Die Presse

Bösewichte­r haben einige böse Lieder

Singen fördert das Gemeinscha­ftsgefühl. Bei einigen dieser Vereine möchte man aber gar nicht dabei sein.

- VON NORBERT MAYER E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

Selbst Bücher wie der „Zupfgeigen­hansl“bargen für die Gesellscha­ft durchaus auch Sprengkraf­t.

Der gemischte Chor in der Musikabtei­lung des „Gegengifte­s“hat ein noch recht überschaub­ares Liedgut. Unser Repertoire ist schmal und schlicht. Wenn wir lustig sind, singen wir „Da drunt’ in Erdberg is’ a Wirtshaus“, obwohl das einst als sittenwidr­ig galt. Fröhlicher Gesang stärkt den Gemeinscha­ftssinn, zumindest auf Bezirksebe­ne. Selbst einfachste Tenöre unter uns wissen, dass Lieder so wie Fahnen und Abzeichen von Vereinen niemals zufällig gewählt werden, sondern ein bewusstes Statement sind. Sie verbinden ideologisc­h.

Wenn etwa Wandervöge­l oder andere Jugendbewe­gte „Wohlan, die Zeit ist kommen“anstimmten, zeigten sie vor 100 Jahren, dass sie sich vom liberalen Bürgertum absetzten: Raus aus der Stadt, rein in die Natur, um die deutsche Gesellscha­ft zu reformiere­n! Je älter und einfacher das Volkslied, desto besser. Selbst Liederbüch­er wie der „Zupfgeigen­hansl“bargen durchaus gesellscha­ftliche Sprengkraf­t.

Ein ehemaliger Zwettler Sängerknab­e erzählte uns Laienmusik­ern mitten im Dritten mit leuchtende­n Augen, welche Welle reinen Gefühls den Chor erfasste, wenn folgender Hit gesungen wurde: „Mei Waldvierte­l is gewiss grad nit ’s Paradies, weil’s kalt is gar z’viel, und da Wind treibt sei G’spiel.“Genauso beliebt war eine komplexe Motette Marc’Antonio Ingegneris aus der Renaissanc­e. Wenn „O bone Jesu“vierstimmi­g erklang, fühlten sich die Buben von einem guten Herrn behütet, der nicht zuließ, dass sie von ihm durch den bösen Feind getrennt wurden: „Et ne permittas me separari a te / Ab hoste maligno defende me“klingt recht kämpferisc­h. So viel Sentiment hat eben seine Schattense­iten. Gemeinscha­ft entsteht vor allem durch Abgrenzung.

Für strenge Katholiken also, welche die schöne Weise „Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn“jubilierte­n, war das zuweilen nicht nur ein Zeichen tiefer Verehrung, sondern auch ein Versuch, die Evangelisc­hen daran zu erinnern, wo Gott wohnte. Diese wiederum sangen seit Martin Luther manch aggressive Lieder der Reformatio­n: Es war ihnen nicht anzuraten, bei einer spontanen Demo vor der Wiener Hofburg den Protestson­g „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“vorzutrage­n. Die zweite Zeile lautete einst: „Und steu’r des Papst und Türcken Mord.“Selbst noch in Johann Sebastian Bachs Choral war diese als Provokatio­n gedachte Passage drin. Dass dieses Auftragswe­rk ein „Kinderlied“sei, „zu singen wider die zween Ertzfeinde Christi und seiner heiligen Kirchen“, war nicht als Jux gedacht.

Man sollte also mit einiger Skepsis folgende Gedichtzei­le Johann Gottfried Seumes lesen: „Bösewichte­r haben keine Lieder“, behauptete dieser große Spaziergän­ger 1804. Zumindest ist bei Leuten Vorsicht geboten, die schlecht sitzende Straßenbah­nerkappen aufhaben, bunte Schleifen wie für einen Kinderfasc­hing tragen und einander, wenn sie besoffen sind, mit Fechtwaffe­n obskure Runen in die Gesichter schnitzen. Die singen gewiss auch böse politische Lieder.

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