Schaulustige: „Manche verteidigen Recht auf Foto sehr aggressiv“
Unfälle. Einsatzkräfte kritisieren immer dreistere Schaulustige. Psychotherapeut Norbert Neuretter glaubt, dass die Technik das Problem verschärft.
Bei gleich zwei Unfällen in der vergangenen Woche hatten Einsatzkräfte mit dreisten Schaulustigen zu kämpfen. Am Montag wurde am Wiener Gürtel eine 19-Jährige von einen Lkw überrollt und getötet. Am Mittwoch wurde in Linz ein Vater (35), der mit seinem Baby im Kinderwagen unterwegs war, von einem Auto niedergefahren (beide überlebten). In beiden Fällen versammelte sich eine Menschenmenge, die ihr Recht, den Unfall inklusive Schwerverletzten zu filmen und zu fotografieren, als wichtiger einstufte, als den Einsatzkräften zumindest nicht im Weg zu stehen.
„Das Phänomen der Schaulustigen hat es immer schon gegeben, neu sind aber die Technik und die Möglichkeit, das Bild sofort zu verschicken. Damit kann man offenbar beweisen: Ich war dabei, also bin ich wichtig“, sagt Christian Feiler, der seit 29 Jahren bei der Berufsfeuerwehr Wien tätig ist. Er kri- tisiert auch die Angebote von Boulevardmedien, sogenannten Leserreportern für Unfallfotos ein Honorar zu bezahlen. „Das hat leider sehr stark zugenommen. Den Leuten ist nicht bewusst, dass sie sich selbst in Gefahr bringen und auch die Einsatzkräfte behindern. Vom ethischen Aspekt rede ich noch gar nicht“, sagt Feiler.
Derzeit sei die Feuerwehr, ebenso wie andere Einsatzkräfte, bei Unfällen (je schlimmer übrigens, desto mehr Schaulustige) damit beschäftigt, schnell und ungestört zu helfen. „Noch wollen wir das Foto nicht verhindern, sondern einfach frei arbeiten.“Es komme aber durchaus vor, dass man sich mit Löschdecken helfe, die vor die verletzte Person gespannt wird. Die mobilen Sichtschutzwände, wie sie die Kollegen in Wiener Neustadt bereits verwenden, sind für die Wiener Feuerwehr aber derzeit kein Thema. Einerseits, weil sie im dicht verbauten Gebiet nicht im- mer leicht aufzubauen sind. Andererseits, weil man damit nicht viel verhindern kann. „Dann fotografieren sie eben aus dem dritten Stock.“Und: „Unsere Fahrzeuge sind immer gut gefüllt. Was lassen wir zu Hause, wenn wir die Wände mitnehmen?“Bei Unfällen auf der Autobahn seien sie hingegen durchaus sinnvoll, immerhin lassen sich durch den Sichtschutz Folgeunfälle auf der Gegenfahrbahn vermeiden. „Manche Leute bleiben tatsächlich auf der Autobahn stehen, um ein Foto zu machen.“
Wenn sich Feuerwehrleute nicht zu helfen wissen, komme es schon vor, dass sie die Polizei um Unterstützung bitten. Sie könne den Unfallort großräumig absperren, wobei auch das in der Stadt nicht immer einfach ist. Oder aber man weist Personen weg, die eine Amtshandlung stören. Auch Verwaltungsstrafen seien möglich. „Diese liegen bei mehreren Hundert Euro“, sagt dazu Harald Sörös, Sprecher der Polizei Wien. Wie oft das vorkomme, könne er nicht sa- gen, da es keinen „eigenen Gafferparagrafen“gäbe. „Womöglich würden höhere Strafen schon eine abschreckende Wirkung haben“, sagt Sörös. Er sehe dieses Phänomen durchaus kritisch oder vielmehr als pietätlos an, wie er sagt. Denn selbst wenn Schaulustige die Einsatzkräfte nicht stören – „das ist für die Einsatzkräfte und die Betroffenen trotzdem sehr unangenehm. Zwischen rechtlich nicht verboten und in Ordnung liegen Welten.“
Neben Strafen (wegen Störung einer Amtshandlung) setzt man bei Feuerwehr, Rettung und Polizei auf Aufklärung in sozialen Medien. Dort kursieren Videos, die an den Respekt vor anderen erinnern.
Stellt sich nur die Frage, warum und wann eigentlich dieser Respekt verloren gegangen ist. Norbert Neuretter, Psychotherapeut und früherer Bewährungshelfer, meint dazu, dass die Neugierde und die Lust am Leiden der anderen alles andere als neu seien. Im- merhin haben schon die alten Römer ihren Gladiatoren gern beim Kämpfen und Leiden zugesehen. Zwei Aspekte spielen beim Voyeurismus mit: „Man identifiziert sich mit der Person und hat gleichzeitig die Möglichkeit, sich zu distanzieren, weil man nicht selbst betroffen ist“, sagt er. Man sei also froh, dass es einen nicht selbst erwischt hat. Verstärkt wird diese Distanz durch die Kamera, oder vielmehr das Smartphone, in der Hand. Das führe zu einer Entfremdung. „Die Leute glauben, sie können Reporter spielen“, sagt Neuretter. Oder wie es Feuerwehrmann Feiler ausdrückt: „Manche verteidigen ihr Recht auf ein Foto sehr aggressiv.“
Dass das so Dokumentierte sofort weitergeschickt wird, erklärt Neuretter mit einem Mangel an Intimsphäre. Hinzu komme eine gewisse Sensationsgeilheit, „weil unser Leben so attraktionslos sei“, so Neuretter. Er glaubt, dass das Problem noch zunehmen wird, da sich die Technik – Stichwort Drohnen – immer weiter entwickelt.