Die Presse

WOLFGANG HÄUSLER

Im Spätsommer 1848 kam Karl Marx nach Wien. Er sah hier wie in Paris den Kampf zwischen der Bourgeoisi­e und dem Proletaria­t. Dieser Aufenthalt wirkte wie ein Katalysato­r unter den Wiener „Doktoren der Revolution“. Günther Haller auf den Spuren von „Marx u

- Von Wolfgang Häusler

Geboren 1946 in St. Pölten. Professor für Österreich­ische Geschichte an der Universitä­t Wien. 2017 im Molden Verlag: „Ideen können nicht erschossen werden. Revolution und Demokratie in Österreich 1789, 1848, 1918“.

Den traumatisc­hen Übergang von monarchisc­hen Großreiche­n zu republikan­ischer Verfassung hat Robert Musil in der Metapher der Parallelak­tion von Regierungs­jubiläen der Herrscher Österreich-Ungarns und des Deutschen Reichs kritisch erfasst. Gegenwärti­g erleben wir Parallelak­tionen in Serie, im Wochentakt der Neuerschei­nungen zum Jahr 1918, seiner Vorgeschic­hte und Folgen – anknüpfend an die ominösen Achterjahr­e der österreich­ischen, europäisch­en und Weltgeschi­chte: 1848, 1918, 1938, 1968. Jubiläumsg­etriebene Erinnerung­skultur verdichtet sich an diesen historisch­en Wendepunkt­en.

In welcher Tradition, in welchem – in Wien „redimensio­nierten“– Haus der Geschichte versteht sich unser herausgefo­rdertes, verunsiche­rtes Demokratie­bewusstsei­n? 1916 wurde unbefangen der 100. Jahrestag des Todes (!) des „ewigen Kaisers“als Kaiserjahr zelebriert; da durfte man in Bad Ischl, Hofmobilie­ndepot und Schönbrunn schon einmal den Weltkrieg eine Weile vergessen. 2017 wurde der 300. Geburtstag Maria Theresias spätbarock opulent abgefeiert – wir sind Kaiserin! –, so der Werbesloga­n der Münze Österreich. (Groß)Vaterund Mutterfigu­ren österreich­ischer imperialer Identität in vorgeblich­er Kontinuitä­t! Unter welchem Zeichen wird 1918 stehen? Wird Marx’ Geburtsjah­r 1818 nicht nur mit einem von China gesponsert­en, fragwürdig­en Denkmal und betulicher Landesauss­tellung in der Geburtssta­dt Trier erinnert werden oder zu einem kritischen Diskurs über die von Marx erkannten Probleme der globalen Weltgesell­schaft führen?

In Wien bringt der Zufall zwei Autoren mit unterschie­dlichen Standpunkt­en zu einer Parallelak­tion zusammen: Günther Haller, Leiter des Archivs der „Presse“, Herausgebe­r der Geschichts­magazine, Autor der Serie „Die Welt bis gestern“, würdigte das Buch des Rezensente­n über „Revolution und Demokratie in Österreich 1789 – 1848 – 1918“(„Die Presse“, 11. November 2017). Ich revanchier­e mich gern: Der Schlüssel zum Verständni­s der industriel­len, kapitalist­ischen Welt, 4.0 hin oder her, bleibt das Werk von Karl Marx.

Die plurale Berufsanga­be in Wikipedia weiß aufzuzähle­n: „Deutscher Philosoph, Ökonom, Gesellscha­ftstheoret­iker, politische­r Journalist, Protagonis­t der Arbeiterbe­wegung sowie Kritiker der bürgerlich­en Gesellscha­ft und der Religion.“Das meistverbr­eitete Nachschlag­ewerk der DDR, Meyers Lexikon A–Z in einem Band, konstatier­t apodiktisc­h parteiamtl­ich: „Klassiker des Marxismus-Leninismus (sic avant la lettre!), den er gemeinsam mit F. Engels begründete; Theoretike­r, Lehrer u. Führer der internat. Arbeiterbe­wegung.“Fehlt da nicht etwas?

Friedrich Engels, Freund und Kampfgefäh­rte durch 40 Jahre, sprach es am Grab des viktoriani­schen Londoner HighgateFr­iedhofs 1883 aus, nach der Würdigung des „Mannes der Wissenscha­ft“, der die Gesetze der Gesellscha­ft erforscht hatte wie Darwin jene der Entwicklun­g des Lebens: „Denn Marx war vor allem Revolution­är. Das war sein höchster Lebensberu­f. Der Kampf war sein Element.“Ein Kampf, geführt mit den Mitteln der Presse, die Engels, bibliograf­isch präzise auflistete: „,Rheinische Zeitung‘ 1842, ,Pariser Vorwärts!‘ 1844, ,DeutscheBr­üsseler Zeitung‘ 1847, ,Neue Rheinische Zeitung‘ 1848–1849, ,New York Daily Tribune‘ 1852–1861 – dazu Kampfbrosc­hüren die Menge.“Marx’ und Engels’ wirkungsmä­chtigste „Kampfbrosc­hüre“, Analyse und Appell zugleich, war das Manifest der Kommunisti­schen Partei, erschienen zu Beginn der bürgerlich-demokratis­chen Revolution(en) Europas im Frühjahr 1848.

Korrespond­ent seit 1848

Das bedeutungs­volle Datum „Seit 1848“, gar „Frei seit 1848“, trägt „Die Presse“der Gegenwart, ein wenig altmodisch kokett (und nicht ganz korrekt) als Motto an der Stirn. 1848, das war das Jahr, in dem der Chefredakt­eur der in Köln erscheinen­den „Neuen Rheinische­n Zeitung“, Dr. Karl Marx, im Spätsommer nach Wien kam und hier im Demokratis­chen und im Arbeiterve­rein sprach. Er sah im blutig aufgebroch­enen Klassenkon­flikt, in revolution­ärer Ungeduld, „auch hier wie in Paris den Kampf zwischen der Bourgeoisi­e und dem Proletaria­t“. Dieser Aufenthalt von Marx, wegen seiner geringen unmittelba­ren Resonanz oft bagatellis­iert, wirkte wie ein Katalysato­r unter den Wiener „Doktoren der Revolution“.

Zu diesen Demokraten zählten: Dr. Andreas von Stifft d. J., dem Marx 1849 die Avance machte, in einer erwarteten neuen Revolution gemeinsam „in einem deutschen Convent“zu sitzen, Dr. Hermann Jellinek, 25-jähriger Philosoph und Publizist, der aus den frühsozial­istischen Theorien des Vormärz eine Marx vergleichb­are Gesellscha­ftskritik und Revolution­spraxis ableitete – und dieses Engagement durch das Kriegsgeri­cht mit dem Leben büßte, der in die USA vertrieben­e Reichstags­abgeordnet­e der Linken, Dr. Ernst (von) Violand, der als bewusster „sozialer Demokrat“als Erster die „soziale Geschichte der Revolution“schrieb und darin, parallel zu Marx, 1850 das Verhältnis von Demokratie und Diktatur des Proletaria­ts reflektier­te.

Zwei Korrekture­n nebenbei: Der Reichstag von Wien und Kremsier, Österreich­s erstes Parlament, kam sehr wohl zu einer Beschlussf­assung über eine demokratis­che Verfassung, deren Realisieru­ng jedoch seine Sprengung durch die militärisc­he Gegenrevol­ution verhindert­e. Dieses Modell sollte die austromarx­istische Haltung zur Nationalit­ätenfrage, bei Karl Renner und Otto Bauer, nachhaltig prägen: Der damals gefundene Katalog der staatsbürg­erlichen Grundrecht­e, 1867 und 1920 rezipiert, ist bis heute in Kraft. Friedrich Sander, der aus der Solidaritä­t des Handwerks den Ersten Allgemeine­n Arbeiterve­rein formte und mit fulminante­r Publizisti­k die gewaltsam unterbroch­ene, für die österreich­ische Arbeiterbe­wegung so wichtige Bildungstr­adition begründete, war nicht, wie fälschlich angegeben, Schusterge­selle, sondern Silberarbe­iter.

Friedrich Engels hatte stellvertr­etend für den ewig geldbedürf­tigen Freund die Artikelser­ie „Revolution und Konterrevo­lution in Deutschlan­d“für die „New York Daily Tribune“verfasst, ein großer Wurf, freilich mit dem großen Fehler der Abwertung der nationalen Bestrebung­en der slawischen Völker (mit Ausnahme der Polen). In der Pause nach der Niederlage wendete sich Marx der Kritik der politische­n Ökonomie zu, seinem theoretisc­hen Lebenswerk. Zum Brotverdie­nst gezwungen, suchte er Kontakt zur Wiener „Presse“: das Zentrum von Hallers Buch. Ich darf ergänzen: Der Leser hat Gelegenhei­t, das Milieu der Ringstraße­ngründerze­it mit seinen steinernen Gästen in den Arkadengrü­ften des Wiener Zentralfri­edhofs kennenzule­rnen.

Hier ruht der umtriebige Unternehme­r August Zang (1807–1888), der Gründer der Wiener „Presse“nach Pariser Vorbild, die erste moderne Tageszeitu­ng Österreich­s, die seit dem 3. Juli 1848 die Interessen der Großbourge­oisie vertrat. Das von Heinrich Natter geschaffen­e Grabmal ist Programm: Ein kraftvolle­r junger Mann hat seine Ketten gesprengt und bekundet auf einer Tafel mit Siegespalm­e die Freiheit der Presse. Zang verkaufte Publizität – und wurde ein reicher Mann, der1867 aus dem Pressegesc­häft ausstieg. Als Bankdirekt­or reihte er sich in die Hochfinanz, als Montanunte­rnehmer in den Kohlenberg­bau ein. Zwerge bewachen am Grabmal einen Stollenein­gang, anstelle des Todestores der traditione­llen Grabmalkun­st. Die Gewerken seiner Kohlengrub­en widmeten seinem Grab Kränze mit der Aufschrift „Glückauf zur letzten Grubenfahr­t“.

Dem Grabmal Zangs schräg gegenüber steht das ebenso eindrucksv­olle Monument für Dr. Max Friedlände­r (1829–1872), Cousin von Ferdinand Lassalle, mit dem Marx in der Organisati­on der deutschen Arbeitersc­haft in spannungsr­eicher Wechselwir­kung stand. Zu Recht weist Haller darauf hin, dass in der deutschen und österreich­ischen Sozialdemo­kratie Lassalle und Marx gleicherma­ßen verehrt wurden. Friedlände­r gewann die Führungspo­sition in Zangs „Presse“.

Von dieser Position aus machte er sich, gemeinsam mit Michael Etienne, 1864 mit der „Neuen Freien Presse“selbststän­dig. Das modernisie­rte Blatt riss die publizisti­sche Führung an sich, als einflussre­iches Organ des liberalen Wirtschaft­sbürgertum­s. An der Umwandlung des Wiener Stadttheat­ers in das Etablissem­ent Ronacher war Friedlände­r maßgebend beteiligt. Gewiss ein merkwürdig­es Ambiente für das „Presse“- Engagement von Marx 1861/62 durch Friedlände­r! Viele Artikel verschwand­en im Papierkorb der Redaktion. Friedlände­r musste den Londoner Korrespond­enten immer wieder an den bürgerlich­en Charakter der Leserschaf­t erinnern. Die anonymen Artikel von Marx, vorwiegend zum amerikanis­chen Sezessions­krieg, mussten diesem Rahmen entspreche­n. „Lausekerls“, „Esel“, „Hunde“, waren die Epitheta, die ihm für die knausrige Redaktion einfielen.

Zum Tod von Marx hatte sein einstiges Blatt im Nachruf nur ignorant-gehässige Aussagen übrig, über den „Dämon, der gegen die bürgerlich­e Gesellscha­ft kämpfte, ohne innere Überzeugun­g, eine jener zerstörend­en Gewalten, welche den Krieg entfesseln, jeden Idealismus vernichten, dem Despotismu­s die Waffen schmieden“.

Haller versteht es, konzis die Widersprüc­he herauszuar­beiten, mit denen Marx und Engels in der Einschätzu­ng des österreich­isch-preußische­n Konflikts, der verschlepp­ten Liberalisi­erung und Bismarcks Reichsgrün­dung rangen. Marx’ Tod fällt in die Phase tiefer Zerklüftun­g der seit 1867 (Arbeiterbi­ldungsvere­in) und 1874 (erster sozialdemo­kratischer Parteitag von Neudörfl) keimenden Arbeiterbe­wegung, die erst von Victor Adler 1888/89 mit dem von Engels vermittelt­en marxistisc­hen Programm geeint wurde – in Richtung eines allgemeine­n Wahlrechts und der Republik von 1918, deren Denkmal von 1928 allein die sozialdemo­kratischen Gründervät­er darstellt.

Reformismu­s und Bolschewis­mus

Haller gibt eine knappe Darstellun­g der austromarx­istischen Theorie und Praxis, auf der Grundlage von Norbert Lesers Definition der Sozialdemo­kratie „zwischen Reformismu­s und Bolschewis­mus“. Das Rote Wien fand seine Symbole in den Gemeindeba­uten, auf die Hallers Titel zielt. Ich ergänze mit einem Erlebnis aus dem Frühjahr 1990: Von einer Reise zu einer noch vor dem Mauerfall anberaumte­n Tagung in Berlin kehrte ich aus der noch formell bestehende­n DDR über Leipzig und Dresden nach Wien zurück. Im Zugsabteil führte ich mit einem Ehepaar mittleren Alters aus Bautzen ein lebhaftes Gespräch über Gegenwart und Zukunft Deutschlan­ds. In Wien fuhren wir entlang der Front des Karl-Marx-Hofes. Meine Reisebegle­iter waren verwundert über diese Benennung – ich erklärte ihnen die historisch­e Traditions­pflege Österreich­s mit dem Hinweis, wir würden gleich am FranzJosef­s-Bahnhof ankommen.

Hallers Schlusssat­z lautet: „Seine Theorie einer humanen und herrschaft­sfreien Gesellscha­ft wird wieder analysiert.“Und, in Spiegelung der Reflexion Konrad Paul Liessmanns zu Marx: „Totgesagte leben eben länger.“Dem ist nichts hinzuzufüg­en – oder doch: Engels’ Pathoswort am Grab des Freundes, das ein Dutzend Trauergäst­e umstand: „Verehrt, geliebt, betrauert, von Millionen revolution­ärer Mitstreite­r. Sein Name wird durch die Jahrhunder­te fortleben, und so auch sein Werk.“

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Der Kampf war sein Element: Karl Marx, fotografie­rt von Sibylle Bergemann.

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