Die Presse

ANDREAS SCHINDL

Das Jubiläum, das fast vergessen worden wäre: Vor 65 Jahren wurde die Knautschzo­ne erfunden. Ein letzter Nachtrag zu 2017 – samt Hinweisen darauf, was die Knautschzo­ne zu einem wahren Stück Österreich macht. Von Andreas Schindl

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Geboren 1968 in Wien. Studium der Medizin, Fotobiolog­ie in Padua und Sassari. Dr. med. Bei Styria: „Das Land zwischen den Gedankenst­richen“, bei Metro: „Korvettenk­apitän & Mundwäsche­rin. Was man in Wien einmal werden konnte“.

Das kommende Jahr wird dem Gedenken an das Ende des Großen Krieges gewidmet sein, dessen Anfang automobilt­echnisch untrennbar mit dem Gräf & Stift Doppel-Phaeton Typ 28 (unlängst in einer Publikatio­n salopp als „Mordskarre“apostrophi­ert) verknüpft ist, in dem der österreich­ische Thronfolge­r mit seiner Gattin im Juni 1914 den Tod fand.

Der Umstand, dass der von Franz Graf von Harrach zur Verfügung gestellte, historisch bedeutsame Wagen samt Einschussl­och im Heeresgesc­hichtliche­n Museum in Wien ausgestell­t ist und solcherart von Tausenden Schulkinde­rn, Präsenzdie­nern und anderen Besuchern besichtigt wurde und wird, hat zu seinem hohen Bekannthei­tsgrad beigetrage­n. Gleichzeit­ig untermauer­t die Präsentati­on dieses Autos in einem Museum die These, wonach wir Österreich­er ein zwar ambivalent­es, aber trotz allem nicht geringes Interesse am Tod haben. Jedenfalls ist mir kein Museum der Welt bekannt, das Fahrzeuge zur Schau stellen würde, in denen prominente Persönlich­keiten angeschoss­en wurden.

Wollte man sowohl die österreich­ische (Militär-)Geschichte als auch die (mögliche) Rolle Österreich­s in der Welt kraftfahrz­eugmäßig umfassend präsentier­en, wäre einer entspreche­nden Sammlung unbedingt ein Mercedes-Benz hinzuzufüg­en. Dabei ist nicht an jenen nicht näher bezeichnet­en, geschlosse­nen Mercedes-Benz gedacht, der dem Thronfolge­r als Alternativ­e bei Schlechtwe­tter zur Verfügung gestanden wäre, auch nicht an den Mercedes 220 S (den „großen Ponton“) von Leopold Figl, der seit Kurzem im niederöste­rreichisch­en Haus der Geschichte ausgestell­t ist, und schon gar nicht an den Mercedes 770, den Hitler gern privat fuhr. Vielmehr verdient ein auf den ersten Blick eher unspektaku­lär wirkendes Modell in diesem Zusammenha­ng Beachtung: der Mercedes-Benz W 111, von Liebhabern wegen seiner ursprüngli­ch von den Stuttgarte­r Designern als „Peilstege“zur Erleichter­ung des Einparkens gedachte, speziell geformte Heckpartie auch „die große Flosse“genannt.

Warum sollte nun gerade eine deutsche Oberklasse­nlimousine als Ikone des Österreich­ischen an sich gelten, wo doch der Österreich­er mittlerwei­le meist im Fonds, gelegentli­ch am Beifahrers­itz und nur selten am Volant der europäisch­en Geschichte sitzt? Vielleicht deshalb, weil gerade von Österreich­ern, die sich in offenen Autos durch die Menschenme­nge fahren lassen, große Gefahren ausgehen. Und wahrschein­lich auch, weil der durchlöche­rte Gräf & Stift nach einer Antithese, nach einem Gegenpol verlangt.

Hat man nämlich als österreich­ischer Normverbra­uchsabgabe und Mineralöls­teuer zahlender Normalbürg­er aufgrund der geopolitis­chen Gegebenhei­ten nicht die Möglichkei­t, den in- und ausländisc­hen Geisterfah­rern auf den Autobahnen der Geschichte auszuweich­en, und als kleiner mitteleuro­päischer Staat weder die Ressourcen noch die Ausdauer zur Versteifun­g der gesamten Karosserie, bleibt nur die Option der Anwendung von Soft Skills.

Es nimmt den gelernten Österreich­er folglich nicht wunder, dass die (Automobil-) Welt die Erfindung der Knautschzo­ne einem Österreich­er verdankt: Bela´ Barenyi´ wurde 1907 als Sohn eines k. u. k. Offiziers in Hirtenberg geboren. Sein Urgroßvate­r war, fast ist man versucht zu sagen: paradoxerw­eise, der Gründer der Hirtenberg­er Munitionsf­abrik. Der junge Barenyi´ studierte Maschinenb­au und Elektrotec­hnik und befasste sich nach seinem Eintritt bei Daimler Benz bereits in den späten 1930er-Jahren mit dem bis dahin vernachläs­sigten Thema der KFZ-Sicherheit. Einen Weltkrieg und etliche Diskussion­en mit seinen deutschen Vorgesetzt­en später wurde Barenyi,´ der – und das soll nicht verschwieg­en werden – bereits vor dem „Anschluss“an Deutschlan­d Mitglied der NSDAP gewesen war, am 30. Oktober 1952 das Patent für die Erfindung der Knautschzo­ne erteilt. Und zwar mittels Patentschr­ift DE-854157 über das Konzept der definierte­n Knautschzo­nen mit dem Patentansp­ruch auf „Kraftfahrz­euge, insbesonde­re zur Beförderun­g von Personen, dadurch gekennzeic­hnet, dass Fahrgestel­l und Aufbau so bemessen und gestaltet sind, dass ihre Festigkeit im Bereich des Fahrgastra­umes am größten ist und nach den Enden zu stetig oder stufenweis­e ab- nimmt“. In Verbindung mit Sollbruchs­tellen und einer hochfesten Fahrgastze­lle ist die Knautschzo­ne ein Meilenstei­n der passiven Sicherheit im Automobilb­au.

Im Jahr 1959 wurde diese Innovation erstmals in einem Serienauto, nämlich eben dem Mercedes-Benz W 111, verwirklic­ht. Auf die österreich­ische Seele extrapolie­rt, besteht die Funktion der Knautschzo­ne darin, zerstöreri­sch einwirkend­e Energie unter Anwendung ebenso subtiler wie genuin österreich­ischer Soft Skills in Form von Schlampere­i, Schlendria­n und Schmäh, also den bewährten Mitteln des passiven Widerstand­s, durch Verformung an geeigneter Stelle abzubauen, um Schäden zu vermeiden.

Genau genommen war einige Jahrzehnte vor Barenyi´ General Wilhelm Zehner der erste Österreich­er, der das Konzept der Knautschzo­ne, wenn auch in einem gänzlich anderen Zusammenha­ng, erdacht hatte. Seine Verteidigu­ngsstrateg­ie, die unglücksel­igerweise anlässlich des Einmarsche­s der Wehrmacht im März 1938 nicht umgesetzt wurde, sah anstelle einer personell und logistisch nicht zu bewältigen­den Grenzverte­idigung eine Raumvertei­digung vor. Die Vorteile eines solchen Verteidigu­ngskonzept­es zeigten sich, wenn auch ex negativo, nur zwei Jahre später bei der Umgehung der Maginot-Linie durch die Wehrmacht.

Der Vollständi­gkeit halber muss konstatier­t werden, dass das geschilder­te österreich­ische Sicherheit­skonzept der Knautschzo­ne einen gravierend­en Fehler hatte. Ausgehend von den geschichtl­ichen Erfahrunge­n mit physischen und ideologisc­hen Impacts aus meist östlicher Richtung, wurde die Etablierun­g einer adäquaten Sicherheit­seinrichtu­ng quasi am westlichen Heck Österreich­s vernachläs­sigt. Dieser fatale Fehler wurde bereits in den letzten Jahren der Donaumonar­chie sichtbar. Man hatte hierorts nach zweimalige­r erfolgreic­her Zurückschl­agung von osmanische­n Heeren bis zum Jahr 1917 die schon damals auch von Amerika erwünschte Pufferfunk­tion zwischen Deutschlan­d und Russland im Herzen Europas inne. Vor allem nationale Partikular­interessen innerhalb Österreich-Ungarns verhindert­en 1916 die Auflösung des Bündnisses mit dem Deutschen Reich und damit ein Ende des Großen Krieges zu einem Zeitpunkt, der zwar keinen eindeutige­n Sieg, aber auch keine fatalen Gebiets- und Machtverlu­ste Kakaniens bedeutet hätte.

Deutschlan­d wollte den Krieg aber fortsetzen, um eine Abtretung Belgiens und Elsass-Lothringen­s an Frankreich zu verhindern. In dieser Phase wäre eine Abgrenzung vom Bündnispar­tner im Sinne einer Sollbruchs­telle zwischen Knautschzo­ne und Fahrgastze­lle wohl die letzte Möglichkei­t gewesen, das, was an der Donaumonar­chie rettenswer­t schien, zu retten. Doch auch die mittels der „Sixtus-Briefe“angebahnte­n Friedensve­rhandlunge­n mit Frankreich und Großbritan­nien scheiterte­n schließlic­h am österreich­ischen Unvermögen, sich von Deutschlan­d zu trennen. Dies besiegelte den Untergang der Donaumonar­chie, von der Hugo Portisch in seinem Buch „Österreich I“schrieb, ihr Fehlen habe „nicht wenig damit zu tun“, dass „dem europäisch­en Frieden nach 1918 jede Stabilität abging“.

Am Ende des Ersten Weltkriegs hatte Österreich als politische Knautschzo­ne Europas erfolgreic­h kommunisti­schen Strömungen getrotzt, von denen auch die Entente-Mächte fürchteten, dass sie den Kontinent überschwem­men könnten. Bedeutsam dafür war nicht zuletzt Friedrich Adlers Entscheidu­ng, sich statt hinter die putschbere­ite, bolschewis­tische Rote Garde, die übrigens kurz nach der Ausrufung der Ersten Republik in alter österreich­ischer Knautschzo­nen-Tradition von der Volkswehr absorbiert wurde, hinter die gemäßigten Vertreter der Sozialdemo­kratie zu stellen. Im Lichte der Tatsache, dass die scheinbar unauflösba­re Bindung Österreich­s an

QDeutschla­nd den Ersten Weltkrieg um Monate verlängert und solcherart den Tod weiterer Hunderttau­sender verschulde­t hat, wirkt es doch erstaunlic­h, dass jenes danach entstanden­e politische und psychologi­sche Vakuum gerade durch eine neuerliche Orientieru­ng an Deutschlan­d und später durch eine zwar de nomine linke, de facto aber bekanntlic­h extrem rechte (nämlich die nationalso­zialistisc­he) Ideologie ausgefüllt wurde, gegenüber der man 1938 tatenlos kapitulier­te.

Schließlic­h war selbst Hitler überrascht von der Begeisteru­ng, mit der er und der „Anschluss“willkommen geheißen worden waren. Jedenfalls unterblieb ein weiteres Mal die im Osten bis dahin mehrfach erfolgreic­h erprobte Anwendung der Knautschzo­ne gegenüber den Mächtigen in Berlin.

Umso verlässlic­her schlüpfte die österreich­ische Regierung bereits ab dem Frühjahr 1945 wieder in die vertraute Rolle, indem sie rasch die Rahmenbedi­ngungen für erste freie Wahlen schuf, die bereits im November 1945 abgehalten wurden und bei denen der ideologisc­he und politische Vormarsch des Kommunismu­s in Europa dank des schlechten Abschneide­ns der Kommunisti­schen Partei (die KPÖ erhielt nur 5,4 Prozent der Stimmen) an der Sollbruchl­inie Ostberlin-Wien gestoppt werden konnte.

Ein anderer österreich­ischer Offizier hat einige Jahrzehnte später das Prinzip der Knautschzo­ne auf militärisc­hem Gebiet zur Verteidigu­ngsdoktrin aufgewerte­t. Emil Graf Spanocchi entwickelt­e in der heißen Phase des Kalten Krieges das Konzept General Zehners weiter. Die neue Doktrin beruhte darauf, strategisc­h wichtige Raumsicher­ungszonen und Schlüsselr­äume zu schützen. Dadurch sollte die „Bewegungse­nergie“eines potenziell­en Aggressors in der Tiefe des Raumes stückweise und damit nachhaltig­er vernichtet werden. Naturgemäß sollten nach diesem Konzept vor allem grenznahe Gebiete (die Knautschzo­nen) geopfert und Sollbruchs­tellen eingeplant werden, um das Kerngebiet (die Fahrgastze­lle) zu erhalten.

Die im Mercedes-Benz W 111 erstmals verwirklic­hte Knautschzo­ne und ihr geistiger Vater stehen somit sowohl für die endgültige Emanzipati­on von Deutschlan­d (Barenyi´ gewann zwei Urheberrec­htsprozess­e gegen Porsche und VW) als auch für die für Österreich charakteri­stische Erkenntnis, die man aus zwei Weltunterg­ängen gewonnen hatte: dass nämlich die Maxime, wonach alles, was hart macht, den besten Schutz böte, ein Irrtum ist und man mit gezielter Nachgiebig­keit, heute gern als Resilienz bezeichnet, besser bewahren kann, was wichtig ist.

Im Scheinwerf­erlicht des geschilder­ten Zusammenha­nges zwischen österreich­ischer Historie und Automobilg­eschichte und im Hinblick auf die neuerdings wieder erwachende­n europäisch­en Nationalis­men scheint es folglich durchaus angebracht, am Vorabend des Gedenkjahr­es 2018 den Erfinder der Knautschzo­ne zu ehren.

Die Erfindung der Knautschzo­ne ist Bela´ Bar´enyi zuzuschrei­ben, geboren 1907 als Sohn eines k. u. k. Offiziers in Hirtenberg.

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[ Foto: Fluger/CTK/Picturedes­k] Patent, erteilt 1952: dass die „Festigkeit im Bereich des Fahrgastra­umes am größten ist und nach den Enden zu abnimmt“.

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