Wenn die Zivilgesellschaft gegen sich selbst demonstriert
In der politischen Auseinandersetzung triumphieren immer mehr Befindlichkeiten und Gefühle über Ratio und Vernunft – solang wir uns das noch leisten können.
Mindestens 30.000 Teilnehmer demonstrierten jüngst in Wien gegen die neue Bundesregierung. „Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft gingen auf die Straße: Organisiert und nicht organisiert, in Gruppen oder allein, um zu zeigen, dass sie Politik für Eliten und auf Kosten aller anderen ablehnen. Es war ein kräftiges Lebenszeichen der sogenannten Zivilgesellschaft“, berichtete im milieutypischen Jargon der Wiener „Standard“.
Und weiter: „Die Demo war ein Signal nach innen und außen: Demoteilnehmer fühlten sich nach Tagen der Verunsicherung aufgehoben in einer herzlichen Stimmung, in einem optimistischen Aufruf zum Widerstand.“Nun ist es jedermanns gutes Recht, gegen die Regierung zu demonstrieren. Nicht ohne heitere Note ist freilich, dass jene „Zivilgesellschaft“selbst eine der Hauptursachen dafür ist, dass diese Regierung 2017 überhaupt an die Macht kommen konnte.
Denn diese sogenannte Zivilgesellschaft samt ihren politischen und medialen Vordenkern hat ab 2015 die Öffnung Österreichs für Zuwanderer aus Afrika und Vorderasien bejubelt und durch ihre politische Unterstützung über weite Strecken erst ermöglicht. Damit hat sie maßgeblich zum Entstehen jener massiven Probleme beigetragen, die schließlich zum Sieg der Kurz-ÖVP und der FPÖ massiv beigetragen haben.
Dass die „Zivilgesellschaft“nun gegen die logischen Konsequenzen ihres Wollens und Handelns ab 2015 protestiert, ist freilich keine irrelevante Marginalie, sondern symptomatisch für jene völlige Dominanz der „Gesinnungsethik“(Max Weber) auf Kosten der Verantwortungsethik, die nicht nur in Österreich weite Teile des politischen Prozesses erfasst und dominiert hat, tief in alle Parteien hinein.
Dabei geht es im Wesentlichen darum, Haltungen zu vertreten, die von einer möglichst großen Zahl an Wählern als „menschlich“, „gerecht“oder „solidarisch“empfunden wird – ohne dabei auf Wirkungen, unerwünschte Nebenwirkungen, Kosten oder gar deren Finanzie- rung auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Gleichgültig, ob es um Reformen der Arbeitslosenunterstützung, Studiengebühren, Förderung von Familien oder das Asylrecht geht – alles, was nicht mehr Geld oder mehr Komfort für irgendeine soziale Gruppe bedeutet, wird sofort als „kalt, herzlos und menschenverachtend“denunziert, gern auch mit dem argumentativen Wasserwerfer „neoliberal“niedergemacht.
Es ist der Triumph des Moralisierens über die Ratio, des Gefühls über den Verstand – egal, worum es geht. Wenn etwa die Regierung laut über Maßnahmen nachdenkt, die gewisse Ähnlichkeiten mit Hartz IV in Deutschland aufweisen, die also den Druck auf Arbeitslose erhöhen sollen, eine Arbeit anzunehmen, so wird das sofort als Angriff auf die Menschenwürde gebrandmarkt. Dabei wird freilich nicht hinzugefügt, dass mit diesen Rezepten die Arbeitslosigkeit in Deutschland dramatisch gesenkt werden konnte, was ja letztlich weder kalt noch herzlos ist, sondern grundsätzlich vernünftig und vor allem im Interesse der Arbeitslosen.
Aber darum geht es vielen Kritikern offenbar nicht. Es geht darum, die eigene moralische Überlegenheit vorzuzeigen. Verbal gegen Kälte, Herzlosigkeit und Menschenverachtung zu sein strengt überhaupt nicht an und verschafft trotzdem das kuschelige Gefühl, vom moralischen Hochstand aus auf all die schrecklichen neoliberalen Erbsenzähler herabblicken zu können.
Mag sein, dass Überflussgesellschaften früher oder später immer dazu tendieren, die Verantwortungsethik geringzuschätzen und ins Hypermoralisieren zu verfallen, solang sie sich das leisten können. Vielleicht hat aber auch nur der große österreichisch-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter (1883–1950) recht gehabt mit seiner resignativen Bemerkung, die menschliche Intelligenz schrumpfe bemerkenswert, sobald sie mit Politik in Berührung gerate.