Die Presse

Was vom Tage übrig bleibt

Ich träume davon, dass arbeitende Menschen sich wieder ihres Wertes bewusst werden und nicht alles fraglos hinnehmen. Über den Zusammenha­ng von Gesundheit und Arbeit: Nachrichte­n aus der ärztlichen Praxis.

- Von Martina Wittels

Über den Zusammenha­ng von Gesundheit und Arbeit: Nachrichte­n aus der ärztlichen Praxis.

Sie ist Milchprüfe­rin. Sie fährt zu den ihr zugeteilte­n Bauern, um die Milch auf ihre Qualität zu überprüfen. Wenn ein Bauer mit seiner Melkarbeit noch nicht fertig ist, verlangt er: „Komm später wieder!“Sie arbeitet morgens und abends, dazwischen vergeht viel leere Zeit, so geht sie nach Hause und wartet, bis sie ihre Arbeit beenden kann. Sie ist mager und sehnig, früher hatte sie noch Kraft, nun wirkt sie verhärmt und klagt über Schmerzen vom Heben und Tragen der Prüfgeräte. Das Haus, das sie vor langer Zeit mit ihrem Mann gebaut hat, versucht sie für ihre erwachsene­n Kinder zu halten. Die anfallende­n Reparature­n kann sie von ihrem Lohn, etwa 700 Euro im Monat, nicht zahlen. Ihre Kinder sollen mit ihr im Haus leben und sich an den Kosten beteiligen. Das Haus liegt schön, ländlich, viel Natur. Sonst nichts. Der Mann – weiß Gott, wo der ist.

Sie ist Reinigungs­frau. Sie ist rund, klein und lacht viel. Ihre Chefin hält große Stücke auf sie, weil sie flink, fleißig und fröhlich ist. Wann immer sich Arbeit anstaut, sie schafft sie weg. Sie lacht, weil das harte Leben mit Humor besser zu ertragen ist. Abends, wenn sie heimkommt, weint sie lange, bevor sie einschläft, und weiß nicht warum. Sie merkt einen Druck auf der Brust, der sich über den Tag steigert und sich bessert, wenn sie weint. Am Morgen kommt sie lachend wieder zur Arbeit. Die Chefin sagt: „Du bist die Beste!“Sie weiß, dass sie recht hat. In der letzten Zeit ist sie manchmal so müde, dass sie es morgens nur mit Anstrengun­g aus dem Bett schafft. Sie kommt trotzdem und ist schneller, genauer und freundlich­er als die anderen. Deutsch hat sie beim Putzen und in der Fabrik gelernt, auf der Straße und von den wenigen Freunden, die sie so nennen kann. Aber glücklich und traurig zugleich wird sie, wenn sie Kroatisch spricht. Dann muss sie abends weniger weinen, weil dieses Reden auch den Druck auf der Brust lindert. Die Freunde haben ihr kürzlich geraten, nicht mehr so viel zu arbeiten, sich auszuruhen und nicht alles fraglos hinzunehme­n. Eines Tages hat sie ihren Mut zusammenge­nommen und hat eine zusätzlich­e Aufgabe der Chefin abgelehnt. Daraufhin hat diese mit ihr geschimpft und sich für Tage von ihr abgewandt.

Er ist beim Straßendie­nst. Er ist groß wie ein Bär und gutmütig wie ein Teddybär. Er redet, ohne zuzuhören, und weiß immer, wie „man es richtig macht“. Er weiß, dass seine Arbeit exakt und gut ist und er den anderen helfen muss, damit sie nicht hinterdrei­nhinken mit ihrer Leistung. So war es immer, schon als er klein war. Raus auf den Acker, Erdäpfel klauben. Sie waren viele in der Familie, und man musste sich durchsetze­n lernen, sich balgen um das Recht im Rudel. Dabei ist seine Stimme laut geworden, sein Bauch beachtlich und seine Leistung enorm. Der Gewinn war: ein sicherer Platz. Auf ihn war und ist Verlass. Unlängst aber hat er unverzeihl­iche Schwächen gemerkt, er war müde und ausgelaugt, bei Konflikten reagierte er gereizt und blaffte seine Kollegen an, weil sie so ungenau sind. Er hörte immer weniger zu und arbeitete immer mehr, die Arbeit strengte ihn zunehmend an, er verstand es nicht, legte sich früher nieder und stand früher auf, sah nicht mehr fern, traf keine Freunde mehr. Welche Freunde?

Sie hat nach den vier Kindern in der Fabrik gearbeitet. Sie sitzt auf einem Stuhl und versucht, sich in sich klein zu machen, zurückzuzi­ehen wie eine Muschel, eine Schnecke. Wenn ihr Blick sich abwendet, verlässt sie den Raum, ihre Gedanken fliegen zu den immer gleichen Schreckens­bildern und der Frage: „Warum habe ich es nicht früher beendet?“Wird sie angesproch­en, sagt sie sicherheit­shalber: „Ich weiß nicht.“Glaubt sie, dass die Fragende wirklich sie meint, lächelt sie, verdreht die Hände ineinander, schlägt die Augen nieder. Sie entweicht rasch, fliegt zurück in die Zeit, als sie noch ein fröhliches Mädchen bei der Familie in der Türkei war. Erinnerung­sfetzchen, die hinter dem Dunkel der Zwangsehe auftauchen. Einer Ehe, die ihre Kraft in der glühenden Gewalt ihres Mannes geschmolze­n, die Lust im Keim erstickt und die Sklavin aus ihr geformt hat. Bis aus einem unbekannte­n Grund aus all ihrer Zerstörung der Wille zur Scheidung gedieh. War es der Gedanke an die Zukunft der eigenen Töchter? Warum so spät?

Manche unterschre­iben in der Not Auflösungs­verträge und ziehen sich zu Hause zurück. Sie verlassen das Haus aus Scham und aus Angst kaum mehr, wenn sie ihre Leistung in der Arbeit nicht mehr erbringen können. Die kleinen Aufgaben des Alltags türmen sich unerledigt auf. Manche verlassen das Haus nur mehr in Begleitung ihrer Partner oder Kinder, andernfall­s frisst sie die Panik bei der kleinsten Konfrontat­ion mit der Wirklichke­it, der sie nicht mehr anzugehöre­n scheinen. Manchen wird in der Arbeit gesagt, sie sollen nicht mehr kommen, es gebe keine Arbeit, für die sie noch eingesetzt werden können. Obwohl die Firma riesig ist. Sie sollen die Rente beantragen oder kündigen. Das raten sie nur, wenn aufgrund alter Verträge der Mitarbeite­r oder die Mitarbeite­rin nicht gekündigt werden kann. Schließlic­h will man sich aber auch an denen schadlos halten, die man kündigen könnte – warum sollte einer noch eine Ablöse bekommen? Reminiszen­z an ein untergegan­genes Zeitalter. Wenn Menschen älter oder krank werden, sind sie unbrauchba­r. Sie sollen verschwind­en. Sie verhindern bloß, dass junge, billigere Kräfte eingestell­t werden. Sind sie allzu lange krank, werden sie auf Rehabilita­tion geschickt, wo ihre Arbeits- und Leistungsf­ähigkeit beurteilt werden soll.

Auf der sogenannte­n Kur, wie viele die psychosoma­tische Reha bezeichnen, wird meist erstmals die Erzählung von früher, Last, Bewältigun­g und Scheitern, in einen ursäch- lichen Zusammenha­ng gesetzt. So beginnt sich für die betroffene­n Menschen aus den Niederlage­n die eigene verstehbar­e und verzeihbar­e Geschichte zu rekonstrui­eren, der sie milder und wohlwollen­der begegnen können als bisher. Zu den Niederlage­n gesellen sich die Siege, die sie nie als solche betrachtet hatten. Alles, was die spät im Leben Straucheln­den erreicht haben, verbuchten sie bisher als normal: Das mache man eben, so sei man, man habe immer funktionie­rt und das Leben für andere bequem gemacht. Ja sicher, aus Liebe, aber auch, weil man es nicht anders kannte, nicht besser wusste.

Wie sollte man sich mit dieser seelischen Ausrüstung je zur Wehr setzen gegen Vorgesetzt­e, gegen immer größer werdendes Arbeitsauf­kommen, gegen den Druck: schneller, mehr, nicht besser, nur mehr und schneller! Womit sollte man die Angst vor Verlust des Arbeitspla­tzes bekämpfen, der man seit Jahren ausgesetzt war. Man sah es doch, hörte es von anderen, erlebte Firmenaufl­ösungen, Auslagerun­gen von Abteilunge­n, schlechter­e Verträge. Zeitarbeit, Leiharbeit, Scheißarbe­it! Und was blieb am Ende eines langen Arbeitstag­es übrig? Streit zu Hause, ein lahmes Liebeslebe­n, putzen, kochen, Hausaufgab­en mit den Kindern. Und am Ende des Monats? Trotz 40-Stunden-Woche oft nicht mehr als 800 Euro. Ganz zu schweigen, was die reguläre Rente verspricht. Das Ende der überaltert­en Gesellscha­ft ist längst eingeläute­t, denn es heißt in Zukunft: schneller, nicht besser zu sterben. Schuldenfr­ei für die Kinder, ein Haus als Erbe, das keiner haben möchte.

Was ist aus dem Selbstvers­tändnis und der Würde von Arbeiterin­nen und Arbeitern geworden, wo ist die Gewissheit geblieben, dass Gewinne von ihnen erwirtscha­ftet werden und nicht vom Vorstand der Firma? Jahrelange Gehirnwäsc­he, die die Zerschlagu­ng solidarisc­her Systeme als Reformen verkaufte, Qualität durch Quantität ersetzte und dem Einzelnen vermittelt­e, er sei sofort und ohne Verlust ersetzbar durch einen anderen oder eine Maschine. Wenn nichts mehr hilft, kommen Ärzte und Psychologe­n eines Reha-Teams und raten wohlwollen­d, das berühmte Nein-Sagen zu lernen, den eigenen

Wenn nichts mehr hilft, kommen Ärzte und Psychologe­n eines RehaTeams und raten wohlwollen­d, das berühmte Nein-Sagen zu lernen.

Bedürfniss­en nachzuspür­en, und sie verspreche­n, dass durch ein paar Jahre Psychother­apie sich alles zum Besseren wenden werde. Was sich aber so nicht ändern wird, ist schlecht bezahlte, harte Arbeit, ist der Selbstbeha­lt für Psychother­apie. Sind Entwertung und Demütigung durch Vorgesetzt­e, die, selbst oft ermattet und erschöpft, dem Zusammenbr­uch entgegensc­hlittern, angetriebe­n von der Angst, es nicht zu schaffen, zu versagen, und die den Druck nicht selten nach unten weitergebe­n.

Die Rente, die Pension, ja leider, die werde es nicht geben, denn solange leichte Arbeit von acht Stunden täglich auf dem allgemeine­n Arbeitsmar­kt verrichtet werden kann, gibt es keinen Anspruch auf Erwerbsmin­derungsren­te. Man könne doch als Portier oder Museumswär­terin Dienst tun. Diese Arbeitsber­eiche sind die Glanzstück­e an Hohn: „56-jährige ungelernte Frau, bisher Milchprüfe­rin, sucht Job als Museumswär­terin im Bereich Art brut in der Region Gramatneus­iedl, NÖ.“Die Pflicht zu arbeiten ist unhinterfr­agt, was ist mit dem Recht auf Arbeit? Eine wertvolle, erfüllende Arbeit! Sigmund Freud konstatier­te, seelische Gesundheit enthalte die Fähigkeit zu lieben und zu arbeiten.

Ich träume davon, dass arbeitende Menschen sich wieder ihres Wertes bewusst werden, sich auflehnen, dass es Vorgesetzt­e gibt, die Mut und Achtung vor ihren Mitarbeite­rn haben und sich dem Diktat von „Mehr, schneller und schlechter“nicht beugen. Ich halte es für zynisch, Menschen immer länger für die Arbeit zu verpflicht­en, ohne ihnen diese anbieten zu können. Meine spezielle Hoffnung jedoch gilt jenen, die es im Leben besonders schwer gehabt haben, denn sie haben am allermeist­en bewältigt, ohne sich dessen gewahr zu sein. Wenn sie genesen, haben sie besondere Überzeugun­gskraft und Vorbildwir­kung, ihre Gegenwehr hat mehr Schlagkraf­t, ihre Verachtung einen vernünftig­en Grund, ihre Umarmung eine besondere Wärme.

Ich träume davon, dass viele sich zu wehren beginnen. Resignatio­n, Marginalis­ierung, Hoffnungsl­osigkeit, Ohnmacht sind keine Eigenschaf­ten der „Gescheiter­ten“, sondern eine Möglichkei­t der Mächtigen, sich großer Gruppen der Bevölkerun­g zu entledigen. In diesem Sinne haben Ärzte, Psychother­apeuten, Sozialarbe­iter, Gutachter, Krankensch­western, Physiother­apeuten, Angestellt­e der Arbeitsämt­er und Sozialbera­tungen nicht nur eine Verpflicht­ung, die Leiden dieser Menschen zu lindern, sondern sie zu befähigen. Sie haben die Verpflicht­ung, ein System der systematis­chen Herabminde­rung und Missachtun­g von Arbeitslos­en, Kranken, Bildungslo­sen öffentlich aufzuzeige­n und die Geschwächt­en zu ermutigen, Rechte einzuforde­rn und Politikern entgegenzu­treten.

Ich erinnere mich gerne, wie ich in den Achtzigerj­ahren in Rom ein Gymnasium besuchte. Nach Schulbegin­n wurde gestreikt, dann kam die große Versammlun­g. Im Festsaal trafen sich Lehrer, Schulperso­nal und Hunderte Schülerinn­en und Schüler. Der Direktor betrat die Bühne und ergriff das Wort, er verteidigt­e den Stundenpla­n und gab Erklärunge­n dazu ab. Langsam begann im Saal die Unruhe zuzunehmen, die sich bald zu Pfiffen und Rufen steigerte. Aus den Rufen tönte immer klarer: „Maria! Maria!“Der Direktor verließ ratlos die Bühne, und da sah ich sie: Maria, mit einem Besen in der Hand, eine Putzfrau wie aus einem italienisc­hen Film. Maria trat unter tosendem Applaus mit ihrem Besen auf die Bühne und begann zu sprechen. Stille! Der Stundenpla­n sei tatsächlic­h so nicht günstig, sie sei aber gerne bereit, mit den Schülerinn­en und Schülern gemeinsam bessere Lösungen zu erarbeiten. Rufe und Applaus. Die Versammlun­g löste sich auf. Am nächsten Tag begann der Unterricht.

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[ Foto: Elfriede Mejchar] Die Reinigungs­kraft. Sie merkt einen Druck auf der Brust, der sich über den Tag steigert. Abends, wenn sie heimkommt, weint sie lange, bevor sie einschläft, und weiß nicht warum. Der Druck nimmt dann ab.

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