40 Stunden Zeitgeschehen und das Danach
Gastkommentar. Politische Reformprozesse sind, wie sich immer wieder zeigt, nur mit charismatischen Impulsgebern möglich. Bei seinem jüngsten Besuch in Berlin präsentierte sich Bundeskanzler Sebastian Kurz als ein solcher.
Als er um 12:39 Uhr wieder in Schwechat landete, hatte Österreichs junger Kanzler gute 40 Stunden hinter sich, die wie ein Actionfilm abliefen. Die Szenenfolge lässt sich mosaikartig rekonstruieren.
Tags zuvor früh aus den Federn, dann Abflug nach Berlin. In der Maschine gedankliches Einstimmen auf das Zusammentreffen mit der deutschen Regierungschefin. Nach dem Abschreiten der Ehrenkompanie erste Erklärungen. Anschließend das intensive, über den Zeitplan hinaus verlängerte Gespräch mit der Gastgeberin über ein breites Feld von Themen: Österreich nach dem Regierungswechsel zu Türkis-Blau, Europakrise, kommender EU-Ratsvorsitz Wiens, Migration, Obergrenzen, Aufnahmemodalitäten, Umgang mit Trump, Reaktionen auf Putin.
Mediales Minenfeld
Nach dem heiklen Dialog über Einigendes und Trennendes mit Angela Merkel Pressekonferenz, ergo mediales Minenfeld mit Explosionsgefahr. Geduldiges Beantworten von Fragen, Entschärfen von gedanklichen Sprenggranaten, Entkräften des gebetsmühlenartig unterstellten politisch-moralischen Sündenfalls der Koalition mit der FPÖ. In den folgenden Stunden Gespräche, Gespräche, Gespräche. Dazwischen als weiterer Schwerpunkt eine einstündige Befragung durch die deutsche Starmoderatorin Sandra Maischberger vor der ARD-Kamera.
Schließlich Galadiner des Springer-Verlags mit der Garde seiner Chefredakteure. Tags darauf noch ein frühes Interview für das ZDF-Morgenjournal und Höflichkeitsbesuch beim deutschen Bundespräsidenten. Um 11 Uhr sollte der AUA-Flug OS 232 dann von Tegel in Richtung Wien abheben. Erst gegen 13 Uhr war die Maschine infolge des Orkans Friederike tatsächlich in der Luft.
Soweit der technische Ablauf eines Partikels Zeitgeschichte aus der Perspektive des Hauptdarstellers. Von nachhaltiger Bedeutung ist freilich nur die Frage nach der Wirkung, die Österreichs frischgebackener Kanzler auf der Bühne des Weltgeschehens hinterlassen hat. Was die Deutschen von Sebas- tian Kurz in seinen Auftritten zu sehen bekamen, war das Bild eines elegant gekleideten, freundlich und höflich wirkenden jungen Staatsmanns, dem Fragen entgegengeschleudert wurden, die an Härte nichts zu wünschen übrig ließen. Insbesondere das zu später Stunde ausgestrahlte Maischberger-Interview war ein verbaler Spießrutenlauf sondergleichen, in dem die sichtlich erregte Moderatorin alle nur denkbaren Register zog, um den jungen Kanzler in Bedrängnis zu bringen.
Misslungene Demontage
Hervorgezerrt wurden uralte Archivbilder seines Regierungspartners in paramilitärischer Montur, politisch inkorrekte Dummheiten von bedeutungslosen Außenseitern, Vergleiche der FPÖ mit AfD und Front National, und all das garniert mit dem Vokabular pseudodemokratischer Selbstgerechtigkeit und einer Alternativkultur nach dem altrevolutionären Muster der Marke 1968.
Hier ging es nicht um die wertfreie Unterrichtung des Publikums, sondern um die gezielte Demontage eines jungen Staatsmanns, der drauf und dran ist, über die eigenen Landesgrenzen hinaus Aufsehen zu erlangen, indem er seine Absicht spürbar macht, Europa vor der Enteuropäisierung zu bewahren.
Als gesichert gilt indes, dass die Attacke Maischbergers, unterstützt vom grünen Politveteranen Jürgen Trittin, nicht nur ihr Ziel verfehlte, sondern sogar auf die Angreifer zurückschlug. Was das Duo zur Kenntnis nehmen musste, war, dass der zum politischen Untergang bestimmte junge Mann keine Sekunde lang das Gleichgewicht verlor, keiner Antwort auswich und selbst den gröbsten Hieben mit Gelassenheit, Kompetenz und Souveränität begegnete.
Kurz hat die außergewöhnliche Fähigkeit, ohne Lautstärke und fuchtelnde Gestik mit ruhig vorgetragenen Argumenten das Publikum an sich zu ziehen. Er versteht es zu überzeugen, ohne den Verdacht des Überredens zu erwecken, ist Alphatyp ohne Ellbogeneinsatz, Autorität ohne Drohgebärden.
Der Eindruck vom medialen Frevel im ARD-Studio sprang auf das Publikum über und bewirkte spontane Sympathien für Kurz und massive Kritik am Verhalten der Gastgeber. „Maischberger und Trittin zeigen der Welt gerade, wie der hässliche Deutsche aussieht“, und „Österreichs Kanzler hat bessere Gesprächspartner verdient,“hieß es in den Wortmeldungen.
Viele Risse durch Deutschland
Jacques Schuster titelte in der „Welt“als politische Quintessenz: „Die Alternative zu Merkel ist nicht die AfD, sondern Kurz“. Bereits als Außenminister sei es Kurz gelungen, eine von Deutschland abgehobene Politik zu betreiben und Österreich einen Rang zu verleihen, der über der Größe der Al- penrepublik liegt. Inzwischen glänzte auch die neue Außenministerin, Karin Kneissl, durch Kompetenz und fließendes Arabisch auf dem internationalen Parkett. Wir haben also keinen Grund, im großen Geschehen die Köpfe einzuziehen.
Im Übrigen hat der Leitartikel in der „Welt“aus der Vorwoche nach dem knappen Ja der SPD zu Koalitionsverhandlungen mit der Union einen zusätzlichen Aspekt erhalten. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass den Deutschen eine möglicherweise sehr lang anhaltende Instabilität bevorsteht.
Angesichts der vielen Risse, die auch innerhalb der Parteien verlaufen und sich in Flügelkämpfen niederschlagen, befindet sich die europäische Zentralmacht in einem erschreckenden Zustand politischer Lähmung.
Mühselige Kompromisse
Erschwerend kommt hinzu, dass die Lösung der inneren Krise nicht wie hierzulande durch eine fundamentale Neugestaltung der Koalition und die Abkehr von den Fehlern eines brüchig gewordenen Machtsystems, sondern nur durch das Aushandeln mühseliger Kompromisse überwunden werden kann. Was den Deutschen nach Lage der Dinge droht, ist eine Politik wie gehabt mit Politikern wie gehabt. Das ist weder für sie selbst noch für Europa wünschbar.
Politische Reformprozesse sind, wie sich immer wieder zeigt, nur mit charismatischen Impulsgebern möglich. So betrachtet, erhält die von Jacques Schuster diagnostizierte internationale Aufwertung Österreichs zusätzliches Gewicht. Unser Land hat unter diesem Kanzler und seiner Regierung nicht nur die Chance, die stereotypen Vorurteile gegen Türkis-Blau zu entkräften, sondern sich auch als eine innerlich gefestigte Vorbildgesellschaft zu präsentieren, in der sich die Moderne mit einem konservativ-liberalen Ordnungsidealismus nutzbringend verbindet.
Gewiss: Vieles, was Kurz vorhat, ist eine Revision der zerstörerischen 1968er-Ideen. Das ist entgegen dem Denken der links-grünen Boheme allerdings kein Rückschritt, sondern eine unverzichtbare Notwendigkeit zum Schutz eines lebenswerten Europa.