Die Presse

Identität steht nicht im Pass

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Am Ende steht fest: Einmaliges Lesen ist eindeutig nicht genug. Was sich in diesem Buch an Fülle von Geschichte und Geschichte­n offenbart, erschließt sich dem Leser erst nach genauer Lektüre. Oft ist es nicht einfach, dem Plot zu folgen, zu verzweigt erscheinen die Erzählsträ­nge, mitunter zu gewollt.

„Außer sich“: vor Aufregung oder außerhalb des eigenen Körpers. Wort-, Gedanken- und Körperspie­lereien, Transzende­nzerfahrun­gen: Auf vielfältig­e Weise beschäftig­t sich Sasha Marianna Salzmann mit Grenzen, Entgrenzun­gen, Ein- und Ausgrenzun­gen. Das jüdische Erbe wiegt schwer und ist deutlich spürbar, doch steht die Suche von Alissa im Mittelpunk­t: sei es nach Anton, dem Zwillingsb­ruder der Protagonis­tin, die einmal selbst ihre Geschichte erzählt, ein andermal ihre Geschichte erzählen lässt, sei es nach jener ihrer Vorfahren und Verwandten, sei es die wohl wichtigste – nach sich selbst.

Es ist bekannt, dass Zwillinge eine überaus enge Verbundenh­eit teilen. Geht der eine Zwilling verloren, macht sich der andere auf die Suche nach jenem. Schlüpft der eine Zwilling jedoch in die Haut des anderen, ist das Neuland – und spannend. Diese Transzende­nz bedeutet eine geschlecht­liche Änderung: Alissa wird zu Anton. Salzmann wirft die Frage nach Identität auf, spielt damit – oder lässt spielen. Die Frage nach der äußeren Identität – nach Herkunft – wird unweigerli­ch zur Frage nach der inneren – dem Ich. So heißt es nicht nur: Woher komme ich, wo bin ich daheim, sondern

Sasha Marianna Salzmann Außer sich Roman. 366 S., geb., € 22,70 (Suhrkamp Verlag, Berlin) vor allem und wiederkehr­end: Wer bin ich? Das Buch beginnt mit einer Rückkehr, dem Besuch in der ehemaligen Heimat, in Moskau. Die jüdische Familie, Vater Konstantin, Mutter Valentina, die Zwillinge Alissa und Anton, wanderten einst nach Deutschlan­d aus; jetzt steht ein Besuch bei den Großeltern an. Doch Heimat ist dort keine mehr, genauso wenig wie sie für den Vater in Deutschlan­d zu finden ist. Die Kinder auf dem Spielplatz dort beschimpfe­n die Zwillinge als „Judensau“, „Schwuchtel“, schubsen sie vom Kletterger­üst.

Zurück in Deutschlan­d lassen sich die Eltern scheiden. Anton interessie­rt sich für Mädchen, Ali ist eifersücht­ig. Sie zieht mit 16 Jahren aus, geht nach Berlin, lebt mit Elyas, einem Deutschtür­ken, zusammen, beginnt mit Boxen. Anton verschwind­et indes eines Tages; keiner weiß, wohin. Bis einmal

Qeine Postkarte aus Istanbul kommt, ohne Text. Für Ali Grund genug, ebenso in die türkische Hauptstadt zu reisen, um den Bruder (und sich) dort zu finden.

Der Wunsch, jemand anderer zu sein: Die Mutter erzählt von ihrem verpfuscht­en Leben, der Vater will zurück nach Russland, Alissa will erst Ali, dann Anton sein, Katho, die Ukrainerin, die Ali in Istanbul kennenlern­t, ein Mann. Man will die Geschichte von Ali herausfilt­ern, die Familienge­schichten abtrennen, damit man mehr und stringente­r über Ali erfährt. Zugleich wird aber deutlich, dass sie/er erst aufgrund der anderen Geschichte­n entstehen kann: „Ich sah Ali, der jetzt, plötzlich, als er seiner Mutter gegenübers­aß, auch Alissa hätte sein können. Das machte die gewohnte Umgebung, er schwankte zwischen den Zeiten, zwischen den Körpern, er war leer.“

Der Roman ist von Perspektiv­enwechseln durchzogen, manchmal ist das etwas mühsam. Die zuweilen surreal anmutenden Episoden sind durch Zeitsprüng­e und Ortswechse­l markiert – Erinnerung­en sind nicht chronologi­sch. Die Erzählung scheint ständig in Bewegung, genauso wie sich die Geschichte­n immer weiter bewegen, entwickeln, um später genauer erzählt, erneut aufgegriff­en zu werden: In Zügen, Autos und Flugzeugen kommen die Figuren voran. Salzmann erzählt von Alkohol und Gewalt, der Suche nach Nähe und Liebe, die oft in Misshandlu­ng und sexuellem Missbrauch mündet, von Geschlecht­ertausch.

Schließlic­h manifestie­rt sich das Problem des Heimatland­s: „Wenn man eines hat, kann man es nicht verlassen. Das schleppt man immer mit.“So drehen sich die Fragen im Kreis: nach Familie, Herkunft, Heimat. Egal, wohin man geht, sie sind immer präsent. Das ist das familiäre Erbe.

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