Die Presse

Was Russland unter „traditione­llen Werten“so versteht

Zur Richtungsd­ebatte im Europarat über den Umgang mit Russland.

- VON OLEXANDER SCHERBA Dr. Olexander Scherba steht seit 1995 im diplomatis­chen Dienst der Ukraine und ist seit November 2014 Botschafte­r seines Landes in Österreich.

Eine Richtungsd­ebatte Europas findet derzeit im Europarat statt. Es geht um die Rückkehr Russlands in diese Organisati­on. Zur Erinnerung: Nach einer pro-westlichen Revolution in der Ukraine annektiert­e Russland die Halbinsel Krim und ließ die Ukraine bluten. Selbstvers­tändlich konnte Europa da nicht tatenlos zusehen. Sanktionen mussten her – als einzige Linie, die in dieser Situation zwischen Gut und Böse gezogen werden konnte.

Nun spricht man darüber, diese Linie wieder aufzuheben. Was hat sich geändert? Ist das Böse nun nicht mehr das Böse? Hat der Krieg endlich aufgehört? Ist das Völkerrech­t wieder hergestell­t? Oder gibt es einfach nicht mehr das Europa, das wir bis vor kurzem gekannt haben?

Als Wladimir Putins „grüne Männchen“die „Volksrepub­liken“im Donbass ausriefen – war das der Moment der Wahrheit. Nicht nur im Sinne der Bereitscha­ft Russlands, gewaltsam die Souveränit­ät eines Nachbarlan­des zu brechen. Man konnte auch sehen, was Moskau meint, wenn es von einem auf „traditione­llen Werten“basierende­n Europa schwärmt.

Vertreter anderer Religionen wurden aus den besetzen Gebieten verjagt oder gar getötet (wie im Juni 2014 vier Baptisten in Slowjansk), das Völkerrech­t außer Kraft gesetzt, Homosexual­ität de facto zu einem Verbrechen erklärt, eine „Re-Sowjetisie­rung“– durchgefüh­rt. Dies ist also das alternativ­e Europa, an dem Putin Russland bastelt und das in der Ukraine ausprobier­t wird.

Ist Landraub normal?

Die Sanktionen und die Tapferkeit der Ukrainer haben die weitere Sowjetisie­rung dieses Teils Europas gestoppt. Aber die Einstellun­g Moskaus hat sich nicht verändert. Die Bewegung im Europarat wird eher durch Veränderun­gen in der europäisch­en Einstellun­g angestoßen. Das Undenkbare ist wieder denkbar geworden. Für viele ist es nicht mehr schockiere­nd, wenn ein europäisch­es Land einem anderen ein Stück Territoriu­m raubt und im Nachbarsta­at einen blutigen Krieg anzettelt.

Der russische Appetit

Man will mit Russland „Dialog auf Augenhöhe führen“. Keine Frage: Dialog ist gut. Das Problem ist allerdings: Russland sieht sich nicht auf Augenhöhe mit Europa. „Mit Verlaub, unser geehrtes Europa ist irrelevant geworden. Es gibt nun zwei Männer, die etwas entscheide­n: Putin und Trump – denn sie haben Waffen in der Hand.“Dies sind die Worte eines führenden russischen Außenpolit­ikers, Alexej Puschkow.

Dies ist die Stimmung in Russland: Wir sind im Aufschwung, ihr seid im Abgang. Falls die Sanktionen wegfallen, wird das ein erschrecke­ndes Zeichen dafür sein, dass dies zum Teil sogar stimmt. Und Russlands Appetit wird weiter wachsen.

Es war am 3. März 2014, als es zum ersten Todesfall des Krieges kam. Der 39-jährige Ukrainer Reschat Ametow ging auf eine Protestakt­ion vor dem besetzten Gebäude des Ministerka­binetts der Krim. Er stand allein. Nach kurzer Zeit verhaftete­n ihn Männer in grüner Uniform. Man fand ihn zwei Wochen später tot.

Seitdem stieg die Zahl auf tausende Tote . Hätte man gegen Reschat im Gericht die Todesstraf­e verhängt, hätte Russland keine Chance, im Europarat zu sein. Es wäre mit Europarat-Prinzipien nicht vereinbar. „Außergeric­htlich“zu töten, europäisch­e Grenzen umzukrempe­ln, sich in die Wahlen anderer Staaten einzumisch­en, Hass und Lügen am Fließband zu produziere­n – das scheint eine andere Sache zu sein. Aber sind diese Dinge mit den Prinzipien des Europarats vereinbar?

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