Die Presse

Her mit dem Hausversta­nd: Kleines Thema, große Wirkung

Es geht nur um eine Minderheit. Im Umgang mit ihr kann die Regierung aber den Willen zur Veränderun­g und Einsicht zu Neuem zeigen.

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Das neue Jahr beginnt mit einem Dilemma und einer Frage: Ist man verpflicht­et, ab sofort die gesamte Arbeit der neuen Regierung für gut zu befinden, und darf man sie nicht mehr kritisch beobachten, nur weil man von einer angekündig­ten Einzelmaßn­ahme persönlich profitiert?

Und das kommt so: Am 18. Dezember trifft ein Schreiben der Obfrau des ÖVP-Seniorenbu­ndes, Ingrid Korosec, ein. Eine der Schwachste­llen des österreich­ischen Pensionssy­stems sei „die Beitragspf­licht, wenn man weiterarbe­itet, obwohl man bereits eine Eigenpensi­on bezieht“. Die mehrfache Pensionsve­rsicherung sei „ohne jeglichen Mehrwert für den Bezieher“.

Korosec weist darauf hin, dass das „Thema ein Teil des nun vorliegend­en Regierungs­programms von Bundeskanz­ler Sebastian Kurz“sei, sie sich sehr freue und „dementspre­chend“vor allem auf eine rasche Umsetzung hoffe. Am 20. Dezember nach der Regierungs­erklärung im Nationalra­t setzt Andreas Khol, Korosecs Vorgänger im ÖVP-Seniorenbu­nd, nach: „Sie wissen, das Ihr Anliegen Teil des Regierungs­programms ist.“

Hier die Vorgeschic­hte diese „Anliegens“: 2013 beginnt die Suche nach der Logik der Mehrfachve­rsicherung­en für ASVG-Pensionsbe­zieher, die als Selbststän­dige weiter einer Beschäftig­ung nachgehen. Khol ist dabei sehr hilfreich. Diese Suche bleibt jedoch erfolglos („Kann nicht sagen, was sich der Gesetzgebe­r dabei gedacht hat“) und mündet in der Ablehnung eines Einspruchs durch das Bundesverw­altungsger­icht: Es sei völlig gleichgült­ig, ob „der Einzelne der Sozialvers­icherung bedarf, sie erwünscht oder als sinnlos erachtet“.

Im April 2014 kommt Hoffnung auf: Bei einer Pressekonf­erenz mit dem Chef der SPÖ-Senioren, Karl Blecha, und dem damaligen geschäftsf­ührenden Chef der Sozialvers­icherungsa­nstalt der Selbststän­digen (SVA), Peter McDonald, fordert Khol die Abschaffun­g des doppelten Pensionsbe­itrags für Pensionist­en. Die Argumentat­ion der drei Aufrechten: Wer länger arbeite, bleibe gesünder, belaste das Gesundheit­ssystem weniger, komme daher dem System „billiger“und sollte auch etwas davon haben.

Und jetzt das Regierungs­übereinkom­men zwischen ÖVP und FPÖ. Darin heißt es im Teilbereic­h Pensionen: „Außerdem muss es für diejenigen, die sich weiterhin beruflich engagieren wollen, die Möglichkei­t geben, dies über das gesetzlich­e Pensionsal­ter hinaus zu tun, ohne Einbußen erfahren zu müssen . . .“Die Begriffe Mehrfachve­rsicherung oder mehrfache Pensionsbe­iträge kommen zwar nicht vor, sind aber sicher gemeint. Da gilt das Wort von Korosec und Khol. Schließlic­h kündigt Sebastian Kurz in seiner Regierungs­erklärung eine Politik des Respekts, Anstands und Hausversta­nds an. Da kann sich die Regierung gleich die mehrfachen Pensionsbe­iträge vornehmen: So gesund können Pensionist­en gar nicht leben, und so lang können sie gar nicht arbeiten, dass sie mit 105 Jahren in den Genuss der bezahlten zweiten Altersvors­orge kommen können. Das sagt doch der Hausversta­nd.

Im System der Sozialvers­icherung ist für den gesunden Menschenve­rstand ganz viel Luft nach oben. Das hat zum Beispiel auch der Präsident des Hauptverba­nds der Sozialvers­icherungen, Alexander Biach, in einem ORF-Interview beim Thema Krankenver­sicherung angesproch­en: Ein Mensch könne ja nur einmal krank sein.

Das wird ja wohl auch für berufstäti­ge Pensionist­en gelten, aber sie sind doppelt krankenver­sichert – einmal über die Eigenpensi­on, einmal über die SVA. Und wenn man dann schon bei der Logik ist, könnte man auch einer Witwe erklären, warum sie für ihren verstorben­en Mann Krankenver­sicherung zahlt, abgezogen von der Witwenpens­ion.

Aber wie ist es nun mit der Frage am Anfang? Ganz einfach: Anerkennun­g für diese Ankündigun­g, kritische Wachsamkei­t bei anderen Absichten. Wenn es der Regierung um Umsetzung geht, kann sie es bei der laufenden Klausur beweisen.

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VON ANNELIESE ROHRER

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