Was vom Tage übrig bleibt
Ich träume davon, dass arbeitende Menschen sich wieder ihres Wertes bewusst werden und nicht alles fraglos hinnehmen. Über den Zusammenhang von Gesundheit und Arbeit: Nachrichten aus der ärztlichen Praxis.
Über den Zusammenhang von Gesundheit und Arbeit: Nachrichten aus der ärztlichen Praxis.
Sie ist Milchprüferin. Sie fährt zu den ihr zugeteilten Bauern, um die Milch auf ihre Qualität zu überprüfen. Wenn ein Bauer mit seiner Melkarbeit noch nicht fertig ist, verlangt er: „Komm später wieder!“Sie arbeitet morgens und abends, dazwischen vergeht viel leere Zeit, so geht sie nach Hause und wartet, bis sie ihre Arbeit beenden kann. Sie ist mager und sehnig, früher hatte sie noch Kraft, nun wirkt sie verhärmt und klagt über Schmerzen vom Heben und Tragen der Prüfgeräte. Das Haus, das sie vor langer Zeit mit ihrem Mann gebaut hat, versucht sie für ihre erwachsenen Kinder zu halten. Die anfallenden Reparaturen kann sie von ihrem Lohn, etwa 700 Euro im Monat, nicht zahlen. Ihre Kinder sollen mit ihr im Haus leben und sich an den Kosten beteiligen. Das Haus liegt schön, ländlich, viel Natur. Sonst nichts. Der Mann – weiß Gott, wo der ist.
Sie ist Reinigungsfrau. Sie ist rund, klein und lacht viel. Ihre Chefin hält große Stücke auf sie, weil sie flink, fleißig und fröhlich ist. Wann immer sich Arbeit anstaut, sie schafft sie weg. Sie lacht, weil das harte Leben mit Humor besser zu ertragen ist. Abends, wenn sie heimkommt, weint sie lange, bevor sie einschläft, und weiß nicht warum. Sie merkt einen Druck auf der Brust, der sich über den Tag steigert und sich bessert, wenn sie weint. Am Morgen kommt sie lachend wieder zur Arbeit. Die Chefin sagt: „Du bist die Beste!“Sie weiß, dass sie recht hat. In der letzten Zeit ist sie manchmal so müde, dass sie es morgens nur mit Anstrengung aus dem Bett schafft. Sie kommt trotzdem und ist schneller, genauer und freundlicher als die anderen. Deutsch hat sie beim Putzen und in der Fabrik gelernt, auf der Straße und von den wenigen Freunden, die sie so nennen kann. Aber glücklich und traurig zugleich wird sie, wenn sie Kroatisch spricht. Dann muss sie abends weniger weinen, weil dieses Reden auch den Druck auf der Brust lindert. Die Freunde haben ihr kürzlich geraten, nicht mehr so viel zu arbeiten, sich auszuruhen und nicht alles fraglos hinzunehmen. Eines Tages hat sie ihren Mut zusammengenommen und hat eine zusätzliche Aufgabe der Chefin abgelehnt. Daraufhin hat diese mit ihr geschimpft und sich für Tage von ihr abgewandt.
Er ist beim Straßendienst. Er ist groß wie ein Bär und gutmütig wie ein Teddybär. Er redet, ohne zuzuhören, und weiß immer, wie „man es richtig macht“. Er weiß, dass seine Arbeit exakt und gut ist und er den anderen helfen muss, damit sie nicht hinterdreinhinken mit ihrer Leistung. So war es immer, schon als er klein war. Raus auf den Acker, Erdäpfel klauben. Sie waren viele in der Familie, und man musste sich durchsetzen lernen, sich balgen um das Recht im Rudel. Dabei ist seine Stimme laut geworden, sein Bauch beachtlich und seine Leistung enorm. Der Gewinn war: ein sicherer Platz. Auf ihn war und ist Verlass. Unlängst aber hat er unverzeihliche Schwächen gemerkt, er war müde und ausgelaugt, bei Konflikten reagierte er gereizt und blaffte seine Kollegen an, weil sie so ungenau sind. Er hörte immer weniger zu und arbeitete immer mehr, die Arbeit strengte ihn zunehmend an, er verstand es nicht, legte sich früher nieder und stand früher auf, sah nicht mehr fern, traf keine Freunde mehr. Welche Freunde?
Sie hat nach den vier Kindern in der Fabrik gearbeitet. Sie sitzt auf einem Stuhl und versucht, sich in sich klein zu machen, zurückzuziehen wie eine Muschel, eine Schnecke. Wenn ihr Blick sich abwendet, verlässt sie den Raum, ihre Gedanken fliegen zu den immer gleichen Schreckensbildern und der Frage: „Warum habe ich es nicht früher beendet?“Wird sie angesprochen, sagt sie sicherheitshalber: „Ich weiß nicht.“Glaubt sie, dass die Fragende wirklich sie meint, lächelt sie, verdreht die Hände ineinander, schlägt die Augen nieder. Sie entweicht rasch, fliegt zurück in die Zeit, als sie noch ein fröhliches Mädchen bei der Familie in der Türkei war. Erinnerungsfetzchen, die hinter dem Dunkel der Zwangsehe auftauchen. Einer Ehe, die ihre Kraft in der glühenden Gewalt ihres Mannes geschmolzen, die Lust im Keim erstickt und die Sklavin aus ihr geformt hat. Bis aus einem unbekannten Grund aus all ihrer Zerstörung der Wille zur Scheidung gedieh. War es der Gedanke an die Zukunft der eigenen Töchter? Warum so spät?
Manche unterschreiben in der Not Auflösungsverträge und ziehen sich zu Hause zurück. Sie verlassen das Haus aus Scham und aus Angst kaum mehr, wenn sie ihre Leistung in der Arbeit nicht mehr erbringen können. Die kleinen Aufgaben des Alltags türmen sich unerledigt auf. Manche verlassen das Haus nur mehr in Begleitung ihrer Partner oder Kinder, andernfalls frisst sie die Panik bei der kleinsten Konfrontation mit der Wirklichkeit, der sie nicht mehr anzugehören scheinen. Manchen wird in der Arbeit gesagt, sie sollen nicht mehr kommen, es gebe keine Arbeit, für die sie noch eingesetzt werden können. Obwohl die Firma riesig ist. Sie sollen die Rente beantragen oder kündigen. Das raten sie nur, wenn aufgrund alter Verträge der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin nicht gekündigt werden kann. Schließlich will man sich aber auch an denen schadlos halten, die man kündigen könnte – warum sollte einer noch eine Ablöse bekommen? Reminiszenz an ein untergegangenes Zeitalter. Wenn Menschen älter oder krank werden, sind sie unbrauchbar. Sie sollen verschwinden. Sie verhindern bloß, dass junge, billigere Kräfte eingestellt werden. Sind sie allzu lange krank, werden sie auf Rehabilitation geschickt, wo ihre Arbeits- und Leistungsfähigkeit beurteilt werden soll.
Auf der sogenannten Kur, wie viele die psychosomatische Reha bezeichnen, wird meist erstmals die Erzählung von früher, Last, Bewältigung und Scheitern, in einen ursäch- lichen Zusammenhang gesetzt. So beginnt sich für die betroffenen Menschen aus den Niederlagen die eigene verstehbare und verzeihbare Geschichte zu rekonstruieren, der sie milder und wohlwollender begegnen können als bisher. Zu den Niederlagen gesellen sich die Siege, die sie nie als solche betrachtet hatten. Alles, was die spät im Leben Strauchelnden erreicht haben, verbuchten sie bisher als normal: Das mache man eben, so sei man, man habe immer funktioniert und das Leben für andere bequem gemacht. Ja sicher, aus Liebe, aber auch, weil man es nicht anders kannte, nicht besser wusste.
Wie sollte man sich mit dieser seelischen Ausrüstung je zur Wehr setzen gegen Vorgesetzte, gegen immer größer werdendes Arbeitsaufkommen, gegen den Druck: schneller, mehr, nicht besser, nur mehr und schneller! Womit sollte man die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes bekämpfen, der man seit Jahren ausgesetzt war. Man sah es doch, hörte es von anderen, erlebte Firmenauflösungen, Auslagerungen von Abteilungen, schlechtere Verträge. Zeitarbeit, Leiharbeit, Scheißarbeit! Und was blieb am Ende eines langen Arbeitstages übrig? Streit zu Hause, ein lahmes Liebesleben, putzen, kochen, Hausaufgaben mit den Kindern. Und am Ende des Monats? Trotz 40-Stunden-Woche oft nicht mehr als 800 Euro. Ganz zu schweigen, was die reguläre Rente verspricht. Das Ende der überalterten Gesellschaft ist längst eingeläutet, denn es heißt in Zukunft: schneller, nicht besser zu sterben. Schuldenfrei für die Kinder, ein Haus als Erbe, das keiner haben möchte.
Was ist aus dem Selbstverständnis und der Würde von Arbeiterinnen und Arbeitern geworden, wo ist die Gewissheit geblieben, dass Gewinne von ihnen erwirtschaftet werden und nicht vom Vorstand der Firma? Jahrelange Gehirnwäsche, die die Zerschlagung solidarischer Systeme als Reformen verkaufte, Qualität durch Quantität ersetzte und dem Einzelnen vermittelte, er sei sofort und ohne Verlust ersetzbar durch einen anderen oder eine Maschine. Wenn nichts mehr hilft, kommen Ärzte und Psychologen eines Reha-Teams und raten wohlwollend, das berühmte Nein-Sagen zu lernen, den eigenen
Wenn nichts mehr hilft, kommen Ärzte und Psychologen eines RehaTeams und raten wohlwollend, das berühmte Nein-Sagen zu lernen.
Bedürfnissen nachzuspüren, und sie versprechen, dass durch ein paar Jahre Psychotherapie sich alles zum Besseren wenden werde. Was sich aber so nicht ändern wird, ist schlecht bezahlte, harte Arbeit, ist der Selbstbehalt für Psychotherapie. Sind Entwertung und Demütigung durch Vorgesetzte, die, selbst oft ermattet und erschöpft, dem Zusammenbruch entgegenschlittern, angetrieben von der Angst, es nicht zu schaffen, zu versagen, und die den Druck nicht selten nach unten weitergeben.
Die Rente, die Pension, ja leider, die werde es nicht geben, denn solange leichte Arbeit von acht Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichtet werden kann, gibt es keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente. Man könne doch als Portier oder Museumswärterin Dienst tun. Diese Arbeitsbereiche sind die Glanzstücke an Hohn: „56-jährige ungelernte Frau, bisher Milchprüferin, sucht Job als Museumswärterin im Bereich Art brut in der Region Gramatneusiedl, NÖ.“Die Pflicht zu arbeiten ist unhinterfragt, was ist mit dem Recht auf Arbeit? Eine wertvolle, erfüllende Arbeit! Sigmund Freud konstatierte, seelische Gesundheit enthalte die Fähigkeit zu lieben und zu arbeiten.
Ich träume davon, dass arbeitende Menschen sich wieder ihres Wertes bewusst werden, sich auflehnen, dass es Vorgesetzte gibt, die Mut und Achtung vor ihren Mitarbeitern haben und sich dem Diktat von „Mehr, schneller und schlechter“nicht beugen. Ich halte es für zynisch, Menschen immer länger für die Arbeit zu verpflichten, ohne ihnen diese anbieten zu können. Meine spezielle Hoffnung jedoch gilt jenen, die es im Leben besonders schwer gehabt haben, denn sie haben am allermeisten bewältigt, ohne sich dessen gewahr zu sein. Wenn sie genesen, haben sie besondere Überzeugungskraft und Vorbildwirkung, ihre Gegenwehr hat mehr Schlagkraft, ihre Verachtung einen vernünftigen Grund, ihre Umarmung eine besondere Wärme.
Ich träume davon, dass viele sich zu wehren beginnen. Resignation, Marginalisierung, Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht sind keine Eigenschaften der „Gescheiterten“, sondern eine Möglichkeit der Mächtigen, sich großer Gruppen der Bevölkerung zu entledigen. In diesem Sinne haben Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Gutachter, Krankenschwestern, Physiotherapeuten, Angestellte der Arbeitsämter und Sozialberatungen nicht nur eine Verpflichtung, die Leiden dieser Menschen zu lindern, sondern sie zu befähigen. Sie haben die Verpflichtung, ein System der systematischen Herabminderung und Missachtung von Arbeitslosen, Kranken, Bildungslosen öffentlich aufzuzeigen und die Geschwächten zu ermutigen, Rechte einzufordern und Politikern entgegenzutreten.
Ich erinnere mich gerne, wie ich in den Achtzigerjahren in Rom ein Gymnasium besuchte. Nach Schulbeginn wurde gestreikt, dann kam die große Versammlung. Im Festsaal trafen sich Lehrer, Schulpersonal und Hunderte Schülerinnen und Schüler. Der Direktor betrat die Bühne und ergriff das Wort, er verteidigte den Stundenplan und gab Erklärungen dazu ab. Langsam begann im Saal die Unruhe zuzunehmen, die sich bald zu Pfiffen und Rufen steigerte. Aus den Rufen tönte immer klarer: „Maria! Maria!“Der Direktor verließ ratlos die Bühne, und da sah ich sie: Maria, mit einem Besen in der Hand, eine Putzfrau wie aus einem italienischen Film. Maria trat unter tosendem Applaus mit ihrem Besen auf die Bühne und begann zu sprechen. Stille! Der Stundenplan sei tatsächlich so nicht günstig, sie sei aber gerne bereit, mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam bessere Lösungen zu erarbeiten. Rufe und Applaus. Die Versammlung löste sich auf. Am nächsten Tag begann der Unterricht.