Der wahre Preis der Medizin
Kosteneffizienz spielt in Österreichs Gesundheitssystem eine eher untergeordnete Rolle. Das soll sich mit Hilfe europäischer Standards ändern. Doch noch fehlen die Daten dazu.
Wer bekommt eine neue Hüfte? Wie lange wartet man wo auf ein neues Knie? Ist es wirklich sinnvoll, alle Frauen zwischen 45 und 69 alle zwei Jahre zur Mammografie zu schicken? Solche Fragen beschäftigen nicht nur die Gesundheitspolitik. Sie beeinflussen das Leben vieler Menschen in Industrieländern. In der EU sind die Gesundheitskosten zwischen 1972 und 2010 von 4,5 Prozent auf acht Prozent des Nationaleinkommens (Bruttonationalprodukt, BNP) gestiegen. Die Konkurrenz der verschiedenen Interessengruppen um die Ressourcen wächst mit.
Grundsätzlich entscheidet die Gesellschaft darüber, wie viel Geld sie für die Prävention und die Behandlung von Krankheiten einsetzen will. Forschung und Industrie erweitern ständig ihr Angebot an Medikamenten, Behandlungsmethoden und technischen Möglichkeiten. Gesundheitspolitiker und Krankenkassen verteilen die Mittel auch auf Basis von Berichten zur Folgenabschätzung von Medizintechnik (siehe Lexikon).
Doch auf welcher Faktenbasis und nach welchen Kriterien werden Entscheidungen letztlich getroffen? Die Gesundheitsökonomin Judit Simon von der MedUni Wien sagt: „Priorität haben die Behandlungsoptionen, die preiswert sind, das heißt, dem eingesetzten Geld einen hohen Gegenwert bieten.“
Simon hat lange in England geforscht und koordiniert nun ein neues EU-Projekt, das die Gesundheitsversorgung in Europa verbessern soll, indem die vorhandenen finanziellen Mittel gezielter eingesetzt werden. „Pecunia“will standardisierte Methoden für die Ermittlung von Kosten und Ergebnissen in sechs EU-Mitgliedstaaten entwickeln, darunter neben Österreich auch Ungarn, Spanien, Großbritannien, Deutschland und die Niederlande.
Alle Kosten sollten einbezogen werden, die beispielsweise durch psychische Erkrankungen nicht nur im Gesundheitssystem, sondern auch für das Sozialsystem, das Bildungs- oder Justizsystem oder auch im privaten Umfeld entstehen. Die teilnehmenden Staaten haben unterschiedliche Gesundheitssysteme und vor allem auch unterschiedliche Entscheidungsstrukturen. Die Daten sind derzeit kaum vergleichbar.
Deshalb wollen die Forscher in dem eben gestarteten, mit knapp drei Millionen Euro ausgestatteten Projekt, zunächst die Methoden zur Berechnung der Kosten standardisieren. Damit werde es möglich, die Kosteneffizienz der verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten zu vergleichen und mittel- passiert in Österreich am Ludwig-Boltzmann-Institut für HTA (Health Technology Assessment) an der Med-Uni Wien. Die Berichte sollen Informationen über medizinische Technologien, Hilfsmittel und Abläufe, aber auch über Organisationsstrukturen bündeln, in denen medizinische Leistungen erbracht werden und so Entscheidungshilfen für Politik und Kassen bei Reformen bieten. fristig nationale Kostenprogramme einzuführen. „In England und Holland gibt es sie bereits, in Österreich fehlen sie“, sagt Simon.
Nach Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der OECD, machten Gesundheitskosten 2015 zwischen zehn und elf Prozent des österreichischen BNP aus. Dabei fiel der größere Teil im Krankenhaus, der kleinere in der ambulanten Versorgung an.
Durch die starke Aufsplitterung der Versorger und Kostenträger, die große Zahl an Krankenkassen und das Fehlen verlässlicher Kostendaten gibt es laut Simon in Österreich derzeit keine Möglichkeit, die exakte Kosteneffizienz der eingesetzten Mittel zu überprüfen. Entscheidungen fallen weniger vor dem Hintergrund der Kosteneffizienz, sondern oft als Folge von Verhandlungen zwischen den verschiedenen Interessensgruppen im Gesundheitssektor. „Der Aspekt der Kosteneffizienz muss in Österreich bisher nicht verpflichtend in Entscheidungen einbezogen werden, das sollte sich ändern“, sagt Simon.
Dass in Österreich umfassende Daten fehlen, führt die Forscherin auch darauf zurück, dass Entscheidungsträger keine Anreize dafür setzen, Transparenz zu schaffen: „Viele dieser notwendigen Daten werden zwar gesammelt, der Zugang dazu ist aber nicht ohne weiteres möglich. Deshalb ist auch oft nicht nachvollziehbar, auf welche Weise Prioritäten gesetzt werden.“
Simon sagt: „Wann immer Geld für eine bestimmte Behandlungsmöglichkeit ausgegeben wird, wird dieser Betrag an anderer Stelle fehlen. Wichtig ist daher, die Kosten-Nutzen-Daten der einzelnen Behandlungsmöglichkeiten miteinander vergleichbar zu machen, damit Entscheidungen im Gesundheitssystem auf objektiver Grundlage getroffen werden können, und Effizienz und Nachhaltigkeit verbessert werden.“Ziel des „Pecunia“-Projektes sei es, länderübergreifend Methoden zu entwickeln, damit dieser Vergleich möglich wird.
Ethische Aspekte klammert es dabei bewusst aus. Aufgeklärte Wähler werden künftig darüber befinden müssen, welche Rolle diese bei gesundheitspolitischen Entscheidungen spielen sollen.