Wie ein Chip unter der Haut die Welt verändert
Digitalisierung. Mitarbeiter des belgischen Unternehmens New Fusion haben sich einen RFID-Chip implantieren lassen und damit eine Debatte ausgelöst. Sie sehen sich als Pioniere einer neuen Welt. Zu Besuch in Walem.
Brüssel. Wenn man aus der europäischen Hauptstadt hinausfährt, vorbei am Industriegebiet, wo Bauarbeiter vor Containern rauchen und Hunderte Autoskelette geschachtelt sind, gelangt man nach einer halben Stunde nach Mechelen. Kelloggs produziert hier seine Pringles, eine der ältesten Brauereien des Landes hat hier ihren Sitz. Und zuletzt las man von der 90.000-Einwohnerstadt, weil Bürgermeister Bart Somers in seinen 15 Jahren Amtszeit die verwahrloste, kriminelle Stadt wieder aufrichtete und dafür Anfang des Jahres mit dem World Mayor Prize ausgezeichnet wurde.
Vor knapp einem Jahr, Anfang Dezember 2016, war der Andrang der nationalen und internationalen Medien in Mechelen, genauer gesagt in einem Garagenbüro des Vororts Walem, aus einem ganz anderen Grund groß. Journalisten aus Neuseeland, Kanada und Usbekistan waren gekommen. Vincent Nys spricht von 30 Kamerainterviews, die er gegeben habe, und von 120 Millionen Menschen, die seine Aktion erreicht hätte. So viele Leute haben mitbekommen, dass sich der 27-jährige Unternehmer und sieben seiner Angestellten damals einen RFID-Chip zwischen Daumen und Zeigefinger implantieren ließen.
Die Start-up-Typen tun diese Sache als lustige, verrückte Idee ab. Wie bei Google will Nys in seiner Firma New Fusion Teamgeist und Kreativität ankurbeln, indem jedes Monat ein Mitarbeiter eine Idee vorstellt und diese bis Monatsende umsetzt. Damals schlug jemand vor, das Problem der verlorenen Büroschlüssel zu lösen: „Wir implantieren uns einfach so einen Chip!“
Diese Kupferkapsel, klein wie ein Reiskorn, fand sich auf der wenig vertrauenswürdig klingenden Website dangerousthings.com. Unter dem Claim „Benutzerdefinierte Gadgets für den anspruchsvollen Biohacker“verkauft Amal Graafstra Biohacking-Produkte wie Skalpelle, Bandagen, Schmerztherapiematerialien – was man eben so für die futuristische Körperdeformierung benötigt.
Transponder, die mit elektromagnetischen Wellen funktionieren, gibt es vielerorts. Üblicherweise chippt man damit Haustiere, verwendet sie in der Bankomat- karte oder beim Skilift. 800 Kilobyte Speicherplatz passen auf den Chip – für die Visitenkarte oder die Kryptowährung Bitcoin, Passwörter, Todo-Listen und den Zugang zum Drucker. Ein New-Fusion-Mitarbeiter hat nun tatsächlich seine Bitcoin wortwörtlich in der Hand. „In unserer idealen Welt haben alle Menschen eine Identifikationsnummer“, sagt der Chef, „um alles zu entsperren.“
Ticket oder Schlüsselkarte
Das Unternehmen sieht sich als Vorreiter für den Schritt in die neue vernetzte Welt. Tickets für die öffentlichen Verkehrsmittel könnte man sich sparen, wenn man sagt: Speichere deine Tickets am Handy, im Tablet oder im Finger! Die schwedische Bahn experimentiert schon damit. Selbiges gilt für Schlüsselkarten im Hotelzimmer. Außerdem könne man Waffen auf diese Art sperren und somit kindersicher machen oder medizinische Informationen wie die Blutgruppe direkt am Körper speichern.
„In den Niederlanden entsperren manche ihre Scooter damit“, erzählt Nys. Von dort flog er einen Tätowierer ein, der ihnen die Chips unter die Haut spritzte. Der belgische Hausarzt wollte diese Aufgabe nicht übernehmen. Er war sich nicht sicher, ob er das darf. Schließlich fand die Angelegenheit sogar ihren Weg ins belgische Parlament. „Niemand hatte darüber nachgedacht, und man wusste nicht, wie man handeln sollte“, sagt Vincent Nys. Amal Graafstra darf in den USA verkaufen. Er hat seine Erlaubnis von der US-amerikanischen Lebensmittelüberwachungs- und Arzneimittelbehörde (FDA). Dort meinte man: „Wir haben schon Tests gemacht für Feuerwehrmänner und die Armee.“
Nys nimmt sich selbst als coolen Typen wahr, der innovativ sein will und etwas Digitales probieren möchte. In der Außenwahrnehmung wurde er oft zum Arbeitgeber, der seine Mitarbeiter zu dieser Maßnahme zwingt. „Wenn du nicht technisch interessiert bist, dann entscheidest du dich nicht in zwei Sekunden dafür“, sagt er. „Für uns war das Spaß, Teamspirit, Zusammenhalt. Dann kamen die anstrengenden Fragen: Ist das legal? Habt ihr eine Genehmigung? Tun das wirklich alle freiwillig?
„Ich dachte, alle würden stolz sein, aber die Reaktionen waren eher ängstlich und angewidert“, berichtet er. Mehr als 200 wütende E-Mails habe er bekommen, aber auch anerkennende von Firmen, die die Zusammenarbeit suchten, und von Freaks, die meinten: „Cool, ich will auch ein Roboter sein!“Vincent Nys findet: „Sie alle gehen wählen und bestimmen unsere Zukunft. Sie sollten wissen, wovon sie reden.“Ihm gehen die Vergleiche mit George Orwells Roman „1984“auf die Nerven. Er kritisiert die Verhältnismäßigkeit: „Unsere Privatsphäre haben wir alle längst an Google und Facebook abgegeben.“Im Gegenzug dazu bekamen wir ihre freien Dienste – den E-Mail-Account oder das soziale Netzwerk. „Natürlich sollten wir über all das nachdenken, aber auf einem ganz anderen Level“, meint Nys. Schließlich hätten wir uns freiwillig für diese Dienste entschieden.
Daten in der eigenen Cloud?
Er setzt große Hoffnungen auf die Datenschutz-Grundverordnung und wünscht sich „ein zentrales System, wo all unsere Daten gesammelt sind“. Momentan wüssten wir nicht, wo unsere Daten sind – manches bei Facebook, anderes bei Google, und viele Websites hätten unsere Passwörter. „Es wäre schön, wenn all meine personalisierten Daten in meiner eigenen Cloud wären, nicht bei anderen“, meint der Unternehmer.
Der 27-jährige Vincent Nys beschreibt sich als Young Entrepreneur, Innovation Geek und Pionier der smarten Welt. Blutleer, ausdruckslos, symmetrisch, wie eine computeranimierte Figur wirkt er auf seinem Foto, bewusst in Roboterästhetik. „Wenn mein kleiner Neffe zu mir kommt, ist das Erste, was er tut, am Fernseher herumdrücken und -wischen. Zeigst du ihm ein Fotoalbum, will er in die Bilder hineinzoomen“, erzählt Nys.
Vision einer Stadt der Zukunft
Ihn wundert, dass die neuen Technologien – Nahfeldkommunikation über RFID-Chips und Drohnen zum Beispiel – so viel möglich machen, aber nur oberflächlich genutzt werden. „Große Konzerne buttern da massenhaft Geld für einen Berater hinein, nur damit dieser sagt: , Ihr müsst die Digitalisierungstransformation mitmachen. Wenn ihr nicht auf den Zug aufspringt, seid ihr in wenigen Jahren weg vom Fenster.‘“
Der größte belgische Telekommunikationskonzern, Proximus, plant einen Campus für Millennials. Leben, arbeiten und entspannen in einem Areal. In dieser Vision werden die Bewohner mit Gesichts- und Nummernschilderkennung registriert. Eine App vereint alle anderen Apps. Sie kontrolliert Zuhause, Kalender, Büro und E-Mail-Posteingang. Interaktive LEDs leuchten den Weg, wenn sich jemand nähert. Eine persönliche Artificial-Intelligence-Assistenz sagt einem vor dem Meeting, was sie über den Verhandlungspartner im Internet gefunden hat: „Du triffst jetzt John. Er ist ein Fan vom FC Barcelona, Smalltalk über Fußball ist angesagt!“
Ein System soll in dieser Stadt der Zukunft vermelden, wenn ein Mülleimer voll ist. Öffentliche Grillplätze kann man online bestellen, mit dem Handy aufsperren und Ratings abgeben, wie sauber der Platz war. Viele dieser Informationen könnten in einem kleinen Chip gespeichert werden.
So wie ihn Vincent Nys in seiner Hand implantiert hat.