Die Presse

Keine Luft zum Atmen

„Was mich am meisten schockiert, ist nicht, was ich in den Nachrichte­n sehe, sondern was ich in der U-Bahn höre. Die Lethargie, die Apathie und die Depression, die ich spüre.“Der ungarische Autor Attila Bartis über Orb´an, K´ad´ar, die Wende 1989 und sein

- Von Cornelius Hell

Attila Bartis’ jüngster Roman, „Das Ende“, in der Übersetzun­g von Terezia´ Mora im Suhrkamp Verlag erschienen, entwirft ein politische­s und gesellscha­ftliches Panorama, das sich zwischen 1944, dem Jahr der Machtübern­ahme der nationalso­zialistisc­hen Pfeilkreuz­ler in Ungarn, und dem Jahr 1995 aufspannt. Der ganze Roman ist eine Folge kurzer Szenen, die oft wie das erzählte Foto eines Gegenstand­es oder Ereignisse­s wirken. Schließlic­h ist der Erzähler, wie auch Romanautor Bartis, Fotograf.

Attila Bartis, Ihr neuer Roman heißt „Das Ende“. Um welches Ende geht es?

Es ist völlig offensicht­lich: Hier geht nicht eine einzige konkrete Sache zu Ende, es geht eher um einen seelischen Zustand, mit dem jemand wieder und wieder und wieder konfrontie­rt ist. Und das trifft sowohl auf der persönlich­en wie auf der gesellscha­ftlichen Ebene zu. Ich hoffe sehr, dass dieser Titel nicht nur negativ klingt. Denn so viele Enden kann man nur erleben, wenn es auch immer wieder einen Neuanfang gibt.

Wie sind Sie zu Ihrer Hauptfigur, Andras´ Szabad, gekommen? Steht da eine reale Person dahinter?

Ich glaube nicht, dass es so etwas wie Fiktion in der Literatur gibt. Ich bin überzeugt, dass niemand einen einzigen Satz schreiben kann, wenn dahinter nicht etwas an persönlich­er Erfahrung steckt. Es kommt immer darauf an, wie viel von einem selbst in einem solchen Text steckt. Das macht einen Text persönlich oder weniger persönlich. Und dieser Romantext ist sehr persönlich. Persönlich bedeutet aber nicht autobiogra­fisch. Eine Autobiogra­fie würde beginnen: Mein Name ist Attila Bartis, ich bin geboren am 22. Jänner 1968 . . .

Es geht auch nicht um den persönlich­en Aspekt der Geschichte, sondern um Emotionen und existenzie­lle Zustände. Und um die herum entwickelt man die Geschichte. Aufgrund dieser Geschichte könnte niemals jemand meine Biografie schreiben. Aber Sie bekommen auf Grundlage dieser Geschichte ein ziemlich deutliches Bild davon, was ich über bestimmte Dinge denke: über Fotografie, über die Liebe, über die Seele, über Gott, über die Eltern-Kind-Beziehung – und auch über Politik.

Wie ist es, wenn man 15 Jahre an einem so umfangreic­hen Roman arbeitet? Kann man da überhaupt noch etwas anderes daneben machen, oder ist man ganz in dieser Romanwelt?

Solche Zeitabschn­itte klingen immer sehr trügerisch, wenn man sie in Zusammenha­ng mit Literatur verwendet. Das ist dann eher eine Halbwahrhe­it und klingt kurios. Ich denke, für das Werk ist die Entstehung­szeit nicht von Bedeutung. Sie ist vielleicht von Bedeutung für den Autor selbst. Ich habe in dieser Zeit auch sehr viel anderes geschriebe­n, sehr viele meiner Werke sind in dieser Zeit entstanden: 2005 ist zum Beispiel der Essayband „Die Apokryphen des Lazarus“erschienen, und ich habe auch einen Gesprächsb­and über Fotografie mit dem Autor Istvan´ Kemeny´ publiziert.

Wenn man sagt, ich habe 15 Jahre an dem Roman gearbeitet, so bedeutet das in Wirklichke­it, dass ich vor etwa 15 Jahren begonnen habe, daran zu arbeiten; 2001 ist mein Roman „Die Ruhe“in Ungarn erschienen, so habe ich eigentlich 2002 mit dem neuen Roman begonnen. Und wie durch ein Wunder sind tatsächlic­h auch noch Passagen von damals in diesem Werk erhalten geblieben, deshalb wage ich überhaupt zu behaupten, dass ich 2002 mit dem Schreiben an diesem Roman begonnen habe.

Man könnte den ersten Teil dieses Buches als einen Vater-Roman bezeichnen, was aber auch bedeutet, dass ich, als mein Vater verstorben ist, eigentlich alles, was ich davor geschriebe­n hatte, weggeworfe­n und von Neuem begonnen habe. Etwa zwei Drittel des Romans habe ich aber dann im letzten Jahr vor seinem Erscheinen geschriebe­n. Es klingt vielleicht wie ein Klischee: Aber ohne die vorangegan­genen 15 Jahre hätte ich nicht das alles in einem einzigen Jahr schreiben können.

Es heißt einmal im Roman: Die Geschichte von Andras´ Szabad „ist bei all ihrer Individual­ität der Prototyp der ungarische­n Familienge­schichte. Wenn nicht der mitteleuro­päischen, nichtjüdis­chen Familienge­schichte aus der Mittelklas­se.“Was ist daran prototypis­ch?

Man kann das insofern behaupten, als zweifellos Familien und Familienge­schichten in den vergangene­n 100 Jahren deutlich von der Geschichte geprägt wurden – die Geschichte hat überall ihre Spuren hinterlass­en. Der Kalte Krieg an sich scheint mir geradezu ein Kinderspie­l im Vergleich damit, wie sehr sich das Individuum in einem permanente­n Krieg gegen die Gesellscha­ft befand. Und davon war alles dermaßen geprägt, dass es zu einer Homogenisi­erung in dieser Region kam, zu großen Ähnlichkei­ten der Lebensläuf­e. Wenn also die Traumata und Tragödien und auch die Reaktionen darauf einander sehr ähnlich sind, könnte man von einem Prototypen sprechen. Wird die Ära von Janos´ Kad´ar,´ der von 1955 bis 1988 Generalsek­retär der Kommunisti­schen Partei war und den „Gulasch-Kommunismu­s“ermöglicht­e, in Ungarn wie im Ausland noch immer verharmlos­t? Ja, sicher! Das wird noch immer verharmlos­t, und man kann bis heute nicht ermessen, und es wurde auch nicht aufgearbei­tet, dass dieser ungeheuer intelligen­te und kompetente Mann im Grunde genommen Ungarn getötet hat. Nach meinem Empfinden haben die Ungarn einen unheimlich hohen Preis für das Gulasch bezahlt, das sie doch jeden Tag auf den Tisch bekamen – im Gegensatz etwa zu den Menschen in Rumänien oder Polen.

Janos´ Kad´ar´ hat ein ganzes Land gelehrt, zu vergessen und gegen die eigene Geschichte immun zu werden. Ich glaube, eine größere Tragödie kann einer Nation nicht widerfahre­n. Und es ist nicht einfach, aus diesem Schlamasse­l wieder herauszufi­nden. Manchmal kann man in einem einzigen Augenblick einem Menschen oder einer Gesellscha­ft einen derartigen Schaden zufügen, dass es Jahrzehnte braucht, bis man sich davon wieder erholt. Der Roman „Das Ende“zeichnet auch ein kritisches und düsteres Bild vom Umgang Ungarns mit seiner Vergangenh­eit in den 1990er-Jahren. Wie sehen Sie den Umgang Ungarns mit seiner Vergangenh­eit und Geschichte heute? Man kann nicht sagen, dass es nicht versucht wird. Es gelingt halt, wie es gelingt. Was wollen Sie hören? Auf wen oder was soll ich schimpfen? Ich schimpfe gerne auf alles und jeden, ich glaube nur, dass uns das nicht weiterhilf­t. Das größte Problem derzeit ist nicht, was sich im Parlament abspielt, sondern was im ganzen Land passiert, also das, was in der Psyche der Menschen geschieht. Das, was mich am meisten schockiert, ist nicht, was ich in den Nachrichte­n sehe, sondern was ich in der Straßenbah­n oder in der U-Bahn höre. Also die Lethargie, die Apathie und die Depression, die ich spüre, und die unterdrück­te Aggression als Reaktion auf die permanente Unsicherhe­it. Das gilt freilich nicht nur für Ungarn, das ist ein weltweites Phänomen. Es ist eine ganz natürliche Reaktion auf Unsicherhe­it und Unberechen­barkeit. Das größte Problem in Ungarn ist, dass man keine Luft zum Atmen hat. Mich trifft Ihre Antwort sehr, weil ich mich noch genau daran erinnern kann, wie ich 1990 nach Ungarn kam. Das große Erlebnis damals war die Farbigkeit, in der sich die Menschen gekleidet haben; die Farbigkeit des Designs, etwa der neuen Telefonzel­len; die Offenheit und Herzlichke­it, aber auch das Laute und Fröhliche im Umgang der Menschen – im Vergleich zu all den Jahren vorher oder auch zu anderen Ländern am Übergang vom Kommunismu­s zum Postkommun­ismus. Ja, das habe ich auch gesehen. Mir ging es 1990 genauso. Ich hatte vor Kurzem einen Gast vom anderen Ende der Welt bei mir, und ich habe mit ihm natürlich die Pflichttou­r gemacht, wir haben die Brücken, das Gellert-´Bad und alle berühmten Sehenswürd­igkeiten besucht, ich habe ihm die Stadt gezeigt. Und plötzlich wurde mir klar, dass gerade das alles so schmerzhaf­t macht: Wenn die gesamte Stadt aussähe wie ein trister Plattenbau in den Vorstädten, wäre es irgendwie leichter zu ertragen, dass man keine Luft zum Atmen findet; aber da haben wir eine Perle Europas – und hier finden wir keine Luft zum Atmen.

Wenn ich mich an die Zeit der Wende 1989/90 zurückerin­nere: Da ist zweifellos ein Wunder geschehen. Es herrschte die Euphorie, von der man immer wieder spricht. Aber ich wäre mit diesem Begriff vorsichtig, denn Euphorie besagt immer, dass man nicht ganz klar sieht, dass man einen verklärten Blick hat. Doch ich bin überzeugt, dass das keine Verklärung war, was die Menschen damals für möglich hielten. Das war nicht irreal – das war eine tatsächlic­he Möglichkei­t. Woran es liegt, dass die Dinge schiefgega­ngen sind, kann ich Ihnen nicht sagen, ich glaube, da gibt es viel Klügere als mich, die das auch nicht eindeutig erklären können, aber eines ist klar: Irgendetwa­s ist auf ganz schlimme Weise schiefgega­ngen. Brauchen Sie die größtmögli­che Distanz zu Ungarn, müssen Sie auf Java leben, um sich von diesem Land zu erholen? Die einfache Antwort darauf wäre natürlich: Ja! Die Sache ist aber etwas komplizier­ter. Java hilft, Distanz zu gewinnen und aus dieser Distanz die eigene Kultur zu sehen und zu reflektier­en. Und zwar nicht nur das eigene Land, nicht nur Ungarn, sondern die gesamte demokratis­che, westliche, aufgeklärt­e Welt, die eigentlich in einem unvorstell­baren und unerträgli­chen Reichtum lebt. Wie ist die Situation der Künstler in Ungarn, vor allem der Schriftste­ller? Das kommt auf den Künstler an. (Lacht.) Es gibt keine Zensur. Ich könnte hier auf Viktor Orban´ schimpfen, wie ich will – es gibt kein schwarzes Auto, das dann unten auf mich wartet. Mir würde nichts passieren. Das Problem ist: Diese Antwort ist nicht so beruhigend, wie sie auf den ersten Blick scheint. Es geht in erster Linie um den Zynismus des gegenwärti­gen Regimes. Es ist völlig egal, was ein Autor schreibt. Aber es wird noch viel schlimmer kommen, und zwar überall, glauben Sie mir.

Dolmetsche­rin: Eszter Bokor.

 ?? [ Foto: Baier/laif/Picturedes­k] ?? „Auf wen oder was soll ich schimpfen?“Attila Bartis, Jahrgang 1968.
[ Foto: Baier/laif/Picturedes­k] „Auf wen oder was soll ich schimpfen?“Attila Bartis, Jahrgang 1968.

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