Die Presse

„Dieser direkte, offene Umgang mit Sexualität“

Film. Fran¸cois Ozons neuer Film, „Der andere Liebhaber“, beginnt mit der Großaufnah­me einer Vagina – und endet in Körperhorr­or. Im Interview spricht Ozon über Katzen, Zwillinge, Macron und das Spezielle des französisc­hen Films.

- VON ANDREY ARNOLD

Viele Filmemache­r sind Gewohnheit­smenschen: Sie variieren immer wieder die gleichen Motive und reiten ihre Steckenpfe­rde allmählich in den Boden. Francois¸ Ozon dagegen liebt Abwechslun­g. Nach dem gediegenen Historiend­rama „Frantz“liefert er mit „L’amant double“(deutscher Titel: „Der andere Liebhaber“) einen fast schon reißerisch­en Erotikthri­ller auf Basis von „Lives of the Twins“, einem Mystery-Roman von Joyce Carol Oates. Darin sucht das von psychosoma­tischen Magenkrämp­fen gebeutelte Exmodel Chloe´ (Marine Vacth) Hilfe bei einem sanftmütig­en Therapeute­n (Jer´emie´ Renier) – und verliebt sich in ihn. Was ihr der einfühlsam­e Schnuckibä­r verheimlic­ht: Er hat einen Zwillingsb­ruder (gleichfall­s Renier), mit dessen Hilfe Chloe´ ungeahnte Seiten an sich entdeckt. Doch wer ist hier der gute, wer der böse Zwilling? Am Freitag startet das stilbewuss­te Vexierspie­l in Österreich, „Die Presse“sprach beim Filmfest in Cannes mit dem Regisseur.

Die Presse: „L’amant double“ist ziemlich wild. Nach dem Ansehen fragt man sich: Ist das wirklich ein Werk des Regisseurs von „5x2“und „Le temps qui reste“? Francois¸ Ozon: Vielleicht steckt ja mein Doppelgäng­er dahinter!

Was hat Sie denn am Psychothri­ller-Genre gereizt? An Oates’ Roman hat mir vor allem das Verspielte gefallen, die Stilmischu­ng. Ich habe mich bemüht, seine eigentümli­che Stimmung zu wahren: mit Sex, Suspense, Psychologi­e und Witz, aber auch mit Horror und Gewalt. Das Psychothri­ller-Genre schien perfekt zu dieser Geschichte zu passen, weil es um eine Frau geht, mit der etwas nicht stimmt. Sie will das Rätsel ihrer Psyche lösen: ein Mystery-Moment.

Alfred Hitchcock und Brian De Palma lassen grüßen . . . Wenn man einen Thriller macht, geht es gar nicht anders. Sie hatten die Codes ihres Genres intus wie nur wenige – und konnten daher meisterlic­h mit ihnen spielen.

Hatten Sie die Besetzung sofort im Kopf? Ich habe Oates’ Buch vor fünf Jahren entdeckt und gleich versucht, den Film zu machen, aber es scheiterte an den Rechten. 2016 bot man sie mir dann gratis an. Also habe ich das Drehbuch überarbeit­et und meine Wünsche in Bezug auf die Besetzung überdacht. Mit Marine Vacth habe ich 2012 „Jeune & jolie“gedreht. Damals wäre sie für die Rolle zu jung gewesen. Jetzt ist sie älter, eine Mutter, hat mehr Schauspiel­erfahrung – eine reife, starke Performeri­n.

Jer´emie´ Renier spielt sonst eher in realistisc­hen Filmen. Die Doppelroll­e in „L’amant double“ist für ihn sehr ungewöhnli­ch und mutig. War er Ihre erste Wahl? Nein. Wie bei Marine hatte ich anfangs das Gefühl, er sei dafür zu jung – ich habe ihn als Teenager kennengele­rnt und sehe ihn zum Teil immer noch mit meinen damaligen Augen. Aber ich dachte mir: Er ist ein Freund, man kann es ja probieren. Und war dann sehr positiv überrascht. Im Unterschie­d zu vielen französisc­hen Schauspiel­ern ist er fast ein Method Actor. Seine Körperlich­keit erinnert mich an Michael Fassbender.

Hatten die Männer, die Sie gecastet haben, eigentlich Skrupel? Die Rolle fordert viel. Ein sehr berühmter Akteur sagte zunächst Ja, aber nach der Anfügung der Szene mit dem Dildo war er sich nicht mehr so sicher. Männliche Schauspiel­er haben bei solchen Dingen immer viel mehr Angst als Frauen. Sie fürchten sich davor, dass ihre Virilität infrage gestellt wird.

Warum? Vielleicht, weil Frauen allgemein mutiger sind. Vielleicht auch, weil sie seltener große Rollen bekommen und daher eher bereit sind, etwas zu wagen. Ein guter männlicher Schauspiel­er ist für mich einer, der seine weibliche Seite akzeptiert. Und kein Problem damit hat, ein Objekt der Begierde zu sein.

In der betreffend­en Szene wird ein sexueller Machtwechs­el vollzogen. Ich wollte zeigen, dass Sexualität zwischen Mann und Frau egalitär sein kann. Es gibt immer dieses Klischee von Dominanz und Unterwerfu­ng. Wenn das stimmt, sollte man zumindest die Rollen tauschen können.

Waren die vielen Sexszenen eine Belastung für die Hauptdarst­eller? Die Chemie stimmte, sie mochten sich. Auch wenn man es in Filmen selten spürt: Oft hassen sich Kinoliebes­paare am Set. Hier war das zum Glück gar nicht der Fall. Sie haben einander unterstütz­t. Vielleicht auch, weil ihnen von Anfang an klar war, dass sie die ganze Drehzeit miteinande­r verbringen würden.

Finden Sie, dass sich der Umgang der Menschen mit Sexualität in den letzten Jahren verändert hat? Ich finde, er ist heute noch viel scheinheil­iger als früher. Mein Film ist in Frankreich nur ab zwölf zu sehen, in anderen Ländern ab 16 oder 18 Jahren. In Zeiten des Internets ist diese Art von Zensur lächerlich.

Die Szene, in der die Hauptfigur den „bösen“Zwilling kennenlern­t, erinnert ein wenig an den „Fifty Shades of Grey“Film – die Machtspiel­chen, das metallisch­e Dekor. Kennen Sie ihn? Nein. Aber ich muss ihn mir ansehen – viele haben diese Assoziatio­n. „L’amant double“ist auf alle Fälle obszöner als „Shades of Grey“. . . Dann hoffe ich, dass er auch erfolgreic­her ist!

Bei Ihnen steht ein Zwillingsm­otiv im Zentrum. Haben Sie dazu recherchie­rt? Ja, und dabei das Phänomen Zwillingsk­annibalism­us entdeckt: dass ein Zwilling schon im Mutterleib stirbt. Das war mir vorher kein Begriff. Ich habe es hineingeno­mmen, weil es grotesk ist, aber real. Und natürlich habe ich mich auch mit echten Zwillingen getroffen. Sie haben mir viel Spannendes erzählt – theoretisc­h könnte ich von nun an nur noch Filme über Zwillinge machen.

Was hat Sie denn besonders fasziniert? Wenn eineiige Zwillinge jung sind, spielen sie oft mit ihrer Ähnlichkei­t. Sie geben sich für den jeweils anderen aus – auch, um sexuelle Erfahrunge­n zu sammeln. Ich wäre sehr gern Zwilling gewesen.

„L’amant double“beginnt mit der Großaufnah­me einer Vagina, gefolgt von der Überblendu­ng auf ein Auge. In Cannes gab es dafür Applaus – eine gewagte Eröffnung. Für mich ist es die Bedeutung des Films in Kurzform. Man hat etwas Geheimnisv­olles in sich – und gleichzeit­ig jemanden, der dieses Geheimnis ausspähen will. Für das Publikum ist es natürlich ein Schock, weil man sich fragt, was jetzt auf einen zukommt. Aber diese Unsicherhe­it gehört eben zum Thriller-Genre. Ich glaube, jeder hat Dinge in sich, die er nicht kennt. Ich mache die Tür auf und blicke durch den Spalt.

Auch Katzen strahlen Rätselhaft­es aus. Sie sind im Film sehr prominent vertreten – und zum Teil richtig gruselig. Ich habe Angst vor Katzen, hatte als Kind schlechte Erfahrunge­n mit ihnen, wurde von einem aggressive­n Kätzchen attackiert. Gleichzeit­ig bin ich von ihnen fasziniert, finde sie sehr schön. Man hat das Gefühl, dass sie denken, das ist bei Hunden ganz anders. Und ich finde, meine Schauspiel­erinnen haben oft katzenhaft­e Gesichter.

Nach „Le refuge“ist dies bereits der zweite Film, in dem Sie Schwangers­chaft skeptisch betrachten. Ich bin nicht sehr katholisch. Natürlich ist Schwangers­chaft etwas Schönes. Aber in diesem Film gibt es eine Verwirrung. Er ist weder dafür noch dagegen. Das Mädchen glaubt, es sei schwanger, doch da ist etwas anderes.

Sie sind nicht neidisch auf Frauen, weil Sie selbst nicht schwanger werden können? Doch. Enorm.

Gegen Ende setzt es derben Körperhorr­or. Man denkt fast schon an David Cronenberg, der ja auch einmal einen schönen Zwillingsf­ilm gedreht hat. Ich wollte auf jeden Fall, dass es brutal wird. Dabei kann ich mir solche Filme selbst gar nicht ansehen, da bekomme ich Angst. Aber ich habe mich sehr darauf gefreut, diese Szenen zu drehen – wegen der Spezialeff­ekte.

Heißt das, Sie können sich nun Ihren eigenen Film nicht anschauen? Doch – weil ich weiß, wie wir’s gemacht haben!

Wie schaffen Sie es, immer wieder neue Ansätze zu finden? Wenn man Filme macht, ist man am Ende immer von irgendetwa­s frustriert. Bei „Frantz“hat mich geärgert, dass ich keinen Sex drinhatte. Also wollte ich vielleicht als Kompensati­on etwas Erotischer­es machen, etwas narrativ Verspielte­res, weniger Ernstes.

Würden Sie sich selbst als „französisc­hen“Regisseur bezeichnen? Vielleicht. Zumindest sagen das immer alle.

Was heißt das überhaupt? Ich bin mir nicht sicher. Womöglich genau dieser direkte, offene Umgang mit Sexualität.

Dabei wurde Emmanuel Macron von manchen Boulevardm­edien zum Vorwurf gemacht, dass er mit einer älteren Frau zusammen ist. In Frankreich meines Wissens weniger, im Gegenteil. Er ist bei Frauen sehr beliebt, genau aus diesem Grund. Ich finde das gut. Schließlic­h war auch niemand schockiert, dass Francois¸ Hollande mit einer um 20 Jahre jüngeren Frau zusammen war.

Würden Sie Filme für Netflix machen? Für mich ist das Kino heilig: der dunkle Saal, das Gemeinscha­ftsgefühl. Ich weiß, in manchen Ländern brechen schon die Sperrfrist­en für den Streamingm­arkt. Aber Frankreich ist in dieser Hinsicht ein gallisches Dorf, ganz buchstäbli­ch – zum Glück.

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[ Mandarin Production] „Ich wollte zeigen, dass Sexualität zwischen Mann und Frau egalitär sein kann“, sagt Regisseur Ozon: Jer´emie´ Renier und Marine Vacth in „L’amant double“.

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