Totes Kind als „schlimmstes Tabu“
Schriftstellerin im Gespräch. Scham über erlebte Gewalt prägte ihr Leben, sie machte daraus große Literatur: Die Französin Annie Ernaux über sexuelle und noch ärgere Tabus, soziale Schande und das Einzige, was ihr an Macron gefällt.
Die Schriftstellerin Annie Ernaux im Interview ü\er erle\te Gewalt und Ta\us, die ihr Le\en prägten.
„Die Presse“: Ihr Buch „Die Jahre“, das nun endlich auf Deutsch erschienen ist, schildert Ihre Lebenszeit als Gesellschaftsepoche, vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute. Sie erzählen von sich, aber in der unpersönlichen, nicht in der Ichform. Warum? Annie Ernaux: Weil ich mein Ich nicht als Kontinuität erlebe, sondern als etwas Fragmentiertes. Das Buch illustriert das. Sogar Simone de Beauvoir beginnt noch mit „Ich wurde geboren“– das fehlt hier völlig. Es gibt nur ein Kind, das zur Welt kommt, und die Frage: In welche Welt kommt dieses Kind? Bei jedem Foto kommen neue Indizien, aber nicht unbedingt Verbindungen zu dem, was davor war. Da ist etwas Zufälliges in dem, was passiert, und das möchte ich vermitteln.
In Ihren Büchern haben Sie immer wieder Ihre persönliche Geschichte verarbeitet. Als Kind erlebten Sie 1952 mit, wie Ihr Vater versuchte, Ihre Mutter zu töten, vor 20 Jahren schrieben Sie zum ersten Mal darüber. Warum war es gerade dieses Gefühl, das zurückblieb und Ihr späteres Leben so bestimmte? Ein Grund ist, dass danach alle darüber geschwiegen haben, auch meine Mutter. Wir haben nie darüber geredet. Was geschehen war, war beschämend, eine Schande, ein soziales Stigma. Auch weil Alkoholismus im Spiel war. Ich war ein Einzelkind, ich musste es allein mit mir herumtragen. In der privaten katholischen Schule, in die ich ging, war es absolut unmöglich, das zur Sprache zu bringen.
Wem haben Sie es als Erstes erzählt? Männern, mit denen ich später zusammen war. Das Erzählen davon war immer ein wenig das Zeichen dafür, dass ein Mann in meinem Leben etwas zählte. Die Männer antworteten aber nie! Als wäre diese Geschichte zu monströs. Sie wussten nicht, was sie sagen sollten. Bevor ich in den Siebzigerjahren mein Buch „Scham“schrieb, wussten auch meine Kinder nichts davon. Ich habe sie damals ins Restaurant eingeladen und es ihnen erzählt. Meine Mutter war schon tot, sonst hätte ich auch das Buch nicht geschrieben.
Haben Sie nie daran gedacht, mit Ihrer Mutter darüber zu reden, als sie alt war? Nie. Es gab noch ein anderes Schweigen in unserer Familie. Meine Mutter hatte vor mir ein Kind, das vor der Geburt gestorben ist, und auch darüber haben meine Eltern nie mit mir geredet. Meine Mutter wusste aber, dass ich es weiß. Und ich wusste, dass sie weiß, dass ich es weiß. Sie hat geschwiegen, um meine Kindheit nicht traurig zu machen, tatsächlich wurde es dadurch aber noch viel schlimmer. Mein Vater und meine Mutter haben es vor mir verheimlicht, wenn sie auf den Friedhof gegangen sind. Ich hatte das Gefühl, dieses tote Kind ist schlimmer als ein sexuelles Tabu – als ob mir der Himmel auf den Kopf gefallen wäre, wenn ich nach meiner Schwester gefragt hätte. Man durfte nicht, es war undenkbar.
Und auch darüber haben Sie bis zuletzt nicht mit Ihrer Mutter gesprochen? Nein, auch als meine Mutter später mit mir und meinen Kindern lebte, haben wir nicht geredet. Wenn das Schweigen schon so lange herrscht, ist es so leichter. Viele Leser haben mir nach diesem Buch von ihrer Scham geschrieben: wegen Alkoholismus, Gewalt oder auch einer psychischen Krankheit in der Familie.
Um Scham ging es auch in Ihren Erinnerungen an Ihre erste Liebe . . . Das war vielleicht die größte Scham von allen, verliebt zu sein in einen Mann, der brutal war, verlassen zu werden – und trotzdem noch monatelang in diesen Menschen verliebt zu sein. Ich habe mich in die Lektüre geflüchtet, Simone de Beauvoir, Kant . . . Aber mein Körper hat es nicht vergessen, ich hatte zwei Jahre lang keine Periode mehr, hatte Bulimie. Es war ein Gang durch die Wüste.
In Ihrem Werk geht es viel um Sexualität, gleichzeitig beklagen Sie in „Die Jahre“, man definiere sich heute zu sehr über die Sexualität. Wie soll man das verstehen? Obwohl seit den Siebzigerjahren der Imperativ „Genieße“und heute das Recht auf sexuelle Freiheit herrscht, ist Sexualität trotzdem keine einfache Sache, das meine ich. Hier wird zu sehr vereinfacht, es gibt keine reine Sexualität. Ich glaube, es war Sartre, der sagte, Sexualität ist eine Art und Weise, die Totalität der menschlichen Existenz zu leben. Man kann sie nicht von seiner persönlichen Geschichte trennen, vom sozialen Milieu, in dem man aufgewachsen ist, von der Fortpflanzung, vom Bedürfnis, an die nächste Generation weiterzugeben, was man liebt, und vieles mehr.
In „Die Jahre“erzählen Sie auch von Ihren Beziehungen mit jüngeren Männern. Hatten Sie beim Schreiben noch das Gefühl, hier ein Tabu zu brechen? In den 1990ern und auch noch in den 2000ern waren ältere Frauen mit jüngeren Partnern auf jeden Fall noch ein Tabu. Man nennt sie in Frankreich sehr verächtlich „cougar“, Puma, das meint, dass sie sich wie Raubkatzen auf die Männer werfen. Ganz sicher ändert sich das derzeit. Zumindest in dieser Hinsicht wirkt sich unser jetziger Präsident in Frankreich positiv aus, auch wenn ich sonst nicht viel für ihn übrig habe. In den Neunzigerjahren habe ich mich offen mit einem Mann gezeigt, der 28 Jahre jünger war als ich. Ich war damals 53. Selbst in den aufgeschlossensten Künstlerkreisen wurde ich damals schief angeschaut.
Früher war alles besser? Aber nein! Die Veränderung ist unausweichlich. Die Nostalgie ist absolut falsch. Die Zeit erst erzeugt diese Illusion. Ich bin nie nostalgisch. Ich schaue einfach analytisch zurück.