Wenn Vorurteile bestätigt werden
Die FPÖ hat ein Problem mit den Burschenschaften. Und die Burschenschaften haben ein Problem mit sich selbst. Nach wie vor.
D ie Alten Herren aus der FPÖ, die habituell noch aus der früheren Honoratiorenpartei herüberreichen, pfleg(t)en regelmäßig den Kopf zu schütteln und dies ins Reich der Legenden zu verweisen, wenn davon die Rede war, dass es auf den Buden der Burschenschaften Anklänge an die NS-Zeit, von Verherrlichungen gar nicht zu reden, gebe.
Das sei auszuschließen, hieß es dann, so etwas gebe es nicht, das entspringe lediglich der Fantasie der Linken, man fühle sich der Freiheit und der Demokratie verpflichtet, den Werten der bürgerlichen Revolution von 1848.
Doch wie es mit Klischees und Vorurteilen oft so ist – nicht selten treffen sie auch zu. Und möglicherweise ist das, was nun über die Burschenschaft Germania zu Wiener Neustadt publik wurde, auch nur die Spitze eines Eisbergs. Denn die im Dunklen sieht man bekanntlich nicht. Licht fällt da nur hinein, wenn jemand aus dem Inneren erzählt – oder eben ein Buch mit Liedtexten weitergibt. Was in Wahlkampfzeiten anscheinend auch leichter möglich ist.
Der niederösterreichische FPÖ-Chef Udo Landbauer, immerhin stellvertretender Obmann der Burschenschaft Germania, beteuert, von den jenseitigen Liedtexten („Da trat in ihre Mitte der Jude Ben Gurion: Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million“) nichts gewusst zu haben. Die FPÖ-Führung ihrerseits beteuert, solche widerlichen und antisemitischen Texte überhaupt nicht zu goutieren. Vom Gegenteil ist auch keiner ausgegangen. E s ist wie mit der freiheitlichen Annäherung an Israel. Der FPÖ-Parteiführung nimmt man dies ja noch ab – auch wenn neben der neuentdeckten philosemitischen Linie auch der gemeinsame Gegner, der (politische) Islam, eine wesentliche Rolle spielt. Was die Anhänger auf den unteren Ebenen betrifft, hat man aber seine Zweifel, ob das auch alle innerlich nachvollziehen.
So sehr sich Heinz-Christian Strache um Normalität und Respektabilität bemüht, man braucht anscheinend nach wie vor nur ein wenig an der glänzenden Oberfläche zu kratzen, und immer wieder kommen darunter unschöne, mitunter braune Stellen hervor. Das heißt jetzt nicht, dass das allesamt Nazis im Sinne der Ideologie der Dreißigerjahre sind, die die NS-Diktatur wiedererrichten wollen – aber vielen fehlt einfach die Sensibilität, die Distanz, die Abscheu. Am Wissen wird es wohl nicht mangeln. Wobei das auch nicht nur – siehe „AGLeaks“– auf das freiheitliche Milieu beschränkt ist.
Es wäre jedenfalls hoch an der Zeit – und vielleicht ist das nun auch die passende Gelegenheit, um nicht zu sagen, die letzte Chance –, dass auch die Burschenschaften umzudenken beginnen und sich des braunen Bodensatzes in ihren Verbindungen bewusst werden. Diesen gibt es offensichtlich. Die Frage ist nur, wie groß er ist.
Er wird auch von Verbindung zu Verbindung unterschiedlich sein. In manchen wird er gar nicht vorhanden sein – vor Jahren gab es einmal das Projekt des Generalsekretärs der Israelitischen Kultusgemeinde, Raimund Fastenbauer, mit diesen in Kontakt zu treten. In manchen im Übermaß.
Jenseitige Liedtexte sind dort nichts Neues. Bei einem „nationalen Liederabend“auf der Bude der Burschenschaft Olympia trat vor einigen Jahren der deutsche Neonazi Michael Müller, berühmt-berüchtigt für seine Udo-JürgensCoverversion „Bei sechs Millionen Juden, da fängt der Spaß erst an (. . .), bei sechs Millionen Juden, ist noch lange nicht Schluss“auf. W ieso man im Jahre 2018 überhaupt noch Mitglied in einer deutschnationalen Studentenverbindung sein muss, ist ohnehin eine Frage für sich. Diesen Anachronismus wird aber jeder mit sich selber ausmachen müssen.
Offensichtlich gibt es ein Bedürfnis dafür. Damit die Verteidigungslinie, man halte nur die Werte von 1848 hoch, jedoch verfängt, sollten die Burschenschaften endlich ihre eigenen Buden auskehren. Und zwar bis in die letzten Winkel.
Spätestens seit dem Anfang 2016 geschlossenen Flüchtlingsdeal mit der Türkei stehen die Sicherung der Außengrenzen und das Stoppen der Menschenschmuggler noch vor dem Erreichen der europäischen Küsten ganz oben auf der Agenda der EU. Doch lässt sich die nach wie vor offene „Mittelmeerroute“von Libyen nach Italien überhaupt schließen, wie das unter anderem von Österreichs Bundeskanzler, Sebastian Kurz, in regelmäßigen Abständen gefordert wird? Eine neue Studie, die am Institut für Kriminologie der Universität Cambridge erstellt worden ist und der „Presse“vorliegt, weckt Zweifel daran, dass sich die Südgrenze der EU wirksam abdichten ließe.
Der Grund? Die Grenzschützer sind nicht nur mit krimineller Energie konfrontiert, sondern vor allem mit der unternehmerischen Kreativität der freien Marktwirtschaft. Denn ihre Widersacher sind keine straff organisierten Mafiosi mit fixen Strukturen, die sich infiltrieren und zerstören lassen, sondern eine Vielzahl krimineller Kleinund Kleinstunternehmer, die auf dem Schleppermarkt um ihre Kundschaft buhlen.
Als Forschungsmaterial diente Studienautor Paolo Campana das Ergebnis einer 18-monatigen Untersuchung im Zuge der Katastrophe von Lampedusa, bei der im Oktober 2013 ein mit Flüchtlingen und Migranten aus Somalia und Eritrea beladener Kutter vor der Küste der süditalienischen Insel gesunken war – 366 Menschen kamen bei dem Unglück ums Leben. Als Reaktion intensivierten die Europäer (zunächst Italien im Alleingang, dann die gesamte EU) ihre Bemühungen, die Boote der Menschenschmuggler auf hoher See abzufangen.
Auf Basis der Suche der italienischen Behörden nach den Drahtziehern des Lampedusa-Unglücks erstellte der Kriminologe eine Netzwerkanalyse, um die Aktivitäten der Menschenschmuggler nachvollziehbar zu machen. Fazit des Verfassers: Maßnahmen gegen einzelne Schlepper bringen wenig, denn deren Marktanteil wird sofort unter den anderen „Kleinbetrieben“aufgeteilt. Campana stellte fest, dass die Schmugglerroute von Afrika über Libyen bis nach Europa in mehrere „Märkte“aufgeteilt ist, auf denen unzählige autonome und unabhängige Menschenschmuggler aktiv sind. „Mit mafiaähnlichen Organisationen hat das alles denkbar wenig zu tun“, so der Studienautor. Kurioses Detail am Rande: Campanas Nachforschungen zufolge war die sizilianische Mafia (zumindest bis zum Zeitpunkt des Lampedusa-Unglücks) nicht in die Schlepperaktivitäten involviert, obwohl Sizilien und Lampedusa zu ihrer Einflusssphäre zählen.
Konkurrenten und Geschäftspartner
Gerald Tatzgern, der am Bundeskriminalamt (BK) die Zentralstelle zur Bekämpfung der Schlepperkriminalität leitet, bestätigt im Gespräch mit der „Presse“den zentralen Studienbefund: Auch die österreichischen Schmugglerjäger hätten es hauptsächlich mit „kleinen, firmenähnlichen Zellen“zu tun, die einerseits miteinander konkurrieren, sich aber auch in Zeiten der „Flüchtlings-Hochkonjunktur“und maximaler Auslastung gegenseitig Aufträge zuschanzen. Allein in Griechenland hätten die Ermittler rund 200 geschäftsähnliche Strukturen mit jeweils bis zu drei „Beschäftigten“ausfindig gemacht, die die Weiterfahrt ihrer Kunden über den Westbalkan Richtung EU abwickeln würden. Laut Tatzgern sei Deutschland nach wie vor das beliebteste Zielland der Neuankömmlinge – und Österreich zwar als Destination attraktiv, aber nicht so sehr wie Deutschland. Auf dem Weg in die gelobte Bundesrepublik werden demnach zusehends Ausweichrouten nachgefragt – etwa über Polen.
Wie werben die Schlepper-KMU um die Kundschaft, wenn sie es wegen der Illegalität ihrer Geschäftstätigkeit gar nicht dürfen? Mittels in sozialen Netzwerken zur Schau gestellter Reputation als solider und ehrlicher Organisator der Überfahrt nach Europa. Zur informellen Imagepflege zählt auch die teilweise Rückzahlung des Honorars an die Familien von tödlich verunglückten Kunden – wie das beispielsweise bei den Hinterbliebenen der Opfer von Lampedusa der Fall war.
Studienautor Campano zieht aus seinen Nachforschungen zwei Schlüsse. Erstens: Rufschädigende Maßnahmen seitens der europäischen Behörden seien ein probates Mittel, um den Schleppern ihr Geschäftsmodell zu vermiesen und potenzielle Kunden von der Überfahrt nach Norden abzuhalten. Und zweitens: Sind die Schlepperboote erst einmal auf hoher See, sei es schwierig, der Lage Herr zu werden, denn die marktwirtschaftliche Konkurrenz sporne die Schmuggler zu Höchstleistungen an. Daher sei es besser, es erst gar nicht so weit kommen zu lassen.
Nachfrage schafft Angebot
BK-Experte Tatzgern pflichtet bei: Die EU müsse sich in den Herkunftsländern der Migranten „intelligent“engagieren, gleichzeitig aber ein „Ventil“Richtung Europa bereitstellen, um den Migrationsdruck wie bei einem Hochwasser die Fluten „in geordnete Bahnen lenken“und so den Kriminellen das Handwerk legen zu können.
Cambridge-Kriminologe Campana ortet das grundsätzliche Dilemma darin, dass der Schmuggelmarkt „stark nachfragegetrieben“sei. Mit rein angebotsseitigen Maßnahmen – also bloß der Bekämpfung der Schlepper – könne man dem Problem nicht beikommen, weil die Nachfrage weiterhin bestehen bleibt und dadurch (wie in Wirtschaftslehrbüchern hinreichend beschrieben) ein neues Angebot schafft. Sein Fazit: „Maßnahmen wie die Umverteilung von Flüchtlingen mögen zwar politisch schwer umzusetzen sein, dürften aber auf längere Sicht erfolgreicher bei der Bekämpfung der Schlepperkriminalität sein als Einsätze auf hoher See.“
Wo werden Asylwerber untergebracht? An der Peripherie in Massenunterkünften, in kleinen Einrichtungen im Stadtzentrum, in Privatwohnungen? Sollen sie Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten? Welche Tätigkeiten dürfen sie ausführen? Wie fördert der Staat die Integration von bereits anerkannten Flüchtlingen? Kaum ein Thema hat in den vergangenen Jahren EU-weit so polarisiert wie die Aufnahme von Flüchtlingen.
Ein Forscher-Team der Stanford Universität und der ETH Zürich hat sich dieser Fragen angenommen. Die Wissenschafter haben einen Algorithmus entwickelt, der die Arbeitsmarktchancen von Flüchtlingen erhöhen und ihre langfristige Integration sichern soll. Dazu analysierten die Forscher Daten aus den Vereinigten Staaten und der Schweiz. Für die USA nutzten sie Informationen über 30.000 Flüchtlinge im erwerbs- fähigen Alter, die zwischen 2011 und 2016 über Resettlement-Programme in das Land gekommen waren. Für die Schweiz verwendeten sie Daten von mehr als 22.000 Asylwerbern, die zwischen 1999 und 2013 subsidiären Schutz erhalten hatten – in dieser Zeit die größte Gruppe von Asylwerbern.
Das Prinzip: Das Programm zieht zuerst Ausbildung, Alter, Herkunft, Geschlecht und Sprachkenntnisse in Betracht. Danach sucht es die Regionen, in denen die Nachfrage nach Arbeitskräften mit genau diesen Qualifikationen hoch ist. Der Algorithmus lernt selbstständig, welche Merkmalskombinationen der Flüchtlinge am besten zu welchen Unterkünften passen. Ein Beispiel: Zwei gleichaltrige Afghanen mit dem gleichen Bildungshintergrund werden in ihrem neuen Heimatland zwei unterschiedlichen Orten zugewiesen. Das nächste Mal, wenn ein Flüchtling mit ähnlichen Qualifikationen einreist, entscheidet das Programm auf- grund ihrer Erfahrungen und entsendet ihn in die passendere Region – etwa, wenn er Französisch spricht, in den französischen Teil der Schweiz.
Mit dem digitalen Entscheidungsmechanismus steige die Wahrscheinlichkeit, dass ein Flüchtling in den USA Arbeit finde, um 41 Prozent. Für die Schweiz liege dieser Wert bei 73 Prozent, sagen die Forscher. Mit dem Asylalgorithmus finde jeder vierte statt nur jeder zehnte subsidiär Schutzberechtigte in der Schweiz innerhalb von drei Jahren einen Job, heißt es in der Studie.
„Flüchtlinge finden eher eine Arbeit, sie lernen die Sprache schneller, sie integrieren sich schneller in die Gesellschaft, und sie nehmen weniger Gesundheitsleistungen in Anspruch“, sagte Jens Hainmüller, einer der Verfasser der Studie, der BBC. So könne der Staat dutzende Millionen Euro einsparen. Der Algorithmus kann von den Behörden je nach Anforderungen angepasst werden und etwa auch Bundesländerquoten berücksichtigen. Doch noch relativieren die Wissenschaftler: Das Computerprogramm müsse erst an der Realität getestet werden. Die künstliche Intelligenz soll die Asylbeamten nicht ersetzen, sondern eine Ergänzung sein.
Modell auch für Österreich?
Der Einsatz von Algorithmen ist heikel: Die Entscheidungsprozesse, die ihnen zu Grunde liegen, sind nicht genau nachvollziehbar. Im Kern empfinden die Programme menschliches Verhalten nach – auch diskriminierendes. So verstärken Algorithmen die Benachteiligung von Bewerbern durch menschliche Arbeitgeber. Forscher fanden heraus, dass US-Arbeitgeber bevorzugt Bewerber mit inländisch klingenden Namen anstellten. Algorithmen schlossen daraus, dass die Ablehnung von Jobinteressenten mit „ausländischen“Namen eine „gute“Entscheidung sei.
Die Schweizer Regierung erachtet den Asyl-Algorithmus dennoch als vielversprechend. Man wolle das Modell prüfen. So wie in der Schweiz werden Asylwerber, für deren Überprüfung sich der Staat zuständig erklärt, in Österreich eher willkürlich verteilt. Erstens werden sie gemäß einer Quote, basierend auf der Bevölkerungszahl, in die Bundesländer entsandt. Zweitens entscheiden familiäre Gegebenheiten. Beschäftigungschancen sind kein Kriterium. Vollen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten Asylwerber erst nach einem positiven Bescheid.
Und: Selbst wenn die Menschen während des Verfahrens in den Bundesländern wohnen – viele zieht es nach der Anerkennung des Flüchtlingsstatus nach Wien. Eine Einschätzung, ob der Algorithmus auch für Österreich sinnvoll wäre, wollten auf Anfrage der „Presse“weder Sozial- noch Innenministerium geben.