Der ekstatische Kampf gegen Aids
Film. In den 1990ern trat der französische Regisseur Robin Campillo der Bewegung Act Up bei. Sein Film „120 BPM“ist eine pulsierende Hommage – und ein Appell für mehr Empörung.
Wer auf die Ungerechtigkeit in der Welt mit Gleichgültigkeit reagiere, meinte einmal Stephane´ Hessel, dem sei eines der konstitutiven Merkmale des Menschen abhandengekommen, nämlich „die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement“. Auf den T-Shirts der Anti-Aids-Aktivistengruppe Act Up stand seinerzeit in diversen Sprachen: „Schweigen = Tod“. Darüber das rosafarbene Dreieck, das man zur Nazi-Zeit den homosexuellen KZHäftlingen aufgepickt hatte. In ihren Slogans und öffentlichkeitswirksamen Aktionen schreckten Act-Up-Mitglieder nicht davor zurück, die kollektive Ignoranz, die den gesellschaftlichen Umgang mit der Epidemie prägte, mit aktivem Massenmord gleichzusetzen. Der französische Regisseur Robin Campillo trat damals, Anfang der 1990erJahre, dem französischen Ableger der in den USA gegründeten Bewegung bei, die für bessere Behandlung und gegen Stigmatisierung von Aids-Kranken kämpfte und dazu Politik und Pharmaindustrie unter Druck setzte. Sein Spielfilm „120 BPM“ist seine biografisch beeinflusste Hommage an Act Up.
Übersetzt heißt „to act up“nicht nur bocken und nerven, sondern ebenso Theater machen und sich aufspielen. Vor allem in der ersten Hälfte des Films werden öffentliche Plätze in Bühnen umgewandelt oder echte gestürmt, um gegen die medizinische Unterversorgung von Aids-Kranken zu protestieren. Direkt, laut und theatralisch. Die Dynamik der Gruppe wird mitreißend geschildert – Einzelschicksale bleiben dabei zunächst außen vor. In den regelmäßigen Lagebesprechungen kristallisiert sich lediglich heraus, wer zu den Gemäßigten und wer zu den Radikalen gehört. Wenn sich die eine Fraktion durchsetzt, wird ausgelassen auf einer LGBT-Parade mitgetanzt. Wenn die andere den Ton angibt, die Chefetage eines fahrlässigen Pharmaunternehmens mit Kunstblut attackiert. Für die Nachstellung dieser Überfälle bleibt die Kamera ganz nah an den Aktivisten und zeigt – mit schnellen Perspektivwechseln – die perfekt aufeinander abgestimmten Handgriffe der Akteure, die für gewöhnlich mit einem provokativen Schockeffekt enden.
Techno und Vollzeitprotest
In den Debatten, die im Hörsaal ausgetragen werden, geht es nicht weniger leidenschaftlich zu. Man würde sich wohl gegenseitig übertönen und unterbrechen, wenn zur Bestätigung eines Redebeitrags nicht bloß mit den Fingern geschnippt und bei Ablehnung durch die Zähne gezischt werden dürfte. Zusammen mit den Technobeats, denen sich die Mitglieder nach Feierabend hingeben, entsteht ein rhythmisches Geräuschkonzert. Ein ekstatisches Lebensgefühl zwischen Aufbegehren und Überschreitung wird spürbar – auch wenn es für die Erkrankten mit dem ambivalenten Effekt verknüpft bleibt, dass sie der Vollzeitprotest gleichermaßen belebt wie erschöpft.
Aus der Menge schälen sich schließlich zwei Individuen heraus: Der HIV-positive Sean (Nahuel Perez´ Biscayart) und der Neue in der Gruppe, Nathan (Arnaud Valois), verlieben sich ineinander und werden ein Paar. Hier wird der Film plötzlich ruhiger. Amouröse Blickwechsel und sexuelles Kennenlernen bleiben davon überschattet, dass die Aids-Diagnose damals noch einem Todesurteil gleichkam. Dank der naturalistischen Beobachtungsgabe des Regisseurs und des ungekünstelten Schauspiels der jungen Darsteller verkommt das Liebes- und Sterbedrama aber niemals zur sentimentalen Beigabe.
Poetisch und surreal wird dieses Meisterwerk des aktivistischen Kinos nur ein einziges Mal – wenn in einer Traumsequenz die Seine mit Blut rot eingefärbt ist. Unweigerlich denkt man an das Massaker von Paris, bei dem die Polizei ein paar Jahrzehnte zuvor über 200 algerische Demonstranten totgeschlagen und in dem Fluss versenkt hat. Dem Gemetzel wurde damals genauso wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wie später dem aidsbedingten Massensterben in den gesellschaftlichen Randgruppen. Insofern lässt sich „120 BPM“, der jetzt in den heimischen Kinos läuft, nicht nur als persönliches Denkmal für die Aktivisten, sondern auch als universeller Appell für mehr Empörung und Protestbereitschaft auffassen – frei nach Hessel.