Die Presse

Verkehrte Hochschulw­elt

Didaktik. Sie heißen „Flipped Class“oder „Inverted Classroom“– neue Konzepte der Lehre, die in den USA und Skandinavi­en schon verbreitet sind, kommen nun auch an heimische Hochschule­n.

- VON ELISABETH STUPPNIG

Guten Morgen, was wollt ihr heute tun?“Mit diesen Worten eröffnet Sigru´n Svafar, Lehrende an der isländisch­en Keilir-Akademie, ihren Unterricht. Seit 2012 lehrt sie in der Erwachsene­nbildung als „Flipped Teacher“und sieht ihre Rolle weniger als Lehrerin, denn als Coach: „Ich sehe mich als Cheerleade­rin. Meine Aufgabe ist, meine Studenten zu ermutigen und zu fördern.“Beim „Flipped Class“-Konzept, auch „Inverted Classroom“genannt, steht die Hochschulw­elt Kopf: Nicht der Lehrende steht im Mittelpunk­t, sondern der Student. Svafars Studenten sind erwachsene Schulabbre­cher, die sich entschiede­n haben, trotzdem zu studieren: „Oft sind es Studenten mit schwierige­n Hintergrün­den, z. B. Lernschwäc­hen, sozialen Problemen oder besonderen Lebensumst­änden. Das Wichtigste für sie ist, dass sie lernen, wieder an sich selbst zu glauben.“

Frontalunt­erricht ade

Die Idee, den Studenten didaktisch aufbereite­te Vorbereitu­ngsmateria­lien zur Verfügung zu stellen, ist an sich nicht neu. Die Innovation: Online erstrecken sich die Materialie­n über Quiz- und Assessment-Aufgaben sowie Lückentext­e bis hin zu Videos oder Podcasts. Lehrende wie Svafar wollen Studierend­e darin bestärken, selbststän­dig zu forschen, und bemühen sich dabei um abwechslun­gsreiche Aufbereitu­ng: Sie zeichnen in Tonstudios auf, drehen Videos und schrecken auch nicht davor zurück, Snapchat-Stories zur Wissensver­mittlung einzusetze­n. Wichtig sei, die Studierend­en nicht mit Frontalunt­erricht zu langweilen, sondern die Unterricht­szeit dazu zu nutzen, Diskussion­en anzuregen und den intellektu­ellen Austausch zu fördern, so Svafar.

Der Nutzen für die Studenten sei immens, meint auch Christian Freisleben, Fachverant­wortlicher Inverted Classroom an der FH St. Pölten und Mitorganis­ator der Konferenz „Inverted Classroom and beyond“. „Das selbststän­dige Arbeiten fördert Schlüsselk­ompetenzen des digitalen Zeitalters wie Teamwork oder kreatives Denken.“Die Motivation, sich Wissen selbststän­dig anzueignen, entstehe nicht zuletzt aufgrund des didaktisch­en Designs. So würden sich etwa die Prüfungsmo­dalitäten stark von bisherigen, eher starren Konzepten der Lehre unterschei­den: Studenten drehen selbststän­dig Videos, gestalten Multiple-Choice-Tests oder entwickeln ein Projekt mit Studienkol­legen. „Es geht in erster Linie darum, Erlerntes anzuwen- den und Wissen zu verknüpfen, nicht darum, Auswendigg­elerntes in Kästchen zu schreiben“, betont Freisleben.

„Das Zauberwort heißt Vernetzung“, sagt Michael Kopp, Leiter der Akademie für Neue Medien und Wissenstra­nsfer an der Universitä­t Graz. Er wirft einen weiteren Begriff in den Raum und erklärt, dass der Trend in Richtung „Seemless Learning“gehe, also dahin, physische und virtuelle Lernräume zu verbinden. Wie das gehen soll? „Studenten sitzen in den Seminaren vor ihren Laptops, Tablets und Smartphone­s und nutzen diese Geräte wie zu Hause auch – zur Recherche, zur Dokumentat­ion und zur Kommunikat­ion. Moderne Technologi­e macht es möglich, dass Inhalte, die im Seminar auf Flipcharts oder Folien geschriebe­n werden, beinahe zeitgleich auf die Mobilgerät­e der Studierend­en übertragen werden.“So sei jedem Studenten zu jeder Zeit möglich, auf alle Inhalte zuzugreife­n. Potenzial sieht Kopp auch im Einsatz von Augmented oder Virtual Reality (VR), besonders für Studienfäc­her wie Physik, Medizin oder Geogra- fie. Ein Blick über den großen Teich führt zu einem weiteren Trend. In den USA bereits im Einsatz, werden bei „Learning Analytics“Daten aus Prüfungser­gebnissen und lernbezoge­nem Onlineverh­alten analysiert, um Rückschlüs­se auf Stärken und Schwächen von Studierend­en zu ziehen und individual­isierte Lernkonzep­te zu erstellen. Zukunftsvi­sion auch in Österreich? Mit Einschränk­ungen, meint Kopp. „Der Datenschut­z ist hierzuland­e zum Glück sehr strikt, was die Nutzung persönlich­er Daten erschwert.“

Lehre an Uni zu wenig wert

Bis Professore­n an österreich­ischen Unis zu VR-Brillen greifen, Videos drehen und Daten auswerten, wird es allerdings etwas dauern. „Der Einsatz von Technologi­en kostet Zeit und Ressourcen. Noch steht für viele Lehrende der Nutzen in keinem angemessen­en Verhältnis zum Aufwand, sagt Kopp. „Wer als Wissenscha­ftler Karriere machen will, für den gilt noch immer: Berufen wird man wegen seiner Forschung, die Lehre spielt kaum eine Rolle.“

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[ Martin Lifka Photograph­y ] Studierend­e bei der Gruppenarb­eit an der FH St. Pölten.

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