„Keine EU-Propaganda“
Interview. Vor dem ersten EU-Bildungsgipfel erklärt Kommissar Navracsics, wie die Schaffung der Union unterrichtet werden soll.
In wenigen politischen Feldern hat die EU weniger Zuständigkeit als in der Bildung, doch in kaum einem anderen Feld erfreuen sich die Ergebnisse ihrer Arbeit so großer Beliebtheit: Erasmus, das drei Jahrzehnte alte Austauschprogramm für Studenten, ist neben der Forschungsförderung das einzige Programm, welches von den unausweichlichen Einsparungen im Unionshaushalt ab dem Jahr 2021 ausgenommen werden dürfte. Und mit der Rede von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an der Sorbonne im vergangenen September wird der Ausblick auf die Schaffung länderübergreifender, europäischer Universitäten bis zum Jahr 2025 greifbar; ein Sorbonne-Prozess soll die gegenseitige Anerkennung von Hochschuldiplomen vereinfachen.
Das sind greifbare Vorteile für die europäische Jugend, auf deren demoskopisch nachweisbare Europafreundlichkeit auch Bildungskommissar Tibor Navracsics setzt. „Umfragen zeigen, dass die jüngeren Generationen stets wesentlich positiver gegenüber der EU eingestellt sind“, sagte der frühere stellvertretende ungarische Regierungschef unter Viktor Orban´ im Gespräch mit der „Presse“.
Heute, Donnerstag, lädt Navracsics zum ersten Bildungsgipfeltreffen nach Brüssel. Die Minister Frankreichs, Spaniens, der Niederlande, Schwedens sowie hunderte Fachleute aus dem Bildungsbereich werden sich dort darüber austauschen, wie sich ein Europäischer Bildungsraum, ähnlich dem Gemeinsamen Binnenmarkt, schaffen lasse, wie man Lehrer in ihrer Arbeit stärkt und benachteiligte Kinder durch Bildung fördert. Österreichs neuer Ressortchef Heinz Faßmann kommt nicht.
Eine der Fragen, mit denen man sich dort befassen wird, ist die Vermittlung europäischer Werte. Das ist ein weites Feld, im Jahr 2015, nach den Pariser Terroranschlägen, entschlossen sich Europas Bildungsminister jedoch, es zu beackern: „Wir sahen diese Terrorattacken junger Menschen, die in Frankreich oder Belgien erzogen wurden, aber offensichtlich nicht dem Wertesystem der europäischen Union angehörten.“Doch was genau sind die „europäischen Werte“? „Die Interpretation der Werte ist von Land zu Land sehr unterschiedlich“, sagt Navracsics. „Aber wir haben in Artikel 2 des Vertrages eine konsensuelle Liste. Wir sind uns einig, dass zum Beispiel die Gewaltentrennung oder freie und faire Wahlen unverzichtbare Elemente eine Demokratie sind.“Navracsics weiß aus eigener Erfahrung, wie dünn das Eis hier sein kann: seine Rolle bei der umstrittenen ungarischen Justizreform hätte ihn fast die Bestellung zum Kommissar gekostet.
Er betonte, wie wichtig ein verstärkter Unterricht über die Europäische Integration sei. 93,2 Prozent der Teilnehmer an einer Umfrage hätten dies im vorigen Jahr bekundet. Doch Navracsics warnt: „Es ist unmöglich ein gemeinsames europäisches Geschichtsbuch zu schreiben. Wir sind keine einheitliche Nation. Und ich will den Bürgern kein einheitliches Lehrbuch verschreiben. Aber wir können die Schulbücher über die Integration einander annähern. Das ist keine Indoktrination, keine Propaganda für die EU.“Der Ball liege bei den Regierungen: „Sie sind Herren der Umsetzung, es gilt volle Subsidiarität. Aber wenn wir ernsthaft über die Zukunft der EU reden wollen, brauchen wir einen wissenschaftlichen gemeinsamen Ausgangspunkt dafür.“