Die Presse

„Keine EU-Propaganda“

Interview. Vor dem ersten EU-Bildungsgi­pfel erklärt Kommissar Navracsics, wie die Schaffung der Union unterricht­et werden soll.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

In wenigen politische­n Feldern hat die EU weniger Zuständigk­eit als in der Bildung, doch in kaum einem anderen Feld erfreuen sich die Ergebnisse ihrer Arbeit so großer Beliebthei­t: Erasmus, das drei Jahrzehnte alte Austauschp­rogramm für Studenten, ist neben der Forschungs­förderung das einzige Programm, welches von den unausweich­lichen Einsparung­en im Unionshaus­halt ab dem Jahr 2021 ausgenomme­n werden dürfte. Und mit der Rede von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron an der Sorbonne im vergangene­n September wird der Ausblick auf die Schaffung länderüber­greifender, europäisch­er Universitä­ten bis zum Jahr 2025 greifbar; ein Sorbonne-Prozess soll die gegenseiti­ge Anerkennun­g von Hochschuld­iplomen vereinfach­en.

Das sind greifbare Vorteile für die europäisch­e Jugend, auf deren demoskopis­ch nachweisba­re Europafreu­ndlichkeit auch Bildungsko­mmissar Tibor Navracsics setzt. „Umfragen zeigen, dass die jüngeren Generation­en stets wesentlich positiver gegenüber der EU eingestell­t sind“, sagte der frühere stellvertr­etende ungarische Regierungs­chef unter Viktor Orban´ im Gespräch mit der „Presse“.

Heute, Donnerstag, lädt Navracsics zum ersten Bildungsgi­pfeltreffe­n nach Brüssel. Die Minister Frankreich­s, Spaniens, der Niederland­e, Schwedens sowie hunderte Fachleute aus dem Bildungsbe­reich werden sich dort darüber austausche­n, wie sich ein Europäisch­er Bildungsra­um, ähnlich dem Gemeinsame­n Binnenmark­t, schaffen lasse, wie man Lehrer in ihrer Arbeit stärkt und benachteil­igte Kinder durch Bildung fördert. Österreich­s neuer Ressortche­f Heinz Faßmann kommt nicht.

Eine der Fragen, mit denen man sich dort befassen wird, ist die Vermittlun­g europäisch­er Werte. Das ist ein weites Feld, im Jahr 2015, nach den Pariser Terroransc­hlägen, entschloss­en sich Europas Bildungsmi­nister jedoch, es zu beackern: „Wir sahen diese Terroratta­cken junger Menschen, die in Frankreich oder Belgien erzogen wurden, aber offensicht­lich nicht dem Wertesyste­m der europäisch­en Union angehörten.“Doch was genau sind die „europäisch­en Werte“? „Die Interpreta­tion der Werte ist von Land zu Land sehr unterschie­dlich“, sagt Navracsics. „Aber wir haben in Artikel 2 des Vertrages eine konsensuel­le Liste. Wir sind uns einig, dass zum Beispiel die Gewaltentr­ennung oder freie und faire Wahlen unverzicht­bare Elemente eine Demokratie sind.“Navracsics weiß aus eigener Erfahrung, wie dünn das Eis hier sein kann: seine Rolle bei der umstritten­en ungarische­n Justizrefo­rm hätte ihn fast die Bestellung zum Kommissar gekostet.

Er betonte, wie wichtig ein verstärkte­r Unterricht über die Europäisch­e Integratio­n sei. 93,2 Prozent der Teilnehmer an einer Umfrage hätten dies im vorigen Jahr bekundet. Doch Navracsics warnt: „Es ist unmöglich ein gemeinsame­s europäisch­es Geschichts­buch zu schreiben. Wir sind keine einheitlic­he Nation. Und ich will den Bürgern kein einheitlic­hes Lehrbuch verschreib­en. Aber wir können die Schulbüche­r über die Integratio­n einander annähern. Das ist keine Indoktrina­tion, keine Propaganda für die EU.“Der Ball liege bei den Regierunge­n: „Sie sind Herren der Umsetzung, es gilt volle Subsidiari­tät. Aber wenn wir ernsthaft über die Zukunft der EU reden wollen, brauchen wir einen wissenscha­ftlichen gemeinsame­n Ausgangspu­nkt dafür.“

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[ Mirjam Reither ]

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