Die Presse

Wie sich China als eine neue Weltmacht etabliert

Gastkommen­tar. Bei seinem Weg zu einem Pol des globalen Machtsyste­ms versucht China einem Krieg mit den USA aus dem Weg zu gehen.

- SUSANNE WEIGELIN-SCHWIEDRZI­K

Vor ein paar Jahren wurde in der Volksrepub­lik China auf Geheiß des Politbüros der kommunisti­schen Partei eine Dokumentar­filmserie unter dem Titel „Der Aufstieg der Großmächte“hergestell­t und im Fernsehen ausgestrah­lt. Das zentrale Argument dieser viel beachteten Serie lässt sich in wenigen Worten zusammenfa­ssen: Historisch haben einzelne Großmächte immer wieder versucht, die Welt zu beherrsche­n, auf Dauer haben sie ihre Macht jedoch nie halten können.

Die meisten haben diesen Film dahingehen­d interpreti­ert, dass er der Übernahme der Weltherrsc­haft durch China eine historisch­e Legitimati­on verleiht. Kaum ein Kommentato­r hat darüber nachgedach­t, dass die Lehre aus dieser Filmreihe sein könnte, die Idee der Alleinherr­schaft über die Welt grundlegen­d in Abrede zu stellen.

Dabei läge eine solche Interpreta­tion durchaus auf der Hand. Mit dem Ende des Kalten Kriegs endet das bipolare System der gegenseiti­gen Abschrecku­ng. Die USA als etablierte­s Zentrum des Systems internatio­naler Beziehunge­n sind zunehmend nicht mehr in der Lage, der Welt ihre Ordnung aufzuzwing­en.

Bi- oder multipolar­es System?

Die Möglichkei­ten, die sich aus dieser Konstellat­ion ergeben, sind vielfältig, doch zwei scheinen besonders wahrschein­lich: Entweder bildet sich erneut ein bipolares System heraus, in dem sich die USA und China gegenübers­tehen. Oder es kommt zur Entwicklun­g eines multipolar­en Systems, in dem die USA und China nur zwei von mehreren Polen bilden.

Nach Auffassung des oben erwähnten Films birgt ein Weltsystem mit einem Zentrum eine hohe Kriegswahr­scheinlich­keit und die historisch belegte Gefahr der Überdehnun­g in sich, der zuletzt das japanische Kaiserreic­h und das Dritte Reich erlegen sind. Das bipolare System des Kalten Kriegs hat sich demgegenüb­er als verhältnis­mäßig stabil erwiesen. Der Kalte Krieg hat den Ausbruch eines Weltkriegs verhindert und ging ohne kriegerisc­he Konflikte zu Ende. Regionale und lokale Kriege haben trotzdem stattgefun­den.

Die multipolar­e Welt eröffnet demgegenüb­er die Möglichkei­t, Frieden zu schaffen, indem der Machtausgl­eich durch das bewährte Mittel der Diplomatie hergestell­t wird. Allerdings agieren nicht mehr wie in der Vergangenh­eit Nationen, sondern es verhandeln Regionen. Dieses System bietet mehr Möglichkei­ten der Machteinsc­hränkung und Kompromiss­findung als das bipolare System.

Wie aber könnten Regionen entstehen, die sich als Pole in das multipolar­e System internatio­naler Beziehunge­n einbringen? Einige Länder zeigen uns den Weg. Sie greifen mehr oder weniger offen auf ihre glorreiche Vergangenh­eit zurück, als die Welt sich noch nicht in Nationen gliederte,

sondern von Reichen beherrscht war. Besonders offen spricht in diesem Sinn die Türkei unter Recep Tayyip Erdogan˘ über das Vorbild des Osmanische­n Reichs.

Auch in China werden derartige Diskussion­en schon seit Jahren geführt. Zurückgegr­iffen wird dabei auf die Idee des Tianxia, landläufig als „Alles unter dem Himmel“übersetzt. Diese Idee besagt, dass der Kaiser der jeweils China beherrsche­nden Dynastie das Zentrum der Welt bildet. Um dieses Zentrum sind die inneren Provinzen angesiedel­t, die von der Bürokratie durchdrung­en und damit ans Zentrum gebunden sind.

Die äußeren Provinzen, in denen zumeist nicht hanchinesi­sche Ethnien angesiedel­t sind, bilden den Übergang zur nicht chinesisch­en Welt. Sie bilden einen ersten Cordon sanitaire um das innerchine­sische Reich und müssen notfalls auch dazu herhalten, militärisc­he Angriffe auf das chinesisch­e Kaiserreic­h abzuwehren.

Japan verweigert­e den Kotau

Jenseits der äußeren Provinzen greift das sogenannte Tributsyst­em. Mitglieder des Tributsyst­ems sind Staaten, die die Dominanz Chinas in der Region anerkennen und ihre Einordnung in dieses System durch Tributleis­tungen unter Beweis stellen. Im Austausch für ihre Loyalität gegenüber dem chinesisch­en Kaiser erhalten diese Länder Schutz und Unterstütz­ung durch China.

Das Tributsyst­em brachte den Handel in der Region zur Blüte und bescherte Ostasien in der Zeit zwischen 1600 und 1800 Stabilität, Frieden und Reichtum.

Japan ist das einzige Land in Ostasien, das sich dieser Ordnung nicht unterwerfe­n wollte. Es war selbst ein Kaiserreic­h und wollte diesen Anspruch nicht durch den berühmten Kotau vor dem chinesisch­en Kaiser aufgeben. Die Tatsache, dass es einen solchen Kontrahent­en in der Region gab, hatte zweierlei Auswirkung­en: Zum einen stand China stets vor Augen, dass die sinozentri­sche Ordnung durch eine japanische abgelöst werden konnte; zum anderen musste China als Zentrum des Tributsyst­ems auf die Eigenständ­igkeit der Tributstaa­ten achten und auf deren Ausbeutung oder politische Entrechtun­g verzichten, damit diese nicht ihr Heil in der Zusammenar­beit mit Japan suchten.

Doppelte Schmach

Im 19. Jahrhunder­t zerbricht dieses System. Das Qing-Reich ist nicht mehr in der Lage, sich selbst und die Länder des Tributsyst­ems gegen Angriffe der europäisch­en Großmächte zu schützen; Japan erkennt die Schwäche Chinas und sieht die Gelegenhei­t gekommen, sich selbst zum Zentrum der Region Ostasien zu machen. Seither haben die chinesisch­en Eliten alles unternomme­n, um dieser doppelten Schmach den Wiederaufs­tieg Chinas entgegenzu­setzen.

Was bedeutet das für das Verständni­s der jetzigen Situation? Zunächst erkennen wir, wie sich in Ostasien und damit auch in den Köpfen der chinesisch­en Eliten ein Pol konstituie­ren kann. Das Tributsyst­em ist ein Beispiel dafür, wie sich eine Region im Verhältnis von Zentrum und Peripherie hierarchis­ch gliedert, wobei das Zentrum von der Existenz der Peripherie profitiert und andersheru­m.

Die Zentrumsfu­nktion kann von einem Land in die Hand eines anderen übergehen. Die Region bleibt jedoch als Region bestehen! Damit innerhalb der Region aber keine dem Kolonialis­mus ähnlichen Ausbeutung­sverhältni­sse entstehen, müssen innerhalb der Region Machteinsc­hränkungsm­echanismen zum Tragen kommen. Sonst „entgleist“das Modell wie zu Zeiten, da Japan die Vorherrsch­aft in Ostasien übernahm und das bestehende System nach dem Vorbild des europäisch­en Kolonialis­mus umgestalte­te.

Anerkennun­g des Zentrums

Für das Qing-Reich war China das Zentrum der Welt in einem weitgehend ideellen Sinne. Voraussetz­ung für diese Selbstsich­t war, dass es in der Region als Zentrum anerkannt wurde. Auch Japan sah sich selbst erst dann als Weltmacht, als es in der Lage war, Ostasien zu dominieren.

Die Volksrepub­lik China strebt in diesem Sinn nach Anerkennun­g als Zentrum der Region Ostasiens und als Pol in einem System der Multipolar­ität, das ihr den Weg zur Weltmacht eröffnet – ohne sich einer kriegerisc­hen Auseinande­rsetzung mit den USA stellen zu müssen.

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