Ich bin nicht der Richter meiner Figuren
Arno Geiger hat mit „Unter der Drachenwand“seinen bisher berührendsten und zugleich verstörendsten Roman vorgelegt. Ein Gespräch über Kriegsbücher, Antikriegsbücher und Emma Bovary.
Die Presse: Ein Roman über das Jahr 1944, verknüpft mit einer Liebesgeschichte. Das ist schon ein bisschen waghalsig, oder? Arno Geiger: Es gibt wenige Gesellschaftsromane über diese Zeit – und Gründe, warum man sich nicht drübertraut. Es ist ein unglaublich heikles Terrain. Ganz zu Recht ist es ein heikles Terrain! Ich hatte einen Stoff, der mir zugefallen ist, die Korrespondenz des Kinderverschickungslagers Schwarzindien am Mondsee. Dieser Stoff hat etwas in Gang gesetzt: fünftes, sechstes Kriegsjahr, alle in äußerster Bedrängnis, keiner weiß, wie es weitergeht. Uns ist ja das Gefühl für die Unmittelbarkeit des Krieges weitgehend abhandengekommen, die Jahrzehnte haben vieles abgeschliffen. Veit sagt: „Der Krieg nimmt einen mit wie Geröll im Fluss.“
Veit ist verwundet worden, jetzt kuriert er am Mondsee seine Verletzung aus. Er ist erschöpft und verbittert, dass man ihm fünf Jahre pulverisiert hat. Aber dann reißt er sich zusammen. Die Bedrängnis, in der er sich befindet, erzeugt ja auch Lebensgier. Es ist ein Leben von heute auf morgen. Und für den Veit gilt, was für uns alle gilt: Was man im Leben versäumt, ist das Leben. Er hat ein schlechtes Gewissen, dass er mit der Margot was anfängt, aber er sagt sich auch: Wenn ich jetzt die Möglichkeit habe, Glück zu finden, dann möchte ich nicht schüchtern sein.
Wie lange haben Sie daran gearbeitet? Zehn Jahre. Man schreibt ein Buch über diese Zeit nicht so nebenbei, mit dem Gestus: Das mach’ ich schon irgendwie. Ich habe sorgfältigst recherchiert. Literatur hat auch im Detail vertrauenswürdig zu sein. In diesen Nuancen steckt eine gewisse Integrität: Die Form beschützt den Inhalt. Dafür habe ich Zeit gebraucht. Das ist der eine Faktor: die Ausdauer. Der andere: Hingabe.
Was meinen Sie mit Hingabe? Tolstoi sagt: Ohne Liebe kein Talent. Ich bin nicht der Richter meiner Figuren, sondern bin aufgefordert, ihnen mit Neugierde und Offenheit zu begegnen, mich ihnen anzunähern. Aber es geht natürlich nicht nur um Empathie: Ein Roman soll nachvollziehbar machen, was nur ein Roman nachvollziehbar machen kann, in diesem Fall, wie sich das angefühlt haben könnte, im sechsten Kriegsjahr zu leben, nicht wissend, wie lange der Scheiß noch dauert. Das ist der Anspruch, den ich habe. Ob ich scheitere, ist nicht so wichtig: Ich muss es versucht haben.
Sind Sie schon einmal gescheitert? Ja, schon. Beim Kriegskapitel von „Es geht uns gut“bin ich in die Falle hineingetappt: Da habe ich den Krieg als Effekt beschrieben. Das würde ich nicht mehr so machen.
Ich kann mich nicht mehr erinnern . . . Das ist gar nicht notwendig. Glauben Sie mir, wenn ein Autor seinen eigenen Text kritisiert, dann hat er meistens recht. Ich bin damals dem Trampelpfad der Gewaltgeschichte gefolgt, und das ist einer der Pfade, die für die Literatur unergiebig sind. Um Gewaltgeschichten zu erzählen, gibt es andere Mittel. Jetzt beschreibe ich dagegen, was der Krieg mit den Menschen macht. Wie er versucht, das Private zu zerstören. Wie sich Privates trotzdem versucht zu entfalten. In Wahrheit lesen wir „Im Westen nichts Neues“, weil wir etwas über den Krieg erfahren wollen. Das ist kein Antikriegsbuch. In „Unter der Drachenwand“erfahren wir etwas über Beziehungen. Vielleicht ist es ein Liebesroman.
Sie schreiben nicht nur über Veit und Margot, Sie lassen auch andere zu Wort kommen. Den Juden Oskar Meyer etwa, der sich lange nicht entschließen kann, Wien zu verlassen. Im Buch gibt es den Satz: „Wie schlecht eine Zeit ist, erkennt man daran, wie wenig sie auch kleine Fehler verzeiht.“Ich wollte von einem erzählen, der nicht das Zeug mitbringt für diese Zeit, der auch nicht das nötige Glück gehabt hat, der nicht entscheidungs- stark ist, nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnet. Ich wollte von einem erzählen, der keine Stimme hat. Die Geschichte des Holocaust wird ja von jenen erzählt, die es können – und nicht von den Toten.
Gibt es reale Vorbilder? Das ist natürlich die Gretchenfrage.
Die Sie provozieren, weil Sie in einem Anhang erklären, was aus den Personen geworden ist – samt Adressen etc. Wer ist wirklicher: Emma Bovary oder Hel- muth Kohl in seiner Autobiografie? Meine Meinung können Sie ahnen.
Wie geht es Ihnen jetzt, da Sie den Roman abgeschlossen haben? Es war wie ein Trip, so etwas zu schreiben. Ich muss ja nachempfinden, was die Figuren durchleben, ich muss wissen: So fühlt sich das an. Das war emotional enorm strapaziös. Ich habe körperliche Zustände bekommen.
Und trotzdem haben Sie einmal gesagt, zu schreiben sei Ihr Lieblingsleben. Ich erfahre unglaublich viel durch die Arbeit. Die Leute erzählen mit nicht das, was mir meine Figuren erzählen. Meine Figuren sind viel offener.
Sind Sie an etwas Neuem dran? Ich habe im Moment das gute Gefühl, ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe. Warum soll ich dem etwas hinterherrufen? Aber natürlich, das wird sich wieder ändern.
Wenn das nächste Thema sich anbietet. Da muss ich widersprechen. Ich schreibe nicht über Themen. Ein Thema ist etwas für ein Sachbuch. Mir geht es ums Individuum.