„Sehr ernstes Risiko einer neuen Krise“
Als EZB-Präsident musste Jean-Claude Trichet die Märkte beruhigen. Heute darf er warnen: Das System ist verwundbarer als 2007. Von Reformen hält er viel, von Bitcoin nichts.
Als EZB-Präsident musste JeanClaude Trichet die Märkte beruhigen. Heute darf er warnen: Das System ist verwundbarer als 2007.
Die Presse: Die Weltwirtschaft läuft rund. Müssen wir uns trotzdem Sorgen machen? Jean-Claude Trichet: Wir erleben eine Wachstumsperiode, die in den USA schon lang andauert. Also werden wir in absehbarer Zeit unvermeidlich eine Rezession haben. Und das Umfeld dafür ist viel schwieriger als früher. Die großen Zentralbanken haben ihr Pulver verschossen, durch ihre ultralockere Geldpolitik, die in der Krise notwendig war. Damit bleibt kaum Spielraum, um im Abschwung entgegenzuwirken. Das Gleiche gilt für die staatlichen Haushalte, die sich in den meisten Staaten verschlechtert haben.
Eine der wichtigsten Lektionen der Krise war doch: Wir müssen die Schulden reduzieren. Hat denn das nicht funktioniert? Von der Jahrtausendwende bis 2008 stieg die öffentliche und private Verschuldung weltweit von 250 auf 275 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Eine der Hauptursachen der Krise war diese Überschuldung. Sie werden sicher glauben, sie sei nun gestoppt oder zumindest habe sich der Zuwachs abgeschwächt. Aber von wegen! Tatsächlich ist es im gleichen Tempo weitergegangen. Heute stehen wir bei 300 Prozent. Das ist beunruhigend. Die stark vernetzte Weltwirtschaft ist heute verwundbarer, als sie es 2007 war. Nach diesem Indikator gibt es ein sehr ernstes Risiko einer neuen internationalen Finanzkrise.
Aber es ist doch die Politik der Zentralbanken, die alle dazu treibt, sich günstig zu verschulden und auf den Märkten ins Ri- siko zu gehen. Ist das Heilmittel gefährlicher als die Krankheit? Das glaube ich nicht! Die Entscheidungen waren die besten, die man unter diesen dramatischen Umständen treffen konnte, in Europa wie in Amerika. Sie waren außergewöhnlich, weil die Krise besonders gefährlich war. Sie hätte schlimmer enden können als 1929. Aber mein Nachfolger Mario Draghi sagt ständig, so wie früher ich: Die EZB kann nur erfolgreich sein, wenn auch Regierungen, Parlamente und Sozialpartner aktiv werden. Wir brauchen überall strukturelle Reformen.
Aus welcher Ecke kommt dieser Anstieg der Schulden? Vor der Krise waren zu 90 Prozent die Industriestaaten für das Anschwellen der Schulden verantwortlich, heute nur noch zur Hälfte. Nach der Krise haben die Schwellenländer, China und viele andere rasch am Schuldenmachen Vergnügen gefunden. Wenn das Risiko schlagend wird, dann wird der Auslöser dieses Mal wahrscheinlich in den aufstrebenden Volkswirtschaften liegen. Aber um das Finanzsystem widerstandsfähiger zu machen, muss überall viel geschehen. Eine der Reformen, auf die Sie drängen, ist ein Euro-Finanzminister. Warum genügt es nicht, endlich wirklich die MaastrichtRegeln einzuhalten? Ich bin völlig dafür, die Regeln streng einzuhalten. Aber ein Binnenmarkt mit gemeinsamer Währung, der so groß ist wie die USA, braucht eine einzelne Person, die sich darauf konzentriert. Jetzt haben wir einen Vorsitzenden der Euro-Gruppe, der gleichzeitig zwei Verantwortlichkeiten hat, weil er auch Finanzminister seines eigenen Landes ist. Bei den Regeln geht es aber nicht nur um den alten Stabilitätspakt. Wir dürfen auch nicht so wie früher einfach zusehen, wenn die Unternehmen an Wettbewerbsfähigkeit verlieren und Staaten Leistungsbilanzdefizite anhäufen – so lang, bis die Krise da ist.
Umgekehrt wird Deutschland von vielen Seiten für seine hohen Handelsüberschüsse gerügt . . . Deutschland hat es gut geschafft, fast Vollbeschäftigung zu erzielen. Das ist ein sehr großer Erfolg. Aber wenn die Marktwirtschaft richtig funktioniert, muss sie jetzt dazu führen, dass deutsche Ersparnisse auch stärker in Deutschland investiert werden, in Maschinen und Infrastruktur, und dass die Löhne stärker steigen. Es ist doch sehr fraglich, ob es im Interesse der Deutschen ist, wenn sie über drei Jahre ein Viertel ihrer Wirtschaftsleistung anderen verleihen und im Ausland anlegen!
Sie fordern auch ein gemeinsames Budget für die Eurozone. Bei uns denken viele: Das wäre nur der erste Schritt zu einem permanenten Transfer von Mitteln aus Staaten mit soliden Haushalten in solche mit nicht soliden. Fürchten Sie das nicht? Ein gemeinsames Budget sollte eine Art Stabilitätsfonds sein, der den Konjunkturzyklus begleitet. Er würde in guten Zeiten Mittel ansammeln, die dann später einer Rezession entgegenwirken können. Man könnte damit auch Ländern helfen, die schwierige strukturelle Reformen angehen. Aber ich bin gegen einen dauerhaften Transfermechanismus.
Was halten Sie denn von Bitcoin und von Kryptowährungen im Allgemeinen? Als es mit diesen Kryptowährungen losging, erklang ein Loblied auf anonyme Transaktionen und darauf, dass man sich damit so weit wie möglich von Zentralbanken und Staaten entfernen kann. Dieses Konzept ist völlig inakzeptabel. Es läuft auf ein geheimes Instrument hinaus, mit dem man Verbrechen wie Betrug und Terrorismus finanziert. Zuerst einmal müssten also Kryptowährungen vollständig transparent werden. Aber sie sind ja in Symbiose mit der Blockchain entwickelt worden. Vielleicht kann man diese Technologie, mit der man Konten dezentralisiert, von ihnen ablösen und sie für normale Währungen einsetzen. Bisher passt auf so etwas wie Bitcoin nicht einmal das Wort Währung. Schon Aristoteles wusste: Eine Währung, die diesen Namen verdient, sollte auch ein gutes Mittel sein, um Wert zu bewahren. Wir sind uns alle einig, dass Bitcoin diese Eigenschaft aktuell nicht besitzt. Heute ist es einfach ein Spekulationsinstrument. Punkt.