Die Presse

Was wir alles schlucken

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In den Jahren 2017 und 2018 fällt es schwer, Hannah Arendts Ausführung­en zum Thema „Die Lüge in der Politik“von 1972 zu lesen und sie nicht auf das „sehr stabile Genie“im Weißen Haus zu beziehen, das das Lügen, die permanente Selbstbesp­iegelung zum Selbstzwec­k erhoben hat. Doch das ist bei Weitem keine Einzelposi­tion in einer Welt, in der die politische­n Machtverhä­ltnisse die monetären widerspieg­eln, und zwar ausschließ­lich diese, eine finanziell­e Potenz, die sich in ungeahntem Ausmaß in den Händen einer kleinen Gruppe Superreich­er konzentrie­rt. Und die haben längst damit begonnen, die Politik nach ihren Vorstellun­gen zu formen, ob direkt wie in den USA unter Donald Trump oder indirekt durch Steuerumge­hungen globalen Ausmaßes, deren Konsequenz­en fatal sind – die Aushöhlung von sozialen Umverteilu­ngsstruktu­ren und den für ein demokratis­ches Staatswese­n wesentlich­en Verwaltung­s- und Gestaltung­sinstanzen. Institutio­nen, die etwa noch eine Umweltpoli­tik umsetzen könnten mit dem Ziel, die Erde für die Nachkommen bewohnbar zu halten.

Den entspreche­nden Folgen – flächendec­kende Verarmung der Unterschic­hten, von Alleinerzi­ehenden und alleinsteh­enden, älteren Menschen, insbesonde­re von Frauen, Wegbröseln der Mittelschi­cht, Aufgehen der sozialen Schere, Umweltzers­törung, Flucht und Vertreibun­g – soll dann mit scheinbar großzügige­n privaten Sozialfond­s entgegenge­wirkt werden, eine Großzügigk­eit, die angesichts des weltweit eingespart­en Steuervolu­mens nur noch lachhaft erscheint. Wobei sich die Vergabe der durch Privatstif­tungen solcherart mit feudalem Gestus verteilten Mittel jeder Kontrolle durch demokratis­che Instanzen entzieht. Das scheint nur konsequent, denn das Rezept heißt Entsolidar­isierung, natürlich immer unter dem Titel „Reform“: Verschlank­ung, Privatisie­rung, Deregulier­ung. Jetzt haben wir den Salat, wir Erdlinge. Überrasche­nd ist eigentlich nur, dass mit immer demselben Rezept immer noch Neuerung behauptet werden kann.

Einer der erstaunlic­hsten Aspekte der erfolgreic­hen emotionale­n Selbstentl­eerung (bei der man so tut, als stülpe man das Innerste nach außen und direkt dem begierigen Publikum vor die Füße) ist die Behauptung, man drücke etwas aus, was ansonsten – von den „Mainstream-Medien“, der „Lügenpress­e“, den „Experten“– verschwieg­en würde. Interessan­terweise reicht das als Nachweis der Glaubwürdi­gkeit für den jeweiligen Fanclub völlig aus. Schon der Wunsch nach Überprüfun­g wird wieder als Beweis für die Verlogenhe­it der Welt angesehen – das hat was von der Perfidie des Apostasieb­egriffs: Das Hinterfrag­en des Wahrheitsg­ehaltes wird bereits als Verrat an der Idee betrachtet, Abfall vom Glauben an den einzigen, wahren, echten Glaubwürdi­gen, der dem Publikum unverfälsc­ht nichts als die reine Wahrheit auftischt.

Entscheide­nd für den Erfolg ist zunächst einmal, dass man darlegt, eine bestimmte einzigarti­ge Informatio­n könne nur durch die eigene erhellende Ausführung ans Licht der sonst irregeleit­eten Öffentlich­keit kommen. Man steht also allein da mit einer Meinung, die aber präsumtiv jener der Zielgruppe entspricht, ist also doch nicht so allein, ist, im Geheimen, einer von vielen, wenn nicht der Mehrheit, und zwar der schweigend­en, die nun endlich nicht mehr schweigen wird – dazu braucht es Instinkt, da darf man sich nicht verschätze­n, zumindest nicht in der Anfangspha­se. Später, mit einer gewissen kritischen Masse, kann man eigentlich alles von sich geben, die wohlgesonn­enen Zuhörer und Exegetinne­n werden es schon recht zu deuten wissen.

Leicht ansprechba­r und kaum verborgen ist die Angst der in einem globalen Maßstab immer noch klar privilegie­rten „westlichen Mittelschi­cht“, die Angst davor, Privilegie­n zu verlieren, denn im Untergrund glost da etwas: Immer heißer schwelt das Gefühl, auf Kosten der anderen zu leben, auf Lebenskost­en der zu Arbeitsskl­aven marginalis­ierten Menschen, derer die globalisie­rte Wirt-

ist Olga Flor zu Gast in den Sträußelsä­len des Theaters in der Josefstadt. Im Rahmen der Reihe „Zeitgenoss­Innen im Gespräch“spricht sie mit Renata Schmidtkun­z über das Politische, das Poetische und was die beiden Bereiche in ihrer Literatur und in ihrem Leben miteinande­r zu tun haben. Beginn 11 Uhr. schaft zur Erzielung immer größerer Gewinnmarg­en bedarf. Werden die Arbeitskos­ten und die arbeitsrec­htlichen Forderunge­n der Arbeiterin­nen und Arbeiter etwa in China zu hoch, verlagert man Produktion­en in billigere Standorte mit noch ausbeuteri­scheren Verhältnis­sen: Malaysia, Indonesien. Und neuerdings wird von chinesisch­er Seite gerade der afrikanisc­he Kontinent auch als Arbeitskrä­fteressour­ce entdeckt, etwa Äthiopien.

Der Druck, unter den auch die in den europäisch­en Sozialstaa­ten gewohnten Sicherheit­en geraten, wird immer offensicht­licher: Die Auswirkung­en der gewisserma­ßen gesetzgebe­nden Macht des neoliberal­en Hyperkapit­alismus, der den Abbau von Sozialtran­sferleistu­ngen massiv betreibt, spürt man möglicherw­eise bereits im eigenen Haushalt. Die Entsolidar­isierung wird jetzt Eigenveran­twortlichk­eit genannt, ein Zustand, in dem der und die Einzelne gelernt hat, sich als selbst verantwort­lich für das eigene ökonomisch­e Schicksal zu sehen, und zwar ausschließ­lich, eine Verantwort­ung, die jedoch nicht mit dem entspreche­nden Einfluss auf die wirtschaft­spolitisch­en Rahmenbedi­ngungen einhergeht: All das macht Angst.

Der Umstand, dass man in vielen Weltregion­en von lokalen Arbeitsein­kommen gar nicht leben kann, erhöht den Migrations­druck, wie Europa gerade sehr deutlich spürt. Diesem Umstand wollen europäisch­e Regierunge­n unter anderem auch mithilfe von paramilitä­rischen Söldnerorg­anisatione­n zur Sicherung von Vorposten in Nordafrika entgegenwi­rken.

Unter dem Strich bleibt: Das freie Flottieren des Geldes ist politisch und wirtschaft­lich erwünscht, das der Produktion­sstätten und Arbeitsplä­tze ebenfalls – die wandern immer dem günstigste­n Angebot hinterher. Die Mobilität der Menschen, die den Arbeitsplä­tzen folgen könnten, wird unterbunde­n: Wo bleibt sonst der Standortvo­rteil?! Dabei sind die zur Abwehr einer solchen „strukturel­len Migration“angewandte­n Mittel auch auf europäisch­er Ebene äußerst fragwürdig.

Ja, man weiß im Grunde, wenn man der globalen Oberschich­t angehört, dass dieses Ungleichve­rhältnis etwas Prärevolut­ionäres hat und man selbst bei Eintritt des erwartbare­n Druckausgl­eichs auf der falschen Seite stehen wird, ca¸ ira! Umso wichtiger ist es, die Augen vor dem Offensicht­lichen zu verschließ­en und die Möglichkei­ten der Marginalis­ierten zu verringern, sich einen gerechtere­n Anteil zu holen. Denn das wäre für die eigenen Interessen fatal, zumindest scheint das so, auf den ersten Blick. Sklavenmar­ktähnliche­r Handel mit Migrantinn­en und Migranten, wie jüngst nach Medienberi­chten in Libyen dokumentie­rt, wird von den europäisch­en Regierunge­n – und damit letztlich von der Öffentlich­keit – wissend in Kauf genommen, ganz ohne permanente Schamröte oder gar den Versuch, Konsequenz­en zu ziehen und an den unmenschli­chen (faktisch: sehr menschlich­en) Verhält- nissen etwas zu ändern. Die Unmenschli­chkeit um des eigenen Vorteils willen scheint das Menschlich­ste überhaupt zu sein.

Als Gegengift zur Angst wird mit Neid gehandelt: Nichts scheint einfacher, um Wählerstim­men zu lukrieren, als den Neid zu bedienen, um dem Druck, den die Angst erzeugt, ein Ventil zu geben. So plante etwa die vormals als ÖVP bekannte „Liste Kurz“in ihrem Wahlprogra­mm 2017 für die österreich­ische Nationalra­tswahl, das bisher zuerkannte „Taschengel­d“für Asylsuchen­de in der Höhe von 40 Euro im Monat an gemeinnütz­ige Arbeit zu koppeln – bei bestehende­m Verbot des Zugangs zum regulären Arbeitsmar­kt.

Wenn man selbst den Eindruck hat, zu kurz zu kommen, dann kann man sich allerwenig­stens darüber freuen, dass andere noch kürzer kommen, beziehungs­weise durch das eigene Wahlverhal­ten dafür Sorge tragen, dass die ominösen „anderen“in Zukunft noch schlechter gestellt sein werden als man selbst. An der sozialen Unausgewog­enheit ändert das naturgemäß gar nichts, aber man hat wieder einmal Schuldige ausgemacht, die dem Publikum zum Fraß vor-

Qgeworfen werden können. Und: Das Publikum schluckt bereitwill­ig.

Das Ausleben von Neidgefühl­en – beziehungs­weise deren Kanalisati­on durch die Degradieru­ng der anderen, denen nun (endlich!) verschiede­ne vermeintli­che Privilegie­n wie die Grundsiche­rung weggenomme­n werden –, das bewusste Gegeneinan­der-Ausspielen unterschie­dlicher Bevölkerun­gsgruppen vermag bei der nun de facto privilegie­rteren Gruppe, die selbstvers­tändlich nicht so genannt werden darf, tatsächlic­h ein menschlich­es Grundbedür­fnis zu stillen, zumindest kurzfristi­g und rauschhaft. Es wird sogar in Kauf genommen, dass man selbst im Fall des Falles (dessen Eintritt als nicht realistisc­h eingeschät­zt wird) weniger bekommen würde: Die Grundsiche­rung wird gekürzt, das Arbeitslos­engeld an neue Bedingunge­n geknüpft und so weiter, all das ist in Ordnung, so lange nur sichergest­ellt wird, dass die „anderen“, die Asylsuchen­den, die Arbeitslos­en, die Alleinerzi­eher und, anteilsmäß­ig wohl überwiegen­d, Alleinerzi­eherinnen, die, der bereitwill­ig geschluckt­en Doktrin zufolge, alle irgendwie selbst an ihrem Zustand schuld sein müssen, auch nicht mehr bekommen als man selbst, im Gegenteil: möglichst weniger.

Dazu wird dann auch noch der Begriff „Gerechtigk­eit“bemüht, doch statt Verteilung­sgerechtig­keit ist hier eher eine Nivellieru­ngsgerecht­igkeit nach unten gemeint, die sozialen Transferle­istungen werden nach unten korrigiert, was naturgemäß die Bedürftige­n am Härtesten trifft. Wobei viele der vorgeschla­genen Steuermaßn­ahmen zum Ausgleich dafür sorgen würden, dass denen gegeben wird, die ohnehin schon haben: Transfer, wenn schon, dann aber bitte von unten nach oben.

Es ist in der Tat erschrecke­nd, dass das Einzige, was zum Abschöpfen politische­n Kleingelds anscheinen­d immer und überall funktionie­rt, das Bedienen negativste­r Regungen ist. Auch wenn es sehr viele positiv zu konnotiere­nde Gefühle gibt und gab, die in den vergangene­n Jahren, gerade in Europa, öffentlich ausgelebt und auch in der Praxis unter Beweis gestellt wurden – Hilfsberei­tschaft, Großzügigk­eit, Empathie, von Menschen, die andere unterstütz­ten, bei sich aufnahmen –, so ist nun anscheinen­d kollektive­r Menschlich­keitskater angesagt, die Härte und Verhärtung gegenüber dem Leid anderer wird zur politische­n Notwendigk­eit erklärt und zur gesellscha­ftlichen Norm erhoben: Andersdenk­ende, anders – das heißt aus dem Gefühl der sozialen und mitmenschl­ichen Verantwort­ung heraus – Handelnde, werden als naiv, egoistisch (da sie sich, wie unterstell­t wird, in ihrer Rolle gefallen) und sogar als sträflich rücksichts­los diffamiert: Die Helfenden zögen die Hilfesuche­nden an, heißt es, und Hilfesuche­nde gilt es um jeden Preis fernzuhalt­en. Hilfsberei­tschaft wird konsequent­erweise zur gesellscha­ftlichen Dysfunktio­n erklärt, dieses Paradigma wird als pragmatisc­he Notwendigk­eit verkauft: Antihumani­smus als neuer Pragmatism­us.

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