ANTON PELINKA
Hans Schafranek beschreibt in „Widerstand und Verrat“die Tätigkeit der Polizeispitzel im antinazistischen Untergrund. Meist waren es Menschen mit „belasteter Vergangenheit“– ob politisch oder kriminell. Das Sittenbild eines Spitzelstaats.
Geboren 1941 in Wien. 1975 bis 2006 Ordinarius für Politikwissenschaft, Universität Innsbruck. Professor of Nationalism Studies and Political Science, Central European University, Budapest.
Hans Schafranek zeigt in diesem Buch seine Stärke als Historiker: Er hat durch einen hohen Aufwand an Forschung ein zumeist nur am Rande behandeltes Kapitel der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich aufgearbeitet: die Unterwanderung der verschiedenen, im Untergrund gegen das totalitäre Herrschaftssystem arbeitenden Netzwerke durch Agenten des NS-Polizeiapparats. Wie schon in seinen Büchern über den NS-Putsch des Juli 1934 („Sommerfest im Preisschießen“) und über die „Österreichische Legion“(„Söldner für den Anschluss“) erweist sich Schafranek als ein Historiker, der hartnäckig ein Detail nach dem anderen erhebt – vor allem aus zumeist unveröffentlichten Dokumenten, um so ein vielschichtiges Gesamtbild zu zeichnen.
In seiner Einleitung versucht Schafranek einen Brückenschlag zwischen den Praktiken des NS-Terrorstaates zu allgemeinen Praktiken der Polizei schlechthin. Damit stellt er sich einer realen Herausforderung: Polizei als Technik, die den einen wie auch den anderen Herren dienen kann. Dass der Nationalsozialismus ein in entscheidenden Bereichen aber nicht irgendein System, sondern, neben der UdSSR zur Zeit Stalins, der Extremfall politischer Repression war, wird – von Schafranek selbst zumindest indirekt bestätigt – als selbstverständlich vorausgesetzt. Aufschlussreich ist das differenziert kritische Bild, das Schafranek vom gesellschaftlichen Umfeld zeichnet: „Das zentrale Ermittlungsinstrument der Gestapo, die quantitativ wie qualitativ wichtigste Ressource polizeilichen Herrschaftswissens, stellte wahrscheinlich die breite Denunziationsbereitschaft innerhalb der Bevölkerung dar.“
Schafranek hat die Fülle seines Materials systematisch geordnet. Er beschreibt die Infiltrationstätigkeit der Gestapo in den verschiedenen Widerstandsgruppen: Kommunisten, Sozialisten, Konservative und Legitimisten, „Überparteiliche“. Dass sein Buch bei einer regionalen Zuordnung nur spezifische Kapitel zu Niederösterreich und Tirol enthält, ist wohl die Folge der Überfülle des Materials, das quantitativ (nicht qualitativ) jede forschende Einzelperson (und damit auch Schafranek) überfordert. Das Thema und die vorhandenen (beziehungsweise noch zu erhebenden) Dokumente hätten wohl ein Team von Forscherinnen und Forschern mehrere Jahre hindurch beschäftigt. Schafranek, der erfahrene „Einzelforscher“, musste auswählen, um ein Buch wie dieses fertigstellen zu können.
Das Tirol-Kapitel zeigt in mehrfacher Hinsicht, wie der Faktor Zufall den NS-Terror mitbestimmt hat: In Tirol, bezogen auf antinazistischen Widerstand eine der ru- higsten Regionen, gab es Aktivitäten, vernetzt mit einer in Berlin entstandenen kommunistischen Gruppe („Uhrig-Organisation“). Durch zufällige (etwa urlaubsbedingte) Kontakte weitete sich diese Gruppe organisatorisch auch in Tirol aus. Bei der Zerschlagung dieses Netzwerks, das sich auf Berlin, München und eben auch auf Tirol erstreckte, wurde von den NS-Behörden der Tirol-Bezug ebenfalls besonders hervorgehoben. Dass dieses Netzwerk aufflog, war auch und wesentlich die Folge der Tätigkeit der in die Gruppe eingeschleusten GestapoSpitzel und Provokateure.
Schafranek stellt die Tätigkeit der Gestapo-Spitzel in einen beruflichen und politischen Kontext. Der Anlass dafür, dass sich Menschen für eine solche Tätigkeit hergaben – über deren potenziell mörderische Konsequenzen wohl in den meisten Fällen von Anfang an Klarheit herrschte –, war zumeist eine persönliche Erpressbarkeit. Schafranek schreibt, die individuelle Voraussetzung für die „Eignung“zu solcher Spitzeltätigkeit war zumeist eine kriminelle oder politisch „belastete“Vergangenheit. Mit anderen Worten: Nur zu oft versuchten Menschen, die selbst vom NS-Polizeiapparat bedroht und unter Druck gestellt waren (wie die „Halbjüdin“Margarete Kahane), sich selbst zu retten, indem sie andere der Gestapo auslieferten.
Es ist ein erschreckend bunter Bogen vieler Einzelfälle, den Schafranek zeichnet. Das, was alle diese Fälle zusammenhält, ist die Lebendigkeit einer sich aus unterschiedlichen Gründen manifestierenden Gegnerschaft zum Regime, die zu unterschiedlichen Formen des Widerstands geführt hat. Und Schafranek liefert ein detailliertes Sittenbild eines Systems, das von Hannah Arendt als eines der beiden Muster eines totalitären Unrechtsstaats beschrieben wurde. Der NSStaat war vor allem totalitär durch die Grenzenlosigkeit der Repression.
Deren Intensität wird durch die von Schafranek geschilderten Techniken des Einschleusens und Provozierens deutlich. Dass diese Techniken als Teil einer „normalen“Polizeiarbeit auch in anderen, nicht totalitären und wohl auch nicht autoritären Systemen sind, kann nicht dazu verführen, den Charakter des NS-Staates zu relativieren. Denn die Gestapo-Spitzel dienten ja nicht irgendeinem Herrschaftsapparat. Sie waren Rädchen in einem System, das wegen des als Angriffskrieg begonnenen Weltkriegs und wegen des Holocaust mehr als je zuvor als Tiefpunkt der Geschichte menschlicher Zivilisation gilt.
Schafraneks Buch ist trotz des Umfangs irgendwie unfertig geblieben. Das dichte Material, übersichtlich aufbereitet, hätte mehr systematische und erklärende Zusammenfassung verdient. Das Kapitel „Typologie und Motive der Gestapo-Spitzel“verspricht dies – aber es bleibt bei der Analyse zweier Einzelfälle (Johann Pav, Karl Zwifelhofer). Diese sind interessant, weil sie zwei in der linken Opposition Aktive betreffen (Pav als Sozialdemokrat, Zwifelhofer als Kommunist), die von der Gestapo „umgedreht“wurden und ihr internes Wissen der Mordmaschine zur Verfügung gestellt haben. Aber über die Einzelfälle hinaus wäre noch mehr, ebenfalls Wichtiges zu verarbeiten gewesen – eben in Richtung der versprochenen Typologie. Doch Schafraneks Forschungsenergie ist mit diesem Buch ja nicht erschöpft.
Hans Schafranek Widerstand und Verrat Gestapospitzel im antifaschistischen Untergrund 1938–1945. 504 S., geb., € 29,90 (Czernin Verlag, Wien)