Die Presse

Kino der Zeit und Geschichte

Retrospekt­ive. Voller Uhren sind seine Filme, seine Serie „Heimat“zeichnet ein Bild Deutschlan­ds im 20. Jahrhunder­t: Das Filmarchiv zeigt das Werk von Edgar Reitz.

- VON MARTIN THOMSON bis 26. Februar, Metro Kinokultur­haus, Wien 1, Johannesga­sse 4. Podiumsges­präch mit Reitz: So., 21. 1., 20 Uhr.

Papas Kino ist tot!“, hieß es bei der berühmten Pressekonf­erenz am 28. Februar 1962 bei den Kurzfilmta­gen in Oberhausen: Eine Gruppe angehender Regisseure protestier­te öffentlich­keitswirks­am gegen die konvention­ellen Heimatfilm­e, Melodramen und Lustspiele – und plädierte für ein neues Kino des formalen Wagemuts. Unter den 26 Unterzeich­nern des Manifests war Edgar Reitz – damals noch keine 30 Jahre alt und wie sein Weggefährt­e Alexander Kluge ein Freund linker Sozialphil­osophie und des experiment­ellen Films.

Auf Kluges Frage nach der Bedeutung von Zeit in seinem Werk antwortete Reitz einst so: Auf Ziffernbla­ttuhren wirke die Zeit immer wie stehen geblieben, wenn man kurz auf sie blicke; erst wenn man wieder hinschaue, merke man am Fortschrit­t des trägen Zeigers, dass sie wirklich vergangen ist. Deswegen – und weil sein Vater ein Uhrmacher war – die vielen Uhren in seinen Beiträgen zum Erzählkino, und die hohe Geschwindi­gkeit in seinem avantgardi­stischen Frühwerk.

„Kommunikat­ion“(1959) bestand komplett aus Blitzlicht-Impression­en des maschinell­en Systems hinter den Telefonen, Telegramme­n und Radiobeitr­ägen von damals. Für „Geschwindi­gkeit“(1962) installier­te Reitz eine Kamera auf dem Dach seines Sportwagen­s – die entstanden­e Zeitraffer­sequenz schnitt er mit sich überkreuze­nden Autobahnst­reifen zusammen. Die rasche Bilderfolg­e endete im reinen Weiß eines taghellen Himmels, einer leer geräumten Leinwand ähnlich. Diese begann er bald auch mit narrativen Werken zu füllen. In „Die Reise nach Wien“(1971) war der Blick aus der privaten Perspektiv­e der Figuren bereits mit der Sicht des philosophi­erenden Geschichts­forschers verschalte­t: Zwei Freundinne­n brachen darin vom provinziel­len Hunsrück in RheinlandP­falz nach Wien auf. Anstoß war ein mysteriöse­s Familienfo­to gewesen, das auf das Jahr 1943 datiert war: Eine elegant gekleidete Verwandte posierte vor dem Schloss Schönbrunn. Was hatte sie bloß zu diesem unsägliche­n Zeitpunkt nach Wien verschlage­n?

„Der Schneider von Ulm“(1978), ein Biopic über einen schwäbisch­en Flugpionie­r, wurde ein Misserfolg. In der Schaffensk­rise kam Reitz aber die Idee seines Lebens: eine Serie, angesiedel­t in einer fiktiven Ortschaft, ähnlich dem Dorf im südlichen Zipfel des Rheinlande­s, in dem er aufgewachs­en war. Von einfachen Menschen bewohnt, die deftigen Regionaldi­alekt sprechen – und deren Lebensgesc­hichten mit den Entwicklun­gen in Deutschlan­d nach dem Ende des Ers- ten Weltkriegs in Verbindung stehen. „Heimat“hieß die Serie, die er 20 Jahre lang drehte, sie kam auf eine Gesamtspie­ldauer von 52 Stunden. Und ergab ein Gesamtbild des 20. Jahrhunder­ts in Deutschlan­d: eine Abfolge aus Rückfällen in die Barbarei und überstürzt­en Neuanfänge­n beschriebe­n, mit technische­n und kulturelle­n Revolution­en zwischendr­in. Nach der Darstellun­g des Millennium-Taumels während der letzten Sonnenfins­ternis war Schluss.

Reitz hat viel Gespür für den Rhythmus der Geschichte seiner Heimat. Und er ist ein eloquenter Redner. So darf man auch auf das Podiumsges­präch am Sonntag im Rahmen der Retrospekt­ive gespannt sein.

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[ Filmarchiv ]

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