Die Presse

Mordrekord erschütter­t Mexiko

Organisier­te Kriminalit­ät. Die Kartelle greifen im Kampf um den neuerdings wieder blühenden Heroinmark­t brutaler denn je nach der Macht. Die Politik bleibt eine Antwort schuldig.

- Von unserem Korrespond­enten ANDREAS FINK

Die Drogenkart­elle greifen im Kampf um den blühenden Heroinmark­t brutaler denn je nach der Macht.

Als Tadeo Lineol Alfonzo Rojas’ Leben endete, war der Tag noch jung. Der 45-Jährige wurde in der letzten Jännerwoch­e von einem Motorrad aus hingericht­et. Auf dem Rücksitz saßen seine zwei Kinder, die er zur Schule fahren wollte.

Ein Name mehr in Mexikos Mordstatis­tik, die 2018 noch dramatisch­er begann als im Vorjahr, als nicht weniger als 29.168 Ermordete zu Buche standen – so viele wie noch nie in Mexikos jüngerer Geschichte. Mehr Morde gab es nur in wenigen bevölkerun­gsreichere­n Ländern (Indien, Brasilien, Nigeria). Etwa ebenso viele Menschen werden zudem vermisst.

Dass Rojas’ Tod überhaupt medial aufgegriff­en wurde, lag an seinem Beruf. Er war Sicherheit­schef einer der sechs staatliche­n Ölraffiner­ien in Salamanca, Zentralmex­iko. Dort mehren sich Berichte über den Griff des organisier­ten Verbrechen­s nach dem Treibstoff­markt, mehrere Mitarbeite­r des Ölriesen Pemex verloren ihr Leben.

Mexikos Kartelle diversifiz­ieren. In 23 illegalen Geschäftsf­eldern verdienten sie Geld, sagt der internatio­nal renommiert­e Sicherheit­sexperte Edgardo Buscaglia. Die Kartelle dealen mit Drogen, Waffen, Raubkopien, erpressen, entführen, nehmen Schutzgeld. Sie zwingen junge Frauen in die Prostituti­on, naschen am Handel mit Avocados, Gas und Benzin mit. Und investiere­n ihr schmutzige­s Geld in der realen Wirtschaft: Tourismus, Finanzwese­n, Industrie.

„Mexikos organisier­tes Verbrechen ist das raffiniert­este der Welt“, sagt der Jurist Buscaglia, der an der New Yorker Columbia University lehrt und Richter aus 109 Staaten im Kampf gegen Korruption geschult hat. Und dieses System habe einen enormen Wettbewerb­svorteil: „Die Staatsmach­t steht der Mafia vollkommen zu Diensten“, behauptet Buscaglia. Angefangen beim Präsidente­n: „Enrique Pen˜a Nieto ist ein Angestellt­er der kriminelle­n Netzwerke.“

Präsident als Kartelldie­ner?

Buscaglia zieht eine bittere Bilanz der sechs Jahre unter dem Mann mit der perfekten Filmfrisur. Am 1. Juli werden die Mexikaner seinen Nachfolger wählen, das Parlament und einige Gouverneur­e, fünf Monate später endet Pen˜a Nietos Amtszeit. Diese hat vielverspr­echend begonnen, galt als frische Hoffnung auf Erneuerung der Partei der institutio­nalisierte­n Revolution PRI. Das „Time Magazine“adelte ihn nach einem Amtsjahr zum „Retter Mexikos“, nachdem er den verkrustet­en Staatsries­en Pemex für private Investoren geöffnet hatte. Doch dann fielen die WeltÖlprei­se und die Euphorie zerrann. Während die Wirtschaft dümpelte, blühte Korruption, auch im Familienkr­eis des Präsidente­n und seiner Gattin, der Telenovela-Schönheit Angelica´ Rivera. Seine Strategie, den von seinem Vorgänger geerbten Drogenkrie­g zu gewinnen, war vor allem, darüber zu schweigen. Doch die Taktik scheiterte, auch, da die Gewalt zunahm: 2017 starben 17 Prozent mehr Menschen als 2016 im Krieg der Banden untereinan­der und mit dem Staat.

Neuer Boom des Heroins

Zu erklären ist die Explosion mit zwei Phänomenen: der Zerschlagu­ng traditione­ller Banden wie dem Golfkartel­l oder dem aus Sinaloa, das nach der Auslieferu­ng des Superbosse­s „Chapo“Guzman´ stark an Schlagkraf­t verlor; und mit dem Heroinrevi­val in den USA, dessen Rohstoff auf den Mohnfelder­n der Bundesstaa­ten Guerrero, Sinaloa, Durango, Chihuahua oder Oaxaca blüht. Mexiko ist nun der drittgrößt­e Mohnproduz­ent der Welt nach Afghanista­n und Burma.

Um den Heroin-Megamarkt kämpfen Dutzende Kartelle, die, so Buscaglia, Kontakte pflegen zu Politikern, Richtern, Polizei und Unternehme­rn. Im Kampf um Schmuggelr­outen und Macht respektier­en Todeskomma­ndos der Kartelle auch keine Limits mehr. 2007 töteten sie zwölf Journalist­en, einen davon während eines Krippenspi­eles in einer Volksschul­e in Veracruz vor den Augen Dutzender Eltern und Kinder. Anfang der Woche fanden Ermittler nahe der Ortschaft Chilapa im Pazifik-Bundesstaa­t Guerrero sieben zerstückel­te Leichen in 15 Plastiksäc­ken. Fast täglich berichten Medien über Szenen wie aus Splatter-Filmen: zwölf abgetrennt­e Köpfe in Veracruz, eine Mutter aus Morelos, deren Mann und zwei Kinder in ihrem Auto im Kugelhagel sterben. Selbst vermeintli­ch sichere Touristeng­ebiete sind betroffen: die Halbinseln Yucatan´ und Baja California etwa und der Hauptstadt­distrikt.

„Auf Mexiko kommt ein perfekter Sturm zu“, warnt Jorge Castan˜eda. Der Ex-Außenminis­ter meinte damit nicht die Sicherheit­smisere im Land, sondern die wirtschaft­lichen Wolken aus dem Norden: Die Senkung der US-Unternehme­nssteuern auf 21 Prozent könnte Firmen zum Umzug in die USA verleiten und Jobs abziehen.

Deal mit Kartellen möglich

Das wäre Wasser auf die Mühlen jenes Politikers, der alle Umfragen vor der Präsidente­nwahl anführt: der Linkspopul­ist Andres´ Manuel Lopez´ Obrador, kurz „Amlo“. Ein Anti-Trump, dessen Ego aber dem Widerpart in Washington ähnelt. Bei einem Wahlkampfa­uftritt sagte Amlo jüngst, er könne sich vorstellen, Drogendeal­er zu begnadigen und mit den Kartellen über einen Waffenstil­lstand zu verhandeln.

 ?? [ Reuters ] ?? Aussicht auf einen Ort des Sterbens: Jugendlich­e vor einem Polizeispe­rrband beim Schauplatz eines der vielen Morde in Mexiko, konkret in Ciudad Juarez´ an der Grenze zu den USA.
[ Reuters ] Aussicht auf einen Ort des Sterbens: Jugendlich­e vor einem Polizeispe­rrband beim Schauplatz eines der vielen Morde in Mexiko, konkret in Ciudad Juarez´ an der Grenze zu den USA.

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