Die Zukunft des Reiches blieb lange offen
Kakaniens Ende 1918. Der Historiker Hannes Leidinger liefert eine differenzierte Darstellung des Untergangs der Habsburgermonarchie. Ein Blick in die Tiefe mit Relevanz für die Gegenwart.
Europa war um 1900 zutiefst monarchistisch gesinnt. Den Kaiserhäusern wurde mit größter Hochachtung begegnet, obwohl man an den Höfen in Petersburg, Wien und Berlin nicht einmal intellektuelles Mittelmaß erreichte. Insgesamt gab es wenig Hinweise, dass die Monarchien lebensunfähig waren und die Bürger ihre Abschaffung wünschten. Im Gegenteil: Noch um 1914 waren das durchaus lebensfähige Staatsgebilde, die sich in einem ähnlichen Modernisierungsprozess befanden wie das übrige Europa, die Kaiser verrichteten innerhalb gesetzlicher und verfassungsmäßiger Rahmenbedingungen ihre Arbeit.
Was ging da schief? Warum verschwanden die Dynastien 1917/1918 von der Bildfläche? Warum entwickelten sich die konstitutionellen Monarchien nicht weiter? Zu reifen Demokratien? Alles hätte besser kommen können, wenn sie sich nicht aus Prestige- und Großmachtsgründen in den Krieg von 1914 gestürzt hätten. Vor allem angelsächsische Historiker, die über ÖsterreichUngarn forschten, behaupteten das.
Es waren Jahre, Monate und zuletzt Wochen, die zum Untergang der Habsburgermonarchie führten, man spricht von Niedergang und Fall, was aber noch lange nicht heißt, dass dies ein stetiger und gleichmäßiger Vorgang war. Der Grund für manche undifferenzierte Darstellung liegt auf der Hand: Die Literatur über das fragile Reich, über ihr Herrschafts- und Gesellschaftssystem, über die Abfolge von Krisen und Zerreißproben, dieser ganze Berg an Material, ist so unüberschaubar groß, dass man mit jedem, der zur Simplifizierung neigt, Nachsicht hat. Die „große historische Erzählung“, die ja auch für den Leser leicht konsumierbar sein soll, gerät jedoch in Gefahr, die Komplexität der Verhältnisse zu missachten.
Der österreichische Historiker Hannes Leidinger, der mit jedem seiner Bücher für kritische Gedächtniskultur und entmythisierende Historiografie steht und neue Sichtweisen präsentiert, will dieser Gefahr entgehen. Er nennt seinen Blick auf das Geschehen gleich zu Beginn in einer programmatischen Einleitung demonstrativ: „Der Blick von der Oberfläche in die Tiefe.“Und er rät dem Leser, der keine „Schonkost“mag, die ersten Kapitel zu überschlagen. Ernst gemeint ist das wohl nicht. Wer will nicht mitverfolgen, wenn ein Kenner der habsburgischen Geschichte eintaucht in die Mehrdimensionalitäten und Verzahnungen historischer Phänomene? Wenn er die divergierenden Perspektiven einzelner Akteure und sozialer Gruppen ausbreitet? Das Faszinierende an diesem Thema ist ja, dass die Zukunft des Reiches lange offenblieb, unentschieden, bis kurz vor dem Ende.
Die Frage wurde oft gestellt: Waren die Zukunftsaussichten von Franz Josephs Reich schon von Anfang an, ab 1848, begrenzt? Viel ist von Reaktion und Stillstand die Rede, doch das Urteil, dass die Doppelmonarchie von 1867 auf ein absehbares und unvermeidliches Ende zuging, geht zu weit. Das System hielt dem Kräftemessen in Europa durchaus stand, die Soldaten schlugen sich ab 1914 für ihren Kaiser mit großem Einsatz. Der Erste Weltkrieg erleichterte die Lage nicht, aber trotz sozialer Spannungen, ethni- scher Konflikte und wirtschaftlicher Krisen blieb der Zerfall zunächst aus. Eine Logik des Zusammenbruchs wurde vielfach erst nach dem Kollaps 1918 konstruiert, nach dem Motto: Wir haben es ja eh schon immer gewusst.
„Wohltemperierte Unzufriedenheit“
Auch Leidingers Buch fördert viel Positives zu Tage: Die wissenschaftliche Innovationskraft, kulturelle Vielfalt, zarte Ansätze eines Sozialstaats, positive Wirtschaftsdaten, das Stabilitätsgefühl einer funktionierenden Ordnung, die berühmte „wohltemperierte Unzufriedenheit“. Dem steht eine lange Liste von Defiziten gegenüber: Religiöse Intoleranz, Standesdünkel, antiquiertes hierarchisches Denken, scharfe Klassengegensätze und verhängnisvolle Kriegsbereitschaft.
Leidinger stellt nicht nur die Frage: War das Ende im Jahr 1918 unausweichlich oder verspätet, er stellt auch die Frage: War es vielleicht vorzeitig? Existierte die Donaumonarchie in gewisser Weise nicht ohnehin weiter? Nicht nur kulturell und mental, wie oft beschrieben, bei Joseph Roth oder Franz Werfel, sondern mit tiefergehenden Verflechtungen, Handelsnetzen, Wirtschaftskontakten, Rechts- und Elitenkontinuitäten, als eine Art „Commonwealth“des Donauraums. Ohne Nostalgie betreiben zu wollen, stellt er die Frage: Bildeten der Donauraum, „Österreich“und das „Haus Habsburg“eine untrennbare Einheit?
Innerhalb weniger Wochen empfanden sich die neuen Kleinstaaten Mitteleuropas nach dem ersten Freudentaumel vor einer vertrackten Situation, sie waren von Jahrhunderten mitteleuropäischer Geschichte abgekoppelt, fühlten sich vielfach ihrer Identität beraubt. „Das habsburgische Erbe ließ sich nicht ohne weiteres abschütteln. Ständige Streitigkeiten um nationale Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen wurden zu einem Signum des 20. Jahrhunderts, gerade im ehemaligen Herrschaftsgebiet der Habsburger.“(Leidinger mit Bezug auf den jugoslawischen Bürgerkrieg in den 1990er-Jahren).
Analysen wie diese, die über das rein Kakanische hinausgehen, verschaffen einen großen Erkenntnisgewinn für die Gegenwart. Die österreichische Geschichtserfahrung gewinnt so europäische Relevanz.