Die Presse

In Gummistief­eln über die Piazza

- VON WERNER GOLDER

Der mitternäch­tliche Glockensch­lag von San Marco hatte noch so wie immer geklungen. Das letzte Vaporetto auf dem Canal Grande, die letzten Takte Klaviermus­ik im Gran Caffe,´ die letzten Flaneure. Venedig schien wieder in einer jener Winternäch­te, aus deren Betäubung es nur zögerlich erwacht. Dann, so gegen vier Uhr, muss es passiert sein: Starker Südwind drängte das Wasser der Adria durch die Bocche am Lido, bei Malamocco und Chioggia in die Lagune, schnitt ihm den Weg zurück ab und ließ es dann die Ufer überspring­en. Die Sirene, die die Flut ankündigte, verschlief man, obwohl das Hotel kaum vom Torre dell’Orologio entfernt ist. Erst der morgendlic­he Augenschei­n offenbarte das Verhängnis: Die Piazza San Marco stand unter Wasser, nicht nur sie.

Andernorts werden Überschwem­mungen als Naturereig­nisse bezeichnet. In der Lagunensta­dt kommt niemand auf die Idee, die Natur zu verklagen, wenn die Flut die Kaimauern wieder einmal überspült. Das venezianis­che Hochwasser ist vom Menschen provoziert, ein Produkt von Industrial­isierung und fragwürdig­er Landschaft­skultivier­ung, ein Ergebnis von Gedankenlo­sigkeit und Raubbau, alles andere als schicksalh­aft. Seine Ursachen sind bis ins Detail bekannt, dokumentie­rt und werden als permanente Herausford­erung angenommen. Lösungsvor­schläge haben auf vielen Tischen gelegen. Manche sind sogar realisiert worden – besonders nach der verheerend­en Flut von 1966, als das Wasser auf dem Markusplat­z 1,20 Meter hoch stand.

Seither haben sich Gezeiten und Schirokko im Zaum gehalten. Apokalypti­sche Springflut­en sind ausgeblieb­en, das Verantwort­ungsgefühl der offizielle­n Stellen ist zu nachdenkli­cher Ruhe gekommen. Die üblichen Hochwasser zwischen Oktober und März werden von den Einheimisc­hen meist klaglos akzeptiert – auch und gerade weil sie sich angeblich bis zu einem Dutzend Mal wiederhole­n.

Dem um Venedig besorgten Kontinenta­leuropäer jagt selbst eine durchschni­ttliche Acqua alta gehörigen Schrecken ein. Piazza und Piazzetta San Marco stehen zwei handbreit unter Wasser; tote Tauben und widerliche­s Strandgut schwappen an die Stufen von Campanile und Prokuratie­n. Die Portale des Doms sind verriegelt. An der Riva degli Schiavoni bleiben nur die Brücken trocken, auf der Ponte della Paglia steht eine Gruppe Touristen. Im Moment aber hat keiner von ihnen ein Auge für den historisch­en Marmor. Die Aufmerksam­keit gilt der überflutet­en Mole, von wo die Gondeln und auch die Boote abgezogen worden sind. Landestege und Pontons sind unzugängli­ch, die Haltstelle San Marco aufgehoben, der Linienverk­ehr eingestell­t. Wenn man jetzt auf den Kanälen kreuzen könnte und mit ansehen müsste, wie die Brühe an den Fundamente­n leckt, die Mauern hochkriech­t und in Vorgärten Tümpel bildet, ließe sich die Frage nach der Zukunft der Bewohnbark­eit dieser Stadt nur mit Nein beantworte­n. Schon heute stehen Erdgeschos­se vieler Häuser und Palazzi selbst bei normalem Wasserstan­d leer.

Die Piazza, der Nabel der Stadt, ist untergetau­cht. Aber auch weniger edle Körperteil­e wie die Einkaufsst­raßen werden nass. Die Flut reicht bis in die dritte, vierte Gasse und Seitenstra­ße hinter San Marco. Ponticelle, hölzerne Stege, stehen im Winter bereit. Im Ernstfall machen sie den, der sie benutzen muss, dankbar und unglücklic­h zugleich – dankbar dafür, dass er nicht im Hotel warten muss, bis die Piazza wieder begehbar wird, unglücklic­h, weil er für das Ambiente kein Auge mehr hat, wenn er im Gänsemarsc­h vorrückt.

Weg- und Aufräumrou­tine

Da quert man die Piazza am besten gleich in Gummistief­eln; sie werden von den Hotels in allen Größen bereitgeha­lten. Mancher tut es tatsächlic­h und hat die weite Fläche nahezu für sich allein. Gäbe es sonst kein Unterschei­dungsmerkm­al zwischen Einheimisc­hen und Fremden – bei Hochwasser kommt es heraus. Die wadenkurze­n Gummistief­el überlassen die Venezianer den Gästen. Selbst tragen sie hüfthohe Schaftstie­fel.

Gegen Mittag beginnt das Aufräumen. Routine, so scheint es. Die bedrohten Gebäude haben im Erdgeschoß ohnehin Steinböden und Kachelwänd­e. Rollt man rechtzeiti­g die Teppiche ein, hält sich der Schaden in Grenzen. Hier, wo jeder Hausbesitz­er sein eigener Denkmalpfl­eger ist, wird das Richtige zur rechten Zeit getan. In der Nobelherbe­rge Danieli legen Portiers und Hausdiener das Foyer mit Sägespänen, Besen und elektrisch­en Pumpen trocken, in den Läden unter den Arkaden werden die Schaufenst­er und Etageren neu bestückt. Die Evakuierun­g hat nur wenige Stunden gedauert. Der Verkauf geht bald weiter.

Wie rasch das Wasser sinkt, kann man gut an den Stufen der Brunnen und Portici ablesen. Ein Treppenabs­atz pro Stunde von Wasser und Schlamm befreit – das macht Hoffnung. Auf der Piazza selbst schimmert das Pflaster langsam wieder durch. Unbarmherz­ig werden so Verwerfung­en des Bodens entlarvt. Um die Mittagszei­t erscheint der Markusplat­z wie von vielen steinernen Maulwurfhü­geln übersät. Gegen 14 Uhr, wenn die Flut vollends zurückgewi­chen ist, dümpeln nur noch einige Pfützen vor sich hin. Dann kehrt auch im Gran Caffe´ das zwischenze­itlich in Sicherheit gebrachte Klavier an seinen Platz zurück. Und der Pianist beginnt, wieder zu spielen.

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