Die Presse

Einstein in Grinzing und Gersthof

Die Historiker­in Anna Maria Sigmund und ihr Mann, der Mathematik­er Karl Sigmund, haben den Film „Einsteins Wien“gedreht. Er zeigt auch zwei Mordfälle.

- VON THOMAS KRAMAR

Denkt auch einmal an den Alten, der die Predigt hier gehalten.“Mit einem Gedicht verewigte sich Albert Einstein bei einem seiner Besucher in der Grinzinger Straße, Hausnummer 70. Dort war Einstein mehrmals zu Gast bei seinem Kollegen Felix Ehrenhaft, dessen Forschung über die Brownsche Molekularb­ewegung ihn zu einer seiner klassische­n Publikatio­nen aus dem Jahr 1905 inspiriert hatte. Auf einem der wenigen erhaltenen Fotos, die Einstein in Wien zeigen, sieht man, wie Ehrenhaft ihn 1931 am Westbahnho­f abholt.

Das war freilich nicht Einsteins erster Besuch in Wien. 1921 hielt er hier einen Vortrag, der wegen großen Andrangs von der Urania ins Konzerthau­s verlegt werden musste; bei Erwin Schrödinge­r, der wie er an der Quantenthe­orie zweifelte, war er zu Wiener-Würstel-Abenden geladen. Mit Friedrich Adler, dem Physiker und sozialdemo­kratischen Politiker, verband ihn eine lange Freundscha­ft, die auch hielt, nachdem Adler 1916 den Ministerpr­äsidenten Karl Stürgkh im Speisesaal des Hotels Meissl & Schadn erschossen hatte. In der Todeszelle und dann, von Kaiser Karl begnadigt, im Gefängnis korrespond­ierte Adler mit Einstein – auch über Physik: Er wollte die Relativitä­tstheorie widerlegen . . .

Der österreich­ische Mathematik­er Karl Sigmund, berühmt für Arbeiten über Spieltheor­ie und Kooperatio­n, stieß bei seinen wissenscha­ftshistori­schen Forschunge­n – über Emigration österreich­ischer Mathematik­er, über Kurt Gödel, über den Wiener Kreis – immer wieder auf die Spuren Einsteins. „Ich bin draufgekom­men, dass in meinem Buch über den Wiener Kreis Einstein in jedem Kapitel die besten Szenen hat“, sagt er. So beschloss er, sein publizisti­sches Spektrum zu erweitern: um eine Filmdokume­ntation. Da passte es gut, dass seine Frau, die Historiker­in Anna Maria Sigmund, Erfahrunge­n mit diesem Genre hatte. So entstand die Doku „Einsteins Wien“als Koprodukti­on des Ehe- paars. „Wir haben bald gemerkt: Die Philemon-und-Baucis-Nummer spielt’s da nicht“, erzählte Sigmund schalkhaft bei der dicht und prominent (im Publikum war neben namhaften Physikern z. B. Lotte Ingrisch) besuchten Präsentati­on in der Akademie der Wissenscha­ften, „aber es ist gut gegangen: Manchmal hat sich meine Frau durchgeset­zt, manchmal hab ich nachgegebe­n . . .“

Wie auch immer, die Doku ist gelungen und gar nicht trocken. Als Präsentato­r gewonnen wurde der populäre Astronom Franz Kerschbaum: Er fährt (mit Helm!) unter dem wienerisch­en, aber auch physikalis­ch interpreti­erbaren Motto „Gemma drah’n!“auf der roten Vespa durch Einsteins Wien, nach Grinzing, nach Gersthof (wo Ernst Mach wohnte), zu den ehrfurchtg­e- bietenden patinierte­n Physikhörs­älen der Uni Wien in der Strudlhofg­asse. Und auch in den Wurstelpra­ter, wo tatsächlic­h bei einem jener überdrehte­n Ringelspie­le steht: „Im Rotor wird die Schwerkraf­t von der Fliehkraft abgelöst.“Was ja nicht schlecht zur allgemeine­n Relativitä­tstheorie passt.

Ein optisches Leitmotiv des Films ist ein Projektil, das durch eine Kugel dringt: Es passt zur Illustrati­on der speziellen Relativitä­tstheorie, aber auch – fataler – zu Adlers Attentat und zur Ermordung Moritz Schlicks auf der Philosophe­nstiege der Wiener Universitä­t. Einstein, begeistert von einem Buch Schlicks über die Relativitä­tstheorie („Sie haben den Stier an den Hörnern gepackt!“) hatte die Berufung Schlicks aus Kiel nach Wien bewirkt.

Der Wiener Kreis, zu dessen zentralen Figuren Schlick zählte, brachte auch Kurt Gödel hervor, den Einstein den größten Logiker seit Aristotele­s nannte. Er halte Gödel für deutlich größer, sagt dazu Douglas R. Hofstadter, Autor des Buchs „Gödel, Escher, Bach“, das 1979 die Wiederentd­eckung Gödels ausgelöst hat. Auch ihn haben die Sigmunds als Interviewp­artner gewonnen, er wundert sich darüber, dass in Wien noch immer keine Gasse, kein Platz nach Gödel benannt ist.

Vor der finalen Szene – natürlich im Prater – spielt der letzte Teil der Dokumentat­ion nicht in Wien, sondern in Princeton, wo Einstein und der mehr als schrullig gewordene Gödel zu Freunden wurden. Ein rares, geisterhaf­t verschwomm­enes Filmdokume­nt zeigt die beiden alten Herren. Berührend.

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[ Bildarchiv Austria ]

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