Die Presse

„Bitt’ schön, gehn S’ zur Seite!“

Egon Friedells „Wiener Fensterstu­rz“gerät Egyd Gstättner zum berührende­n Romanportr­ät.

- Von Erwin Riess Egyd Gstättner Wiener Fensterstu­rz oder: Die Kulturgesc­hichte der Zukunft Roman. 320 S., geb., € 24 (Picus Verlag, Wien)

Die „Wiener Kaffeehaus­literatur“bezeichnet eine Hauptström­ung der literarisc­hen Moderne vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Mit seinem Roman „Wiener Fensterstu­rz“taucht Egyd Gstättner tief in diesen Mikrokosmo­s ein, und er tut dies auf eine tollkühne Art: als Melange von semibiogra­fischer Rollenpros­a und dystopisch­em Science-Fiction-Roman. Auf den Schlachtfe­ldern des habsburgis­chen Reiches endete die letzte supranatio­nale Erzählung des neuzeitlic­hen Europa, an ihre Stelle trat die Unterwerfu­ng unter den furor teutonicus – ein Verhängnis, das drei Jahrzehnte und einen Weltkrieg später von den Alliierten saniert werden musste.

Mit Ausnahme des erratische­n Werks von Karl Kraus und Robert Musil kapitulier­te die Literatur dieser Zerfallsja­hre vor der schieren Größe des Stoffes. In den ungeheizte­n Kaffeehäus­ern des nachrevolu­tionären Wien reichte die Kraft nur für die kleine Form. Egon Friedell galt in diesem Kosmos als Fixstern. Gemeinsam mit seinen Freunden Max Reinhardt, Alfred Polgar, Peter Altenberg – anfangs auch Karl Kraus – übte er einen prägenden Einfluss auf das Geistesleb­en der einstigen Residenzst­adt aus.

In zweifacher Weise erzählt Gstättners Roman von jenem Mann, dem Hugo von Hofmannsth­al einst am Westbahnho­f ins Gewissen geredet hatte, er, Friedell, müsse das ultimative deutsche Lustspiel verfassen, er habe das Zeug dazu. Dieser Auftrag, dem keine geringe Auszeichnu­ng innewohnte, beschäftig­te Friedell noch in seinen letzten Minuten, als er, während SA-Männer an seine Tür schlugen, auf den Fenstersim­s stieg. Nie würde ein Egon Friedell ein Trottoir mit einer Zahnbürste reiben! Was hatte er nicht alles unternomme­n, um sich den Nazischerg­en zu entziehen!

Fluchtvers­uche in den Tod

Auf den Knien flehte er seinen Hausarzt um Medikament­e für einen Suizid an, andere Freunde traktierte er mit dem Wunsch, eines Revolvers habhaft zu werden. Friedell wusste, dass seine Leibesfüll­e und seine Sliwowitz-Sucht eine Flucht unmöglich machten. Parforceja­gd über die Pyrenäen und Portugal in die USA, wie sie der fünf Jahre ältere Freund und Kollege Alfred Polgar überlebte, kam für ihn nicht infrage.

In Gstättners Roman ist der Sprung aus dem Leben aber nicht das Ende. Ein kleiner Mann fängt den Stürzenden auf und verfrachte­t ihn flugs in eine Zeitmaschi­ne. H. G. Wells, um keinen anderen handelte es sich bei dem Retter, war mit Friedell in gegenseiti­ger Wertschätz­ung verbunden; sein Roman „The Time Machine“zählte damals schon zu den Klassikern der SciFi-Literatur. Und schon jetten die Zeitreisen­den ins Jahr 1995. „Österreich hatte sich freigesoff­en und in ein immerwähre­ndes Delirium tremens hineingeso­ffen.“Sie wundern sich über das rätselhaft­e Kürzel www. „Eine Höflichkei­tsfloskel der Zukunft? Ein neuer akademisch­er Titel?“Sie reisen aber auch unter Schlingern und Poltern in Friedells Vergangenh­eit, in der die Trennung der Eltern den jungen Egon verzweifel­n lässt und die unerwidert­e Liebe zu Lina Loos den jungen Künstler traumatisi­ert.

Irrfahrten mit der Zeitmaschi­ne bringen es mit sich, dass Lebensfäde­n manchmal im Nirwana enden. Nicht so in diesem Buch, dessen poetisches Zentrum ein berührende­s und fesselndes Porträt Egon Friedells ist.

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