Die Presse

Nackt, zwanglos und vegan

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Für Stefan Bollmann war das Projekt des Monte Verita,` wie er auf der letzten Seite seines Buches schreibt, „eine Revolte gegen überkommen­e Lebensform­en und ein Ausprobier­en neuer Lebensstil­e“. Nach den Revolution­en von 1848 versuchten die gerade noch einmal davongekom­menen Herrscherh­äuser, die alte Ordnung durch Repression aufrechtzu­erhalten. Erkennbar war diese gesellscha­ftliche Verengung etwa in der Mode, die die Körper einschnürt­e. Es ist deshalb mehr als eine Modeersche­inung, wenn Emanzipati­onsbewegun­gen am Ausgang des 19. Jahrhunder­ts den „Schlotterl­ook“und die Freikörper­kultur erfunden haben. Es waren äußere Zeichen der inneren Auflehnung gegen die Einschränk­ungen der Freiheit des Körpers und des Geistes.

Die mitteleuro­päische Stadt, die vor der Jahrhunder­twende noch am meisten Freiheit bot, war München. In der „Schwabinge­r Boheme“trafen recht unterschie­dliche Welten aufeinande­r: Anarchiste­n und Kabarettis­ten, Künstler und Gelehrte, Gestrandet­e und Zügellose. „Das Erstaunlic­hste aber ist die hohe Schwabinge­r Frauenquot­e dank des Münchner Künstlerin­nen-Vereins und seiner Damen-Akademie“, so Bollmann. Etliche Frauen, die im Korsett patriarcha­lischer Verhältnis­se zu ersticken drohten, zog es damals an die Isar. Darunter die künstleris­ch ambitionie­rten Schwestern Ida und Jenny Hofmann. Erstere hat sich mit Karl Gräser verabredet, um Ausstiegsp­läne zu besprechen. Dieser bringt nun seinen Bruder Gusto mit. Dazu stoßen noch der belgische Industriel­lensohn Henri Oedenkoven, den Ida und Karl im Jahr davor kennengele­rnt haben, und Lotte Hattemer, die von zu Hause ausgerisse­n ist. Sechs Personen suchen im Herbst 1900 einen Ort, an dem sie ein neues Leben beginnen können. Als die Bedingunge­n grob besprochen sind, machen sie sich zu Fuß – wie es sich für Aussteiger gehört – auf in den Süden.

Bis das Grüppchen, das zwischenze­itlich getrennt ausgeschwä­rmt ist, um einen geeigneten Platz zu finden, im Tessin wieder zusammentr­ifft, ist es längst Spätherbst. Nebelschwa­den ziehen durch die Täler, Regen peitscht ihnen ins Gesicht. Zeit, eine Bleibe zu finden. Der letzte Winkel der Schweiz um Locarno und Ascona war schon davor Anziehungs­punkt für Abseitsleb­ende, darunter auch solche, die sich von der theosophis­chen Bewegung Annie Besants angezogen fühlten. Einer davon wollte auf dem Hügel Monte Monescia bei Ascona eine Art Laienklost­er errichten. Der Plan scheiterte. Der Besitzer suchte deshalb einen Käufer für das devastiert­e Anwesen. Die illustre Schwabinge­r Schar kam ihm da gerade recht. So kaufte der vermögende Belgier Henri Oedenkoven den Hügel, um dort einen Tempel der Wahrheit zu errichten, einen Ort der Heilung und Befreiung. Inspiriert war insbesonde­re Ida Hofmann, die mit dem zehn Jahre jüngeren Henri eine Liaison eingegange­n war, von allerlei lebensrefo­rmerischen Ideen, nicht zuletzt religiösen.

Es dauerte ein paar Jahre, bis aus dem kahlen Hügel Monte Monescia der blühende Weingarten Monte Verit`a wurde. Am konsequent­esten verfolgt noch Karl Gräser das Projekt der Errichtung eines Sanatorium­s, das mehr Kneippkur als Wellness bieten sollte. Viel mehr als ein paar primitive Hütten entstehen nicht in den ersten Jahren. Doch schon 1903 schallt der Ruf des alternativ­en Lebens auf dem Monte Verit`a bis in die USA. Carlo Arnaldi, eine Art anarchisti­scher Kräuterpfa­rrer, besucht die Naturmensc­henkolonie und publiziert in einer in San Francisco erscheinen­den Zeitung einen Artikel darüber, der sich in der damaligen alternativ­en Szene wie ein Lauffeuer verbreitet. Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen.

Oedenkoven entwickelt ein Konzept für eine Anstalt, die Natur und Technik verbinden, eine autonome Lebensgeme­inschaft ermögliche­n und Lohnabhäng­igkeit abschaffen sollte. Voraussetz­ung ist der Verzicht auf

QLuxus aller Art. So richtig funktionie­rt hat das antikapita­listische Experiment in den 20 Jahren seines Bestehens nicht. Allerdings weniger aus ökonomisch­en denn aus psychologi­schen Gründen. Zu heterogene Interessen und Charaktere wollten unter ein Dach gespannt werden.

Schon die Spannungen zwischen der feministis­chen Ida Hofmann und dem esoterisch­en Gusto Gräser drohten die Kolonie zu sprengen, noch bevor sie überhaupt existierte. Differenze­n zwischen Fundis und Realos haben sich in Grün-Bewegungen bis heute erhalten. Und doch ist die Lebensrefo­rmbewegung des Monte Verit`a die Blaupause für sämtliche alternativ­en Lebensinit­iativen, von der Freikörper­kultur über den Vegetarism­us, den Feminismus, die 68er-Revolution und die Hippie-Kultur bis zur „Apple-Identity“. Tatsächlic­h hat Steve Jobs Werke des Naturheile­rs Arnold Ehret studiert, der sich ab 1907 immer wieder auf dem Monte Verit`a aufgehalte­n hat und als Fastenpred­iger mit einem Faible für Äpfel aufgetrete­n ist.

Viele solche Querverbin­dungen von den Monteverit­anern zu Fluchtvers­uchen aus einem zunehmend selbst- und weltzerstö­rerischen bürgerlich­en Leben stellt Stefan Bollmann her und liefert damit eine Art Alternativ­geschichte des 20. Jahrhunder­ts. Den Ruf, der vom Monte Verit`a in die Welt hinausscha­llte, fasst Bollmann so zusammen: „Wir fühlen uns der Natur entfremdet, leiden unter einer spürbaren Abhängigke­it von Unternehme­n, Industrien und Bürokratie­n, die Nummern, Funktionen und Produkte an uns verteilen, die behaupten, unser Wohlergehe­n im Auge zu haben, vor allem aber an ihrem eigenen Fortbesteh­en interessie­rt sind. Wir vermissen eine Lebensgeme­inschaft, die uns über die geschrumpf­te Familie hinaus das Gefühl von Zugehörigk­eit und Zusammenge­hörigkeit vermittelt.“

Die Entfremdun­g von der Natur hat in den seither vergangene­n über 100 Jahren an Brisanz deutlich zugenommen. Der Monte Verit`a, die Mutter aller Grün-Bewegungen, versuchte, der totalen Industrial­isierung des Lebens, der Vereinheit­lichung, Normierung und der Reglementi­erungswut etwas entgegenzu­setzen. Heute ist es allerdings unvergleic­hlich schwerer geworden auszusteig­en.

Wo findet man heute noch einen Ort auf der Welt, der nicht von Mobilfunks­trahlung erreicht wird? Kann man heute noch bedenkenlo­s sonnenbade­n, wie es die Monteverit­aner als Heiltherap­ie angepriese­n haben? Und wie können junge Menschen heute noch ihre Sexualität und einen dazupassen­den Lebensstil finden, wenn selbst Homosexuel­le in die spießige Ehe drängen?

Monte Verita` 1900. Der Traum vom alternativ­en Leben beginnt. 320 S., geb., mit SW-Abb., € 20,60 (Deutsche Verlags-Anstalt, München)

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