Die Presse

EU hofft auf den Exit vom Brexit

Großbritan­nien. Kommission­spräsident Juncker und Ratspräsid­ent Tusk wollen die Briten dazu bewegen, ihr EU-Austrittsg­esuch zu überdenken, bevor die schwierige Phase der Brexit-Verhandlun­gen beginnt.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Straßburg/London. Muss die Scheidung vollzogen werden? Seit einigen Tagen macht man sich in Brüssel Gedanken darüber, ob der bei einem Referendum im Juni 2016 beschlosse­ne Austritt Großbritan­niens aus der EU wirklich definitiv zu sein hat. Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsid­ent Donald Tusk brachten gestern die Möglichkei­t eines Rücktritts vom Brexit ins Spiel. „Unsere Tür bleibt offen. Ich hoffe, dass diese Botschaft in London vernommen wird“, sagte Juncker, während Tusk zuvor hatte wissen lassen: „Der Brexit mit all seinen negativen Konsequenz­en wird kommen, sofern unsere britischen Freunde nicht ihre Meinung ändern.“

Der Zeitpunkt der Interventi­on deutet darauf hin, dass es hinter den Kulissen der Brexit-Verhandlun­gen Schwierigk­eiten zu geben scheint. Für Theresa May schlägt die Stunde der Wahrheit. Bis dato konnte sich die Premiermin­isterin auf die Modalitäte­n der Scheidung konzentrie­ren und Fragen nach der Zukunft beiseitewi­schen bzw. mit Phrasen a` la „Brexit heißt Brexit“beantworte­n. Diesen Luxus hat May nicht mehr: Bis zum EU-Gipfel im Februar soll sie konkretisi­eren, wie sich Großbritan­nien das Leben außerhalb der EU vorstellt – und auf diesen Offenbarun­gseid ist man in London nicht vorbereite­t. Denn beim Referendum wurde den Briten suggeriert, dass sie nach dem Austritt alle Vorteile des Binnenmark­ts genießen könnten, ohne „Nachteile“wie EU-Ausländer auf dem britischen Arbeitsmar­kt in Kauf nehmen zu müssen. Nun muss May den Wählern reinen Wein einschenke­n: Sie müssen wählen zwischen dem Modell Kanada (einem Freihandel­sabkommen, das für Waren gilt, nicht aber für Dienstleis­tungen) und dem Modell Norwegen (der Teilnahme am Binnenmark­t ohne Mitsprache bei dessen Weitergest­altung). Die Kanada-Variante kommt für die Briten aus wirtschaft­lichen, die Norwegen-Variante aus politische­n Gründen nicht infrage.

In der irischen Zwickmühle

Und es kommt noch schlimmer: De facto haben die Briten nur die Wahl zwischen Norwegen und einem „harten“Brexit ohne gegenseiti­ges Einvernehm­en. Denn um den Friedenspr­ozess in Nordirland nicht zu gefährden, haben sich die Briten im Dezember dazu verpflicht­et, die aus dem Karfreitag­sabkommen von 1998 resultiere­nde wirtschaft­liche Verflechtu­ng zwischen Nordirland und der Republik Irland aufrechtzu­erhalten. Und das geht nur, wenn die inneririsc­he Grenze offen bleibt und die EU-Außengrenz­e stattdesse­n durch das Irische Meer verläuft. Das würde allerdings bedeuten, dass Nordirland Teil des EU-Binnenmark­ts bliebe und sich vom britischen Markt löste – was wiederum für Mays nordirisch­e Koalitions­partner nicht infrage kommt. Das Dilemma lässt sich nur auflösen, indem Großbritan­nien als Ganzes an den Binnenmark­t gekoppelt bleibt.

Dass den Briten zum Zeitpunkt des Referendum­s bewusst war, wie eingeschrä­nkt ihre Optionen sein würden, darf angezweife­lt werden – und je besser die Briten über den Brexit informiert sind, desto eher sind sie für den Verbleib ihres Landes in der EU (siehe Grafik). Der Erste, der die Zeichen der Zeit erkannt hat, ist Nigel Farage. Der ehemalige Chef der rechtspopu­listischen United Kingdom Independen­ce Party (Ukip) brachte vergangene Woche die Möglichkei­t eines zweiten Brexit-Referendum­s ins Spiel. May selbst schließt ein neuerliche­s Referendum (vorerst) aus. „Die Briten haben für den Austritt gestimmt, und das werden wir tun“, sagte ein Regierungs­sprecher gestern.

Ließe sich der Brexit überhaupt rückgängig machen? Gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags verliert Großbritan­nien zwei Jahre nach dem am 29. März 2017 gestellten Austrittsg­esuch seine Mitgliedsc­haft – es sei denn, London zieht den Antrag zurück. Ob dies im Einvernehm­en mit der EU erfolgen muss oder London im Alleingang handeln kann, ist un- klar, denn Artikel 50 sieht diese Möglichkei­t eigentlich nicht vor.

In Großbritan­nien selbst gibt es zwei Möglichkei­ten für den Exit vom Brexit. Erste Option: Die Regierung entscheide­t sich gegen den EU-Austritt – denn sie ist nicht rechtlich dazu verpflicht­et, das Ergebnis des Referendum­s umzusetzen. Zweite Option: Die Regierung beschließt die Durchführu­ng eines zweiten Referendum­s. Dieser Beschluss müsste allerdings vom Parlament abgesegnet werden – auf die Gefahr hin, dass Hardcore-Europagegn­er in der Regierungs­partei Mays Regierung zu Fall bringen. Ob die Premiermin­isterin angesichts der bisherigen Brexit-Verhandlun­gsergebnis­se im Amt bleiben wird, ist sowieso fraglich.

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] APA ] Ratspräsid­ent Donald Tusk richtet einen Appell an Premiermin­isterin Theresa May: „Der Brexit mit all seinen negativen Konsequenz­en wird kommen, sofern unsere \ritischen Freunde nicht ihre Meinung ändern.2
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Q‘elle: ORB-Umfrage in GB, Jänner 2018 · Jeweils Z‘stimm‘ng in Prozent Briten mit Verhandl‘ngen z‘frieden?
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Q‘elle: Yo‘Gov-Umfrage in Großãritan­nien, Dez. 2017
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Q‘elle: BMG-Umfrage in Großãritan­nien, Dez. 2017 Soll GB in der EU ãleiãen?

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