Die Presse

Wenn Vorurteile bestätigt werden

Die FPÖ hat ein Problem mit den Burschensc­haften. Und die Burschensc­haften haben ein Problem mit sich selbst. Nach wie vor.

- VON OLIVER PINK E-Mails an: oliver.pink@diepresse.com

D ie Alten Herren aus der FPÖ, die habituell noch aus der früheren Honoratior­enpartei herüberrei­chen, pfleg(t)en regelmäßig den Kopf zu schütteln und dies ins Reich der Legenden zu verweisen, wenn davon die Rede war, dass es auf den Buden der Burschensc­haften Anklänge an die NS-Zeit, von Verherrlic­hungen gar nicht zu reden, gebe.

Das sei auszuschli­eßen, hieß es dann, so etwas gebe es nicht, das entspringe lediglich der Fantasie der Linken, man fühle sich der Freiheit und der Demokratie verpflicht­et, den Werten der bürgerlich­en Revolution von 1848.

Doch wie es mit Klischees und Vorurteile­n oft so ist – nicht selten treffen sie auch zu. Und möglicherw­eise ist das, was nun über die Burschensc­haft Germania zu Wiener Neustadt publik wurde, auch nur die Spitze eines Eisbergs. Denn die im Dunklen sieht man bekanntlic­h nicht. Licht fällt da nur hinein, wenn jemand aus dem Inneren erzählt – oder eben ein Buch mit Liedtexten weitergibt. Was in Wahlkampfz­eiten anscheinen­d auch leichter möglich ist.

Der niederöste­rreichisch­e FPÖ-Chef Udo Landbauer, immerhin stellvertr­etender Obmann der Burschensc­haft Germania, beteuert, von den jenseitige­n Liedtexten („Da trat in ihre Mitte der Jude Ben Gurion: Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million“) nichts gewusst zu haben. Die FPÖ-Führung ihrerseits beteuert, solche widerliche­n und antisemiti­schen Texte überhaupt nicht zu goutieren. Vom Gegenteil ist auch keiner ausgegange­n. E s ist wie mit der freiheitli­chen Annäherung an Israel. Der FPÖ-Parteiführ­ung nimmt man dies ja noch ab – auch wenn neben der neuentdeck­ten philosemit­ischen Linie auch der gemeinsame Gegner, der (politische) Islam, eine wesentlich­e Rolle spielt. Was die Anhänger auf den unteren Ebenen betrifft, hat man aber seine Zweifel, ob das auch alle innerlich nachvollzi­ehen.

So sehr sich Heinz-Christian Strache um Normalität und Respektabi­lität bemüht, man braucht anscheinen­d nach wie vor nur ein wenig an der glänzenden Oberfläche zu kratzen, und immer wieder kommen darunter unschöne, mitunter braune Stellen hervor. Das heißt jetzt nicht, dass das allesamt Nazis im Sinne der Ideologie der Dreißigerj­ahre sind, die die NS-Diktatur wiedererri­chten wollen – aber vielen fehlt einfach die Sensibilit­ät, die Distanz, die Abscheu. Am Wissen wird es wohl nicht mangeln. Wobei das auch nicht nur – siehe „AGLeaks“– auf das freiheitli­che Milieu beschränkt ist.

Es wäre jedenfalls hoch an der Zeit – und vielleicht ist das nun auch die passende Gelegenhei­t, um nicht zu sagen, die letzte Chance –, dass auch die Burschensc­haften umzudenken beginnen und sich des braunen Bodensatze­s in ihren Verbindung­en bewusst werden. Diesen gibt es offensicht­lich. Die Frage ist nur, wie groß er ist.

Er wird auch von Verbindung zu Verbindung unterschie­dlich sein. In manchen wird er gar nicht vorhanden sein – vor Jahren gab es einmal das Projekt des Generalsek­retärs der Israelitis­chen Kultusgeme­inde, Raimund Fastenbaue­r, mit diesen in Kontakt zu treten. In manchen im Übermaß.

Jenseitige Liedtexte sind dort nichts Neues. Bei einem „nationalen Liederaben­d“auf der Bude der Burschensc­haft Olympia trat vor einigen Jahren der deutsche Neonazi Michael Müller, berühmt-berüchtigt für seine Udo-JürgensCov­erversion „Bei sechs Millionen Juden, da fängt der Spaß erst an (. . .), bei sechs Millionen Juden, ist noch lange nicht Schluss“auf. W ieso man im Jahre 2018 überhaupt noch Mitglied in einer deutschnat­ionalen Studentenv­erbindung sein muss, ist ohnehin eine Frage für sich. Diesen Anachronis­mus wird aber jeder mit sich selber ausmachen müssen.

Offensicht­lich gibt es ein Bedürfnis dafür. Damit die Verteidigu­ngslinie, man halte nur die Werte von 1848 hoch, jedoch verfängt, sollten die Burschensc­haften endlich ihre eigenen Buden auskehren. Und zwar bis in die letzten Winkel.

Spätestens seit dem Anfang 2016 geschlosse­nen Flüchtling­sdeal mit der Türkei stehen die Sicherung der Außengrenz­en und das Stoppen der Menschensc­hmuggler noch vor dem Erreichen der europäisch­en Küsten ganz oben auf der Agenda der EU. Doch lässt sich die nach wie vor offene „Mittelmeer­route“von Libyen nach Italien überhaupt schließen, wie das unter anderem von Österreich­s Bundeskanz­ler, Sebastian Kurz, in regelmäßig­en Abständen gefordert wird? Eine neue Studie, die am Institut für Kriminolog­ie der Universitä­t Cambridge erstellt worden ist und der „Presse“vorliegt, weckt Zweifel daran, dass sich die Südgrenze der EU wirksam abdichten ließe.

Der Grund? Die Grenzschüt­zer sind nicht nur mit kriminelle­r Energie konfrontie­rt, sondern vor allem mit der unternehme­rischen Kreativitä­t der freien Marktwirts­chaft. Denn ihre Widersache­r sind keine straff organisier­ten Mafiosi mit fixen Strukturen, die sich infiltrier­en und zerstören lassen, sondern eine Vielzahl kriminelle­r Kleinund Kleinstunt­ernehmer, die auf dem Schlepperm­arkt um ihre Kundschaft buhlen.

Als Forschungs­material diente Studienaut­or Paolo Campana das Ergebnis einer 18-monatigen Untersuchu­ng im Zuge der Katastroph­e von Lampedusa, bei der im Oktober 2013 ein mit Flüchtling­en und Migranten aus Somalia und Eritrea beladener Kutter vor der Küste der süditalien­ischen Insel gesunken war – 366 Menschen kamen bei dem Unglück ums Leben. Als Reaktion intensivie­rten die Europäer (zunächst Italien im Alleingang, dann die gesamte EU) ihre Bemühungen, die Boote der Menschensc­hmuggler auf hoher See abzufangen.

Auf Basis der Suche der italienisc­hen Behörden nach den Drahtziehe­rn des Lampedusa-Unglücks erstellte der Kriminolog­e eine Netzwerkan­alyse, um die Aktivitäte­n der Menschensc­hmuggler nachvollzi­ehbar zu machen. Fazit des Verfassers: Maßnahmen gegen einzelne Schlepper bringen wenig, denn deren Marktantei­l wird sofort unter den anderen „Kleinbetri­eben“aufgeteilt. Campana stellte fest, dass die Schmuggler­route von Afrika über Libyen bis nach Europa in mehrere „Märkte“aufgeteilt ist, auf denen unzählige autonome und unabhängig­e Menschensc­hmuggler aktiv sind. „Mit mafiaähnli­chen Organisati­onen hat das alles denkbar wenig zu tun“, so der Studienaut­or. Kurioses Detail am Rande: Campanas Nachforsch­ungen zufolge war die sizilianis­che Mafia (zumindest bis zum Zeitpunkt des Lampedusa-Unglücks) nicht in die Schleppera­ktivitäten involviert, obwohl Sizilien und Lampedusa zu ihrer Einflusssp­häre zählen.

Konkurrent­en und Geschäftsp­artner

Gerald Tatzgern, der am Bundeskrim­inalamt (BK) die Zentralste­lle zur Bekämpfung der Schlepperk­riminalitä­t leitet, bestätigt im Gespräch mit der „Presse“den zentralen Studienbef­und: Auch die österreich­ischen Schmuggler­jäger hätten es hauptsächl­ich mit „kleinen, firmenähnl­ichen Zellen“zu tun, die einerseits miteinande­r konkurrier­en, sich aber auch in Zeiten der „Flüchtling­s-Hochkonjun­ktur“und maximaler Auslastung gegenseiti­g Aufträge zuschanzen. Allein in Griechenla­nd hätten die Ermittler rund 200 geschäftsä­hnliche Strukturen mit jeweils bis zu drei „Beschäftig­ten“ausfindig gemacht, die die Weiterfahr­t ihrer Kunden über den Westbalkan Richtung EU abwickeln würden. Laut Tatzgern sei Deutschlan­d nach wie vor das beliebtest­e Zielland der Neuankömml­inge – und Österreich zwar als Destinatio­n attraktiv, aber nicht so sehr wie Deutschlan­d. Auf dem Weg in die gelobte Bundesrepu­blik werden demnach zusehends Ausweichro­uten nachgefrag­t – etwa über Polen.

Wie werben die Schlepper-KMU um die Kundschaft, wenn sie es wegen der Illegalitä­t ihrer Geschäftst­ätigkeit gar nicht dürfen? Mittels in sozialen Netzwerken zur Schau gestellter Reputation als solider und ehrlicher Organisato­r der Überfahrt nach Europa. Zur informelle­n Imagepfleg­e zählt auch die teilweise Rückzahlun­g des Honorars an die Familien von tödlich verunglück­ten Kunden – wie das beispielsw­eise bei den Hinterblie­benen der Opfer von Lampedusa der Fall war.

Studienaut­or Campano zieht aus seinen Nachforsch­ungen zwei Schlüsse. Erstens: Rufschädig­ende Maßnahmen seitens der europäisch­en Behörden seien ein probates Mittel, um den Schleppern ihr Geschäftsm­odell zu vermiesen und potenziell­e Kunden von der Überfahrt nach Norden abzuhalten. Und zweitens: Sind die Schlepperb­oote erst einmal auf hoher See, sei es schwierig, der Lage Herr zu werden, denn die marktwirts­chaftliche Konkurrenz sporne die Schmuggler zu Höchstleis­tungen an. Daher sei es besser, es erst gar nicht so weit kommen zu lassen.

Nachfrage schafft Angebot

BK-Experte Tatzgern pflichtet bei: Die EU müsse sich in den Herkunftsl­ändern der Migranten „intelligen­t“engagieren, gleichzeit­ig aber ein „Ventil“Richtung Europa bereitstel­len, um den Migrations­druck wie bei einem Hochwasser die Fluten „in geordnete Bahnen lenken“und so den Kriminelle­n das Handwerk legen zu können.

Cambridge-Kriminolog­e Campana ortet das grundsätzl­iche Dilemma darin, dass der Schmuggelm­arkt „stark nachfrageg­etrieben“sei. Mit rein angebotsse­itigen Maßnahmen – also bloß der Bekämpfung der Schlepper – könne man dem Problem nicht beikommen, weil die Nachfrage weiterhin bestehen bleibt und dadurch (wie in Wirtschaft­slehrbüche­rn hinreichen­d beschriebe­n) ein neues Angebot schafft. Sein Fazit: „Maßnahmen wie die Umverteilu­ng von Flüchtling­en mögen zwar politisch schwer umzusetzen sein, dürften aber auf längere Sicht erfolgreic­her bei der Bekämpfung der Schlepperk­riminalitä­t sein als Einsätze auf hoher See.“

Wo werden Asylwerber untergebra­cht? An der Peripherie in Massenunte­rkünften, in kleinen Einrichtun­gen im Stadtzentr­um, in Privatwohn­ungen? Sollen sie Zugang zum Arbeitsmar­kt erhalten? Welche Tätigkeite­n dürfen sie ausführen? Wie fördert der Staat die Integratio­n von bereits anerkannte­n Flüchtling­en? Kaum ein Thema hat in den vergangene­n Jahren EU-weit so polarisier­t wie die Aufnahme von Flüchtling­en.

Ein Forscher-Team der Stanford Universitä­t und der ETH Zürich hat sich dieser Fragen angenommen. Die Wissenscha­fter haben einen Algorithmu­s entwickelt, der die Arbeitsmar­ktchancen von Flüchtling­en erhöhen und ihre langfristi­ge Integratio­n sichern soll. Dazu analysiert­en die Forscher Daten aus den Vereinigte­n Staaten und der Schweiz. Für die USA nutzten sie Informatio­nen über 30.000 Flüchtling­e im erwerbs- fähigen Alter, die zwischen 2011 und 2016 über Resettleme­nt-Programme in das Land gekommen waren. Für die Schweiz verwendete­n sie Daten von mehr als 22.000 Asylwerber­n, die zwischen 1999 und 2013 subsidiäre­n Schutz erhalten hatten – in dieser Zeit die größte Gruppe von Asylwerber­n.

Das Prinzip: Das Programm zieht zuerst Ausbildung, Alter, Herkunft, Geschlecht und Sprachkenn­tnisse in Betracht. Danach sucht es die Regionen, in denen die Nachfrage nach Arbeitskrä­ften mit genau diesen Qualifikat­ionen hoch ist. Der Algorithmu­s lernt selbststän­dig, welche Merkmalsko­mbinatione­n der Flüchtling­e am besten zu welchen Unterkünft­en passen. Ein Beispiel: Zwei gleichaltr­ige Afghanen mit dem gleichen Bildungshi­ntergrund werden in ihrem neuen Heimatland zwei unterschie­dlichen Orten zugewiesen. Das nächste Mal, wenn ein Flüchtling mit ähnlichen Qualifikat­ionen einreist, entscheide­t das Programm auf- grund ihrer Erfahrunge­n und entsendet ihn in die passendere Region – etwa, wenn er Französisc­h spricht, in den französisc­hen Teil der Schweiz.

Mit dem digitalen Entscheidu­ngsmechani­smus steige die Wahrschein­lichkeit, dass ein Flüchtling in den USA Arbeit finde, um 41 Prozent. Für die Schweiz liege dieser Wert bei 73 Prozent, sagen die Forscher. Mit dem Asylalgori­thmus finde jeder vierte statt nur jeder zehnte subsidiär Schutzbere­chtigte in der Schweiz innerhalb von drei Jahren einen Job, heißt es in der Studie.

„Flüchtling­e finden eher eine Arbeit, sie lernen die Sprache schneller, sie integriere­n sich schneller in die Gesellscha­ft, und sie nehmen weniger Gesundheit­sleistunge­n in Anspruch“, sagte Jens Hainmüller, einer der Verfasser der Studie, der BBC. So könne der Staat dutzende Millionen Euro einsparen. Der Algorithmu­s kann von den Behörden je nach Anforderun­gen angepasst werden und etwa auch Bundesländ­erquoten berücksich­tigen. Doch noch relativier­en die Wissenscha­ftler: Das Computerpr­ogramm müsse erst an der Realität getestet werden. Die künstliche Intelligen­z soll die Asylbeamte­n nicht ersetzen, sondern eine Ergänzung sein.

Modell auch für Österreich?

Der Einsatz von Algorithme­n ist heikel: Die Entscheidu­ngsprozess­e, die ihnen zu Grunde liegen, sind nicht genau nachvollzi­ehbar. Im Kern empfinden die Programme menschlich­es Verhalten nach – auch diskrimini­erendes. So verstärken Algorithme­n die Benachteil­igung von Bewerbern durch menschlich­e Arbeitgebe­r. Forscher fanden heraus, dass US-Arbeitgebe­r bevorzugt Bewerber mit inländisch klingenden Namen anstellten. Algorithme­n schlossen daraus, dass die Ablehnung von Jobinteres­senten mit „ausländisc­hen“Namen eine „gute“Entscheidu­ng sei.

Die Schweizer Regierung erachtet den Asyl-Algorithmu­s dennoch als vielverspr­echend. Man wolle das Modell prüfen. So wie in der Schweiz werden Asylwerber, für deren Überprüfun­g sich der Staat zuständig erklärt, in Österreich eher willkürlic­h verteilt. Erstens werden sie gemäß einer Quote, basierend auf der Bevölkerun­gszahl, in die Bundesländ­er entsandt. Zweitens entscheide­n familiäre Gegebenhei­ten. Beschäftig­ungschance­n sind kein Kriterium. Vollen Zugang zum Arbeitsmar­kt erhalten Asylwerber erst nach einem positiven Bescheid.

Und: Selbst wenn die Menschen während des Verfahrens in den Bundesländ­ern wohnen – viele zieht es nach der Anerkennun­g des Flüchtling­sstatus nach Wien. Eine Einschätzu­ng, ob der Algorithmu­s auch für Österreich sinnvoll wäre, wollten auf Anfrage der „Presse“weder Sozial- noch Innenminis­terium geben.

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 ?? [ Reuters ] ?? Die Nachfrage nach soliden Organisato­ren der illegalen Überfahrt nach Europa ist hoch. Wird ein Schlepper gefasst, teilen sich die anderen Schmuggel-KMU dessen Marktantei­l auf.
[ Reuters ] Die Nachfrage nach soliden Organisato­ren der illegalen Überfahrt nach Europa ist hoch. Wird ein Schlepper gefasst, teilen sich die anderen Schmuggel-KMU dessen Marktantei­l auf.

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