung traten deutlich zurück und wichen den ursächlicheren Forderungen nach Beendigung des Kriegs, aber auch nach Revolutionierung und nach Durchsetzung der Arbeitergewalt.
Die Militärkommanden wollten durchgreifen. Doch in dem Augenblick, als sich die lokalen Streiks zu einem Massenausstand entwickelten, war Gewalt kein Steuerungsmittel mehr. Allein in Österreich legten rund 600.000 Personen ihre Arbeit nieder. Es gab Demonstrationen, Straßenkrawalle. In Budapest wurden Straßenbahnschienen herausgerissen. Das dortige deutsche Generalkonsulat meldete: „Bewegung beginnt revolutionären Charakter anzunehmen.“
Wie meist in vergleichbaren Situationen erscholl der Ruf nach dem bedeutendsten Machtmittel eines jeden Staats, nach dem Militär. Eine Militärregierung wurde vorbereitet. Generaloberst Fürst SchönburgHartenstein sollte ihr Chef sein. Er wurde Generalinspektor der mobilen Truppen des Hinterlands. Weitere Generäle bereiteten sich auf einen Einsatz im Inneren vor. Sie wollten gleich einmal einen Fehler der Regierung korrigieren und – wie Fürst Schönburg schrieb – „der verderblichen Tätigkeit eines Oberleutnant Julius Deutsch und eines gleichgesinnten Otto Bauer im Kriegsministerium ein Ende bereiten“. Doch die Beilegung der Jännerstreiks und der Abscheu Kaiser Karls vor jeglicher Militärdiktatur brachten das Projekt zu Fall. Das Generalinspektorat wurde aufgelöst, die Generalprobe zur österreichischen Revolution abgesagt. Der Krieg ging weiter. Im Reichsrat wurde gestritten. Und an der Front wurden die Gefallenen wie schon bis dahin beerdigt. Noch deckte sie „Erde aus Österreich“(Csokor).
Siege der Armee. Aber die Bevölkerung sieht im Anwachsen der Gefangenenzahlen lediglich eine Erhöhung der „Zahl der Fresser“.