Wie sich China als eine neue Weltmacht etabliert
Gastkommentar. Bei seinem Weg zu einem Pol des globalen Machtsystems versucht China einem Krieg mit den USA aus dem Weg zu gehen.
Vor ein paar Jahren wurde in der Volksrepublik China auf Geheiß des Politbüros der kommunistischen Partei eine Dokumentarfilmserie unter dem Titel „Der Aufstieg der Großmächte“hergestellt und im Fernsehen ausgestrahlt. Das zentrale Argument dieser viel beachteten Serie lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Historisch haben einzelne Großmächte immer wieder versucht, die Welt zu beherrschen, auf Dauer haben sie ihre Macht jedoch nie halten können.
Die meisten haben diesen Film dahingehend interpretiert, dass er der Übernahme der Weltherrschaft durch China eine historische Legitimation verleiht. Kaum ein Kommentator hat darüber nachgedacht, dass die Lehre aus dieser Filmreihe sein könnte, die Idee der Alleinherrschaft über die Welt grundlegend in Abrede zu stellen.
Dabei läge eine solche Interpretation durchaus auf der Hand. Mit dem Ende des Kalten Kriegs endet das bipolare System der gegenseitigen Abschreckung. Die USA als etabliertes Zentrum des Systems internationaler Beziehungen sind zunehmend nicht mehr in der Lage, der Welt ihre Ordnung aufzuzwingen.
Bi- oder multipolares System?
Die Möglichkeiten, die sich aus dieser Konstellation ergeben, sind vielfältig, doch zwei scheinen besonders wahrscheinlich: Entweder bildet sich erneut ein bipolares System heraus, in dem sich die USA und China gegenüberstehen. Oder es kommt zur Entwicklung eines multipolaren Systems, in dem die USA und China nur zwei von mehreren Polen bilden.
Nach Auffassung des oben erwähnten Films birgt ein Weltsystem mit einem Zentrum eine hohe Kriegswahrscheinlichkeit und die historisch belegte Gefahr der Überdehnung in sich, der zuletzt das japanische Kaiserreich und das Dritte Reich erlegen sind. Das bipolare System des Kalten Kriegs hat sich demgegenüber als verhältnismäßig stabil erwiesen. Der Kalte Krieg hat den Ausbruch eines Weltkriegs verhindert und ging ohne kriegerische Konflikte zu Ende. Regionale und lokale Kriege haben trotzdem stattgefunden.
Die multipolare Welt eröffnet demgegenüber die Möglichkeit, Frieden zu schaffen, indem der Machtausgleich durch das bewährte Mittel der Diplomatie hergestellt wird. Allerdings agieren nicht mehr wie in der Vergangenheit Nationen, sondern es verhandeln Regionen. Dieses System bietet mehr Möglichkeiten der Machteinschränkung und Kompromissfindung als das bipolare System.
Wie aber könnten Regionen entstehen, die sich als Pole in das multipolare System internationaler Beziehungen einbringen? Einige Länder zeigen uns den Weg. Sie greifen mehr oder weniger offen auf ihre glorreiche Vergangenheit zurück, als die Welt sich noch nicht in Nationen gliederte,
sondern von Reichen beherrscht war. Besonders offen spricht in diesem Sinn die Türkei unter Recep Tayyip Erdogan˘ über das Vorbild des Osmanischen Reichs.
Auch in China werden derartige Diskussionen schon seit Jahren geführt. Zurückgegriffen wird dabei auf die Idee des Tianxia, landläufig als „Alles unter dem Himmel“übersetzt. Diese Idee besagt, dass der Kaiser der jeweils China beherrschenden Dynastie das Zentrum der Welt bildet. Um dieses Zentrum sind die inneren Provinzen angesiedelt, die von der Bürokratie durchdrungen und damit ans Zentrum gebunden sind.
Die äußeren Provinzen, in denen zumeist nicht hanchinesische Ethnien angesiedelt sind, bilden den Übergang zur nicht chinesischen Welt. Sie bilden einen ersten Cordon sanitaire um das innerchinesische Reich und müssen notfalls auch dazu herhalten, militärische Angriffe auf das chinesische Kaiserreich abzuwehren.
Japan verweigerte den Kotau
Jenseits der äußeren Provinzen greift das sogenannte Tributsystem. Mitglieder des Tributsystems sind Staaten, die die Dominanz Chinas in der Region anerkennen und ihre Einordnung in dieses System durch Tributleistungen unter Beweis stellen. Im Austausch für ihre Loyalität gegenüber dem chinesischen Kaiser erhalten diese Länder Schutz und Unterstützung durch China.
Das Tributsystem brachte den Handel in der Region zur Blüte und bescherte Ostasien in der Zeit zwischen 1600 und 1800 Stabilität, Frieden und Reichtum.
Japan ist das einzige Land in Ostasien, das sich dieser Ordnung nicht unterwerfen wollte. Es war selbst ein Kaiserreich und wollte diesen Anspruch nicht durch den berühmten Kotau vor dem chinesischen Kaiser aufgeben. Die Tatsache, dass es einen solchen Kontrahenten in der Region gab, hatte zweierlei Auswirkungen: Zum einen stand China stets vor Augen, dass die sinozentrische Ordnung durch eine japanische abgelöst werden konnte; zum anderen musste China als Zentrum des Tributsystems auf die Eigenständigkeit der Tributstaaten achten und auf deren Ausbeutung oder politische Entrechtung verzichten, damit diese nicht ihr Heil in der Zusammenarbeit mit Japan suchten.
Doppelte Schmach
Im 19. Jahrhundert zerbricht dieses System. Das Qing-Reich ist nicht mehr in der Lage, sich selbst und die Länder des Tributsystems gegen Angriffe der europäischen Großmächte zu schützen; Japan erkennt die Schwäche Chinas und sieht die Gelegenheit gekommen, sich selbst zum Zentrum der Region Ostasien zu machen. Seither haben die chinesischen Eliten alles unternommen, um dieser doppelten Schmach den Wiederaufstieg Chinas entgegenzusetzen.
Was bedeutet das für das Verständnis der jetzigen Situation? Zunächst erkennen wir, wie sich in Ostasien und damit auch in den Köpfen der chinesischen Eliten ein Pol konstituieren kann. Das Tributsystem ist ein Beispiel dafür, wie sich eine Region im Verhältnis von Zentrum und Peripherie hierarchisch gliedert, wobei das Zentrum von der Existenz der Peripherie profitiert und andersherum.
Die Zentrumsfunktion kann von einem Land in die Hand eines anderen übergehen. Die Region bleibt jedoch als Region bestehen! Damit innerhalb der Region aber keine dem Kolonialismus ähnlichen Ausbeutungsverhältnisse entstehen, müssen innerhalb der Region Machteinschränkungsmechanismen zum Tragen kommen. Sonst „entgleist“das Modell wie zu Zeiten, da Japan die Vorherrschaft in Ostasien übernahm und das bestehende System nach dem Vorbild des europäischen Kolonialismus umgestaltete.
Anerkennung des Zentrums
Für das Qing-Reich war China das Zentrum der Welt in einem weitgehend ideellen Sinne. Voraussetzung für diese Selbstsicht war, dass es in der Region als Zentrum anerkannt wurde. Auch Japan sah sich selbst erst dann als Weltmacht, als es in der Lage war, Ostasien zu dominieren.
Die Volksrepublik China strebt in diesem Sinn nach Anerkennung als Zentrum der Region Ostasiens und als Pol in einem System der Multipolarität, das ihr den Weg zur Weltmacht eröffnet – ohne sich einer kriegerischen Auseinandersetzung mit den USA stellen zu müssen.