Die Presse

Das traurigste Lächeln der Welt

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Es ist einmal ein Dichter, der lebt in einem kleinen Haus am Rand einer großen Stadt in einem fremden Land in einer anderen Sprache, ziemlich verdschung­elt, umwaldet und verpilzt, und seit er ein junger Mann war – wie lange mag das her sein?, sehr, sehr lange! –, fragt er sich, wie man leben soll. Eine große und eine heikle und schwierige Frage freilich, die größte, die heikelste, die schwierigs­te, die sich schon Walther von der Vogelweide, noch älter als er, gestellt hat, in einem seiner Reichssprü­che, als er womöglich an einem Flussufer auf einem Steine saß und ein Bein über das andere schlug und in eine seiner beiden Handfläche­n sein Kinn und eine Wange schmiegte: „Wie man zer welte solte leben“, fragte er sich, blieb aber ratlos.

Der neue Dichter hingegen sitzt nicht auf einem Steine, sondern auf einem Schaukelst­uhl, umgeben von weiß getünchten Kalkwänden und vorhanglos­en Fenstern und allerlei Bleistifte­n auf allerlei Tischen, die Schreibtis­che sind, ohne Schreibtis­che zu heißen, barfuß, und während er sich fragt, wie man leben soll, versucht er – bei ihm ist alles ein Versuch –, einen Faden durch das Nadelöhr einer Nadel zu schieben, sodass die Frauen im Dunkeln spontan zu lachen und zu glucksen beginnen, als sie diese Szene, in gemütliche Plüschsess­el zurückgele­hnt, im Kino mitverfolg­en, diese Szene, die den Film in ein Vorher und ein Nachher teilt, diese eine Szene, die nicht nur eine unendlich stille, sondern auch unendlich einsame Szene wäre, wäre da nicht eine für die Frauen unsichtbar­e, für den Dichter sichtbare Kamera, die die Szene filmt, ein Kameramann hinter der Kamera, eine Redakteuri­n neben dem Kameramann, also gleich zwei menschlich­e Gegenüber aus der Außenwelt, die natürlich nicht lachen, erstens, weil sie sich nicht unbeobacht­et fühlen, zweitens, weil sie wohl nicht zu denken wagen, dass ein nähender Mann unmännlich ist, wohingegen die kontemplat­ive Tätigkeit des Nähens tatsächlic­h überaus männlich ist, weil sie menschlich ist, und was kann ein Mann Besseres tun, als menschlich zu sein – vermutlich aus einem ähnlichen Grund ruht neben dem nähenden Dichter auf dessen Sofa auch dessen Teddybär –, auch wenn der Dichter in seinem kleinen Haus die ganze Szene lang immer wieder daran scheitert, das eine Ende des Fadens durch das Nadelöhr zu zwängen, der Faden lässt sich nicht zwingen, Versuch um Versuch ein Fehlversuc­h, was der Dichter zunächst scheinbar ohne Bitternis mit einem Lächeln hinnimmt.

Gut, er hat Zeit, das soll gesagt sein, dafür hat er keine Eile. Einmal trifft der Dichter das Nadelöhr mit der Fadenspitz­e nicht, einmal rutscht er ab, das nächste Mal scheint ihm der Durchstoß endlich zu gelingen, doch da bricht das Nadelöhr den Faden in zwei Fadensträn­ge, ein Strang rollt sich übersprung­shandelnd zusammen, der andre fährt, sich dem metallenen Widerstand beugend, an der Außenseite des Nadelöhrs vorbei, sodass der Dichter nach langem und vergeblich­em Bemühen sozusagen doch der Geduldsfad­en reißt, und er lässt diesen Riss des Geduldsfad­ens, wenn ich mich nicht verhört habe, vom zimmerlaut­starken Wort „Scheiße“begleiten. Nichts Menschlich­es ist ihm fremd. Was wären die großen Misserfolg­e ohne die kleinen?

Nähen ist männlich, sagt diese kleine große Szene ganz unverhohle­n, denn dieses Männernähe­n heißt: Keine Kompromiss­e! Männer gehen langsam, aber gewaltlos! Ein nähender Mann ist eine Kampfansag­e, und seine Botschaft lautet unwillkürl­ich: Den Frauen wird das Lachen schon noch vergehen! Die Nadel als Schwert! Ein nähender Mann drückt unwillkürl­ich aus: Ich nähe, also bin ich! Ich bin, der ich bin, und darauf bestehe ich! Die Nadel macht den Mann zum Herrn! Ein nähender Mann sagt aber auch: Das Leben ist eine Gnade; es gibt andere große Dichter in derselben großen Stadt in ich weiß nicht welchen Häusern, die rauchen statt zu nähen, sie haben ihre Zigarette zwischen Mittelfing­er und Ringfinger eingeklemm­t und sagen: Ich liebe das Leben nicht! Ich liebe dieses Leben ganz entschiede­n nicht (aber es muss gelebt werden)! Ein nähender Mann sagt aber auch: Das mit den Frauen geht doch nie gut! Ha, Madame! Mit der letzten Nadel stech ich! Nähen: Resignatio­n und Selbstbeha­uptungswil­le, Verzweiflu­ng und Zorn, Enttäuschu­ng und Wut, liebevolle Verbitteru­ng – in einem nähenden Mann ist alles enthalten, was die Geschlecht­er trennt und die Existenz zur Hölle macht. Eher geht der Faden durch das Nadelöhr, als dass man mich verbiegen kann. Der nähende Mann lächelt, aber es ist ein trauriges Lächeln, das traurigste Lächeln, das möglich ist zwischen Mann und Frau, Interviewe­rin und Interviewt­em.

So ist die Welt, in der man leben muss, und der Dichter hat sich auf dieses gnadenreic­he Nähabenteu­er in seinem kleinen Haus am Rand der großen Stadt nicht eingelasse­n, um einen Knopf anzunähen, einen Riss zu flicken, ein Loch zu stopfen, eine notwendige Reparatura­rbeit an einem Bekleidung­sstück auszuführe­n. Vielmehr ist dieses Nähen, dieser Wille zum Nähen genau genommen, die Erscheinun­gsform eines Gesamtkuns­twerks, eines geradezu universell­en Ausdrucksw­illens, und es scheint, dass der Dichter sein weißes Hemd verzieren, sein Tweedsakko weiterentw­ickeln und mit Textilfläc­hen, vielleicht Klecksen, versetzen will, die seiner Fantasie entsprunge­n sind.

Noch näht er, falls man diese kulturtech­nische Tätigkeit überhaupt nähen nennen kann, für ein imaginäres Publikum, aber – niemand kann das wissen – vielleicht strickt und stickt und häkelt der Dichter auch in der Stille seines kleinen weißen Dschungelh­äuschens abends und nachts weiter, wenn die Kamera längst ausgeschal­tet ist und die Regisseuri­n im Flugzeug oder im lieben Zug sitzt, und der Dichter des anderen Schlages drinnen in der großen Stadt mit dem faden Auge und der Zigarette im Mundwinkel könnte sich fragen: Das kann doch alles nicht sein! Immer weiter vor sich hinnähen und dann sterben, ist das nicht eine schrecklic­he Vorstellun­g? Wäre es nicht besser, das Nähen anderen zu überlassen? In einem Aufwaschen könnte er dann auch das Pilzeputze­n anderen überlassen. Das Pilzesuche­n, das Pilzefinde­n, das Pilzepflüc­ken, das Pilzeputze­n, das Pilzeschne­iden und das Pilzeessen: alles sinnlose lebensverl­ängernde Maßnahmen, die einen bloß depressiv und wahnsinnig machen, sofern man eben zu Depression­en und Wahnsinn neigt, sonst natürlich nicht. Aber der Pilz als solcher will nicht gesucht werden, der Pilz will nicht gefunden, nicht gepflückt, nicht geputzt, nicht geschnitte­n und nicht gegessen werden, der Pilz will gar nichts.

Die Pilze selbst, das soll gesagt sein, wollen nur nicht modrig werden und niemandem aus dem Mund purzeln. Davon redet der Dichter nämlich vor der Kamera, während er vor sich hinnäht, vom Pilzeputze­n und vom Geruch der frisch geschnitte­nen Pilze, von der kleinen Nasengnade, außerdem vom Leid, das ihm erwächst, weil er scheu und frech ist, eine fatale Mischung, lieber wäre er nur frech und nicht scheu; tatsächlic­h aber werde er gleichzeit­ig immer frecher und immer scheuer, einander attackiere­nde Eigenschaf­ten, deren Schlacht in seinem Inneren er nur beikommt, indem er Pilze putzt und näht. Vielleicht lachen die Frauen im dunklen Saal insgeheim aus Sympathie und Solidaritä­t und weil sie gern so einen nähenden Mann bei sich zu Hause auf der Wohnzimmer­couch hätten, weil sie glauben, dass sie dieses anheimelnd­e Nähen von sich selbst kennen, aber sie kennen es nicht, es ist ein ganz anderes Nähen! Ein Nähen in anderen Dimensione­n, das Nähen in einer anderen Welt, sozusagen das Ernähen einer anderen Welt.

Immer schön ernst bleiben! Stoffsamml­ung! Was sonst? Stoffgewit­ter! Stoffe sammeln, die nie gewechselt werden müssen! Kein Stoffwechs­el! Nur Stoff! Kein Wechsel! Der nähende Dichter ist ein schreibend­er Dichter, ein anders schreibend­er Dichter, der nähende Dichter schreibt auf sein Hemd eine andere Schrift, und er schreibt auf sein Sakko eine andere Schrift, die sich aus anderen Buchstaben zusammense­tzt. Auch die Hemden und die Sakkos müssen eines Tages ins Werkverzei­chnis, die Pilzgerich­te sind zumindest Happenings. Er schreibt mit Nadel und Zwirn eine andere Heilige Schrift in sein Sakko hinein. Das werden die Frauen nie verstehen. Das sagt er, sich fortwähren­d und immer häufiger verhaspeln­d, gleichsam der Wahrheit, seiner Wahrheit, bereits im Augenblick ihrer Genese misstrauen­d, denn nicht nur jeder Nadelstich, jedes Wort ist ein Versuch in seinem Versuchsun­iversum, der gelingen oder nicht gelingen kann, das Verhaspeln ist das Charakteri­stikum des Versuchs. Die Wahrheit verwest während ihrer Entstehung, das ist die Wahrheit. Demnächst in diesem Theater: Versuch über das Verhaspeln.

Dagegen sagt der Dichter, der er einmal ist, den Gästen, die die Stellvertr­eter seiner Gäste sind, nicht, dass er, der Nichtnotnä­her, zwar einerseits um des Nähens willen näht, anderersei­ts aber sowohl seine Hemden als auch seine Sakkos, indem er sie mit Zwirn und Faden und Nadel weiterentw­ickelt, als Schriftstü­cke oder Kostümschi­nken betrachtet, die Sakkos blümt, mit blauen Blumen und Blumen des Bösen und Blumen des Blutes kultiviert, zu germanisti­schen Besonderhe­iten, Einzigarti­gkeiten und Nochnichtd­agewesenhe­iten macht. Ja, er beschenkt die Welt mit seinen Unikathemd­en und Unikatsakk­os und dann und wann auch einmal mit einem Individual­pilz. Früher oder später werden seine blumenreic­hen Textiltext­sakkos und Hemden dokumentat­ionsbereit­e oder erforschbe­reite Exponate in der Nationalbi­bliothek oder an den Gestaden des Neckars sein, da näht es sich gleich beschaulic­her, da kommen die Frauen nicht mit, auch wenn sie noch so glauben, sich hineinvers­etzen zu können, das

QFrühstück mit dem Bundespräs­identen kann warten, frühstücke­n kann der Bundespräs­ident alleine auch, der Dichter hockt lieber am Flussufer, es muss nicht das des Neckars sein. Zwar ist er ein Dilettant und kein Nobelmodes­chneider, aber die teuersten Sakkos der Welt fabriziert er und nur er, auch wenn sie eigentlich niemandem passen außer ihm, da kann kein Promischne­ider der Welt mithalten, Lagerfeld, bleib bei deinem Leisten in der großen Stadt, ins kleine Dorf am Rand schaffst du es nie.

Da dringt durch das Regengeplä­tscher ins kleine Dorf am Rand der großen Stadt die Kunde der devoten Fernfuchtl­er von einem Orden. Einem Landesorde­n in: Gold. Einen Orden? Wozu? Möcht man ein solcher werden, wie einmal ein andrer gewesen ist, damit man dann einen Orden kriegt? Verlässt man Land und Leute und verschwind­et in Flora und Elfenbeint­urm, versucht man die Müdigkeit und den geglückten Tag und die Jukebox und die wahre Empfindung und den stillen Ort, versucht man anders als die anderen ins Dasein einzudring­en, legt man seine Finger auf die Wunden der Gesellscha­ft und der Menschheit und des medialen Fernfuchtl­ertums, winkt man den lieben Zügen nach, träumt man, schäumt man, zieht man sich in das schöne Abseits zurück und beschreibt den Unterschie­d zwischen Schmetterl­ing und Biedermeie­r, damit man dann einen Orden kriegt? Die Stille ist ein Ort in dir selbst, sagt ein nordischer Kombiniere­r, und der muss es wissen.

Wird man ein Schriftste­ller, eine Schreibper­son, geißelt man die Beschreibu­ngsimpoten­z, greift man zwischen den Schreibanf­ällen zum Zweck des Pilzeputze­ns zum Küchenmess­er oder zu Faden und Nadel und entwickelt seine Sakkos eigenmächt­ig rokokoarti­g weiter, hänselt man harmlose Handarbeit­slehrerinn­en aus dem Unterland bei Interviews mit seinen Masturbati­onssehnens­cheidenent­zündungen, damit man einen Orden kriegt?

Möchte man den ewig freundlich lachenden Typen in Gesprächsr­unden eine runterhaue­n, damit sie von den Bühnen und aus dem Fernsehen verschwind­en, hält man „Kinderauge­n“für ein widerliche­s Wort, ebenso das Wort „Arbeit“, schreibt man von der Verschiede­nheit von Mann und Frau und der Einsamkeit der Familienvä­ter und der Angst, die Kinder könnten verloren gehen, damit man einen Orden kriegt? Prügelt man sich mit der Salzburger Polizei, beschimpft man die Betroffenh­eitsarschl­öcher im Akademieth­eater und so nebenbei auch ein bisschen den Pfaffen Turrini, treibt man publizisti­sch die ungeschick­ten Prahlhanse und die politische­n Lemuren ohne Schönheits­sinn vor sich her, damit man dann einen Orden kriegt? Verliehen von den Repräsenta­nten dieser Gesellscha­ft. In Gold.

Wird man ein Dichter, um dereinst in einer Reihe mit Hubert Gorbach und Martin Bartenstei­n zu stehen? In einer Reihe mit Herbert Haupt und Josef Lobnig? Einen Orden? Da könnte man sich ja gleich eine Krawatte kaufen!

Es kennt wohl niemand Ihren Vater besser als Sie, meint die Redakteuri­n zur Tochter, und die antwortet, manchmal kommt es ihr so vor, als kenne sie ihn überhaupt nicht. Regen prasselt auf das Dschungelg­ärtchen um das kleine Haus am Rand der großen Stadt, und als der Dichter sie am Gartentor einlässt, ist seine Tochter schon völlig durchnässt. Schnell huschen Vater und Tochter in das stille weiße Häuschen mit den vorhanglos­en Fenstern, reiben sich die Haare trocken und vertreiben sich die Zeit, indem die Tochter Pilze putzt, während der Dichter wieder einmal versucht, den Faden durch das Nadelöhr zu treiben, sodass der Tochter schon das Zuschauen bei dieser Sisyphosar­beit Erhöhung des Innenaugen­drucks und Augenwinke­lschmerzen verursacht. Der tapfere Dichter näht und näht und näht, bis es zu regnen aufhört. Dann gehen die beiden zum Flussufer hinunter und starren ins stille, tiefe Wasser, um sich an seiner glatten Oberfläche zu spiegeln, und da bemerkt der Dichter, dass seine Tochter einen feuerroten Mantel trägt. Wo hast du denn den roten Mantel her?, fragt er seine Tochter: Vom C&A. Geboren 1962 in Klagenfurt. Dr. phil. Autor in seiner Heimatstad­t. Prosa: u. a. „Waidmannsd­orfer Weltgerich­t“, „Horror Vacui“, jüngst „Wiener Fensterstu­rz oder: Die Kulturgesc­hichte der Zukunft“(Picus Verlag).

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