„Bitt’ schön, gehn S’ zur Seite!“
Egon Friedells „Wiener Fenstersturz“gerät Egyd Gstättner zum berührenden Romanporträt.
Die „Wiener Kaffeehausliteratur“bezeichnet eine Hauptströmung der literarischen Moderne vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Mit seinem Roman „Wiener Fenstersturz“taucht Egyd Gstättner tief in diesen Mikrokosmos ein, und er tut dies auf eine tollkühne Art: als Melange von semibiografischer Rollenprosa und dystopischem Science-Fiction-Roman. Auf den Schlachtfeldern des habsburgischen Reiches endete die letzte supranationale Erzählung des neuzeitlichen Europa, an ihre Stelle trat die Unterwerfung unter den furor teutonicus – ein Verhängnis, das drei Jahrzehnte und einen Weltkrieg später von den Alliierten saniert werden musste.
Mit Ausnahme des erratischen Werks von Karl Kraus und Robert Musil kapitulierte die Literatur dieser Zerfallsjahre vor der schieren Größe des Stoffes. In den ungeheizten Kaffeehäusern des nachrevolutionären Wien reichte die Kraft nur für die kleine Form. Egon Friedell galt in diesem Kosmos als Fixstern. Gemeinsam mit seinen Freunden Max Reinhardt, Alfred Polgar, Peter Altenberg – anfangs auch Karl Kraus – übte er einen prägenden Einfluss auf das Geistesleben der einstigen Residenzstadt aus.
In zweifacher Weise erzählt Gstättners Roman von jenem Mann, dem Hugo von Hofmannsthal einst am Westbahnhof ins Gewissen geredet hatte, er, Friedell, müsse das ultimative deutsche Lustspiel verfassen, er habe das Zeug dazu. Dieser Auftrag, dem keine geringe Auszeichnung innewohnte, beschäftigte Friedell noch in seinen letzten Minuten, als er, während SA-Männer an seine Tür schlugen, auf den Fenstersims stieg. Nie würde ein Egon Friedell ein Trottoir mit einer Zahnbürste reiben! Was hatte er nicht alles unternommen, um sich den Nazischergen zu entziehen!
Fluchtversuche in den Tod
Auf den Knien flehte er seinen Hausarzt um Medikamente für einen Suizid an, andere Freunde traktierte er mit dem Wunsch, eines Revolvers habhaft zu werden. Friedell wusste, dass seine Leibesfülle und seine Sliwowitz-Sucht eine Flucht unmöglich machten. Parforcejagd über die Pyrenäen und Portugal in die USA, wie sie der fünf Jahre ältere Freund und Kollege Alfred Polgar überlebte, kam für ihn nicht infrage.
In Gstättners Roman ist der Sprung aus dem Leben aber nicht das Ende. Ein kleiner Mann fängt den Stürzenden auf und verfrachtet ihn flugs in eine Zeitmaschine. H. G. Wells, um keinen anderen handelte es sich bei dem Retter, war mit Friedell in gegenseitiger Wertschätzung verbunden; sein Roman „The Time Machine“zählte damals schon zu den Klassikern der SciFi-Literatur. Und schon jetten die Zeitreisenden ins Jahr 1995. „Österreich hatte sich freigesoffen und in ein immerwährendes Delirium tremens hineingesoffen.“Sie wundern sich über das rätselhafte Kürzel www. „Eine Höflichkeitsfloskel der Zukunft? Ein neuer akademischer Titel?“Sie reisen aber auch unter Schlingern und Poltern in Friedells Vergangenheit, in der die Trennung der Eltern den jungen Egon verzweifeln lässt und die unerwiderte Liebe zu Lina Loos den jungen Künstler traumatisiert.
Irrfahrten mit der Zeitmaschine bringen es mit sich, dass Lebensfäden manchmal im Nirwana enden. Nicht so in diesem Buch, dessen poetisches Zentrum ein berührendes und fesselndes Porträt Egon Friedells ist.