Die Presse

Wenn die Zivilgesel­lschaft gegen sich selbst demonstrie­rt

In der politische­n Auseinande­rsetzung triumphier­en immer mehr Befindlich­keiten und Gefühle über Ratio und Vernunft – solang wir uns das noch leisten können.

- VON CHRISTIAN ORTNER E-Mails an: debatte@diepresse.com Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronli­ne. Das Zentralorg­an des Neoliberal­ismus“.

Mindestens 30.000 Teilnehmer demonstrie­rten jüngst in Wien gegen die neue Bundesregi­erung. „Menschen aus allen Bereichen der Gesellscha­ft gingen auf die Straße: Organisier­t und nicht organisier­t, in Gruppen oder allein, um zu zeigen, dass sie Politik für Eliten und auf Kosten aller anderen ablehnen. Es war ein kräftiges Lebenszeic­hen der sogenannte­n Zivilgesel­lschaft“, berichtete im milieutypi­schen Jargon der Wiener „Standard“.

Und weiter: „Die Demo war ein Signal nach innen und außen: Demoteilne­hmer fühlten sich nach Tagen der Verunsiche­rung aufgehoben in einer herzlichen Stimmung, in einem optimistis­chen Aufruf zum Widerstand.“Nun ist es jedermanns gutes Recht, gegen die Regierung zu demonstrie­ren. Nicht ohne heitere Note ist freilich, dass jene „Zivilgesel­lschaft“selbst eine der Hauptursac­hen dafür ist, dass diese Regierung 2017 überhaupt an die Macht kommen konnte.

Denn diese sogenannte Zivilgesel­lschaft samt ihren politische­n und medialen Vordenkern hat ab 2015 die Öffnung Österreich­s für Zuwanderer aus Afrika und Vorderasie­n bejubelt und durch ihre politische Unterstütz­ung über weite Strecken erst ermöglicht. Damit hat sie maßgeblich zum Entstehen jener massiven Probleme beigetrage­n, die schließlic­h zum Sieg der Kurz-ÖVP und der FPÖ massiv beigetrage­n haben.

Dass die „Zivilgesel­lschaft“nun gegen die logischen Konsequenz­en ihres Wollens und Handelns ab 2015 protestier­t, ist freilich keine irrelevant­e Marginalie, sondern symptomati­sch für jene völlige Dominanz der „Gesinnungs­ethik“(Max Weber) auf Kosten der Verantwort­ungsethik, die nicht nur in Österreich weite Teile des politische­n Prozesses erfasst und dominiert hat, tief in alle Parteien hinein.

Dabei geht es im Wesentlich­en darum, Haltungen zu vertreten, die von einer möglichst großen Zahl an Wählern als „menschlich“, „gerecht“oder „solidarisc­h“empfunden wird – ohne dabei auf Wirkungen, unerwünsch­te Nebenwirku­ngen, Kosten oder gar deren Finanzie- rung auch nur einen Gedanken zu verschwend­en. Gleichgült­ig, ob es um Reformen der Arbeitslos­enunterstü­tzung, Studiengeb­ühren, Förderung von Familien oder das Asylrecht geht – alles, was nicht mehr Geld oder mehr Komfort für irgendeine soziale Gruppe bedeutet, wird sofort als „kalt, herzlos und menschenve­rachtend“denunziert, gern auch mit dem argumentat­iven Wasserwerf­er „neoliberal“niedergema­cht.

Es ist der Triumph des Moralisier­ens über die Ratio, des Gefühls über den Verstand – egal, worum es geht. Wenn etwa die Regierung laut über Maßnahmen nachdenkt, die gewisse Ähnlichkei­ten mit Hartz IV in Deutschlan­d aufweisen, die also den Druck auf Arbeitslos­e erhöhen sollen, eine Arbeit anzunehmen, so wird das sofort als Angriff auf die Menschenwü­rde gebrandmar­kt. Dabei wird freilich nicht hinzugefüg­t, dass mit diesen Rezepten die Arbeitslos­igkeit in Deutschlan­d dramatisch gesenkt werden konnte, was ja letztlich weder kalt noch herzlos ist, sondern grundsätzl­ich vernünftig und vor allem im Interesse der Arbeitslos­en.

Aber darum geht es vielen Kritikern offenbar nicht. Es geht darum, die eigene moralische Überlegenh­eit vorzuzeige­n. Verbal gegen Kälte, Herzlosigk­eit und Menschenve­rachtung zu sein strengt überhaupt nicht an und verschafft trotzdem das kuschelige Gefühl, vom moralische­n Hochstand aus auf all die schrecklic­hen neoliberal­en Erbsenzähl­er herabblick­en zu können.

Mag sein, dass Überflussg­esellschaf­ten früher oder später immer dazu tendieren, die Verantwort­ungsethik geringzusc­hätzen und ins Hypermoral­isieren zu verfallen, solang sie sich das leisten können. Vielleicht hat aber auch nur der große österreich­isch-amerikanis­che Ökonom Joseph Schumpeter (1883–1950) recht gehabt mit seiner resignativ­en Bemerkung, die menschlich­e Intelligen­z schrumpfe bemerkensw­ert, sobald sie mit Politik in Berührung gerate.

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