Drei Viertel des Wegs zur Hölle
Zwischen den jeweils neuen Romanen des 1948 geborenen US-Autors T. C. Boyle erscheint meist ein Band mit Erzählungen. Das ist auch diesmal so. Er trägt zwar den Titel „Good Home“, ist aber ironisch gemeint. Denn nicht Zufriedenheit und Behaglichkeit seiner Protagonisten stehen in fast allen der 20 Geschichten im Zentrum, sondern ihr Alltagskampf ums Überleben, ihre Gefangenheit in bornierter Konventionalität, kleine bis größere Gaunereien und der entscheidende Schritt in die falsche Richtung. Nur in zwei Texten flackert kurz ein Fünkchen des Glücks auf – und auch das ist letztlich trügerisch. Der Titel „Geplatzte Idylle“wäre zwar stimmiger, aber wohl weniger verkaufsfördernd.
Beginnen wir mit der Titelgeschichte: „Ein gutes Heim“für ihre Tiere verspricht da ein windiger Immobilienmakler – nach dem Platzen der Blase selbst in finanziellen Nöten – Leuten, die im Netz ihre Haustiere an Tierfreunde abgeben wollen. Mit billigen Vertreterschmähs holt er sich von den Ahnungslosen deren in die Jahre gekommenen Lieblinge ab und verschwindet. Dumm für ihn nur, dass er beim Feiern nichtsahnend an eine Studentin gerät, die ihm früher ihre zwei Kätzchen übergeben hat und bei näherem Kontakt merkt, dass ihrem Gegenüber der Gedanke des Tierasyls äußerst fremd ist.
Doch auch echte Tierliebe kann ins Absurde abgleiten, wenn sie übertrieben wird. Das wird in der Story „Admiral“erzählt. Sie handelt weder von einem Schmetterling noch von einem Schifffahrer, sondern von dem sogenannten afghanischen Windhund der betuchten Anwaltsfamilie Striker. Zu dieser wird die Studentin Nisha gerufen, weil sie als Dogsitterin vor Jahren bereits das Tier betreut hat. Warum auch nicht? Die Strikers zahlen gut, und so erspart sie sich andere, demütigendere Jobs. Doch nicht das vertraute Tier wartet auf sie, sondern dessen Klon. Die Strikers haben sich die Aktion 250.000 Dollar kosten lassen. Und jetzt soll sie alles ganz genau so machen wie bei Admiral I. Das wird wohl nicht gut ausgehen.
Berührend bis verstörend ist die Story „In der Zone“. Da kehrt eine Bäuerin, nach einigen Jahren Zwangsevakuierung in Kiew, in ihr nach der AKW-Katastrophe von Tschernobyl verstrahltes Dorf auf Schleichwegen zurück, um sich nach dem nervenden Gewusel der Großstadt wieder in der Sicherheit des Gewohnten einzurichten. Selbst als ihr Sohn, ein Wissenschaftler, bei ihr auftaucht und sie mit dem Hinweis auf die Gefährlichkeit der Strahlung wieder in die Hauptstadt zurückbringen will, beharrt sie auf ihrem Bleiben. Es ist nicht der Ruf der Scholle, der hier erklingt, sondern das stille Wehklagen der allgemein empfundenen Deterritorialisierung, dem der Autor hier Raum gibt. Als Zeit der Entstehung des Textes drängen sich hier wohl die Jahre um 1990 auf. Vielleicht nahm Boyle ja einen zufällig gelesenen Zeitungseinspalter zum Anlass für das Schreiben dieser Story.
Damals oder Jahre zuvor könnte auch „Drei Viertel des Wegs zur Hölle“verfasst worden sein. In einem Aufnahmestudio treffen Musiker zur Aufnahme eines schmalzigen Weihnachtslieds für eine Schallplatte ein, auf die wirklich niemand wartet. Aber der Markt will es so. Im Zentrum stehen eine Sängerin und ein Sänger: beide Kaputtniks kurz vor dem Ende ihrer nie vorhandenen Karriere mit einem belastenden Rucksack persönlicher Probleme. Der nervöse Produ-
Qzent trägt auch nicht zum Gelingen des Projekts bei. Doch dann lösen ein Joint und eine spontane Session die allgemeine Verkrampfung: Die Macht der Musik bezwingt alle Klippen des Kitschtextes. Es gibt sie also doch, die Momente des Glücks – wenn auch nur kurz und selten.
In seinen Storys bedient sich Boyle aller möglicher Erzählerpositionen und sorgt damit unauffällig für Abwechslung. Seine Texte könnten auf dem Lesen von Chronikseiten der Zeitungen oder dem Mitlauschen von Thekengesprächen fußen. Immer schwingt ein unausgesprochenes „Stell dir vor, dass . . .“mit. In „Sin Dolor“etwa berichtet ein Arzt vom Los seines Problempatienten. Bereits bei seiner Geburt hat Damaso, das Baby von lateinamerikanischen Straßenverkäufern, keinen Mucks gemacht. Auch die ganzen Jahre später ist er unfähig, Schmerzen zu fühlen. Und was sich viele Leidende sehnlichst wünschen, wird für ihn zur Katastrophe. Selbstverletzungen stehen am Beginn, später stellen ihn die Eltern als Jahrmarktsattraktion zur Schau. Und dann versuchen ihn auch noch andere Kinder zu kopieren, was in Schmerzgeheul endet.
Fast ein Familienroman auf 26 Seiten ist die Erzählung „Tod in Kitchawank“. Was mit einem schönen Sommernachmittag am Badesee einer Siedlung beginnt, endet mit den Jahren nach einer Serie von Missverständnissen mit Toten. Bei den beschriebenen Vorfällen dürfte der Autor nah dran gewesen sein. Tragikomisch verläuft die Story „Das Schweigen“, in der Jeremy, früher bei einem Dotcom-Start-up, mit ähnlich Gesinnten für mehr als drei Jahre zur Selbstoptimierung in eine Wüste Arizonas zieht, um durch Nichtsprechen ein höheres Bewusstsein zu erlangen. Doch Taranteln und eine Klapperschlange haben dafür wenig übrig.
Nicht voll gelungen ist der Schlusstext des Bandes. In der Dystopie „Los Gigantes“berichtet ein menschlicher Riese (Größe: 2,05 Meter, Gewicht: 149 Kilogramm) über seine tägliche Arbeit in einem Lager. Diese besteht darin, sich möglichst oft mit ebenso großen Frauen zu paaren, um hünenhafte Kinder zu zeugen, die für den Diktator als Soldaten kämpfen sollen. Das mag vielleicht ein feuchter „Lebensborn“-Wunschtraum von Heinrich Himmler gewesen sein, ist aber in Zeiten digitaler Kriegsplanung und -führung nur mehr herzig bis peinlich.
Good Home Stories. Aus dem amerikanischen Englisch von Anette Grube und Dirk Gunsteren. 432 S., geb., € 23,70 (Hanser Verlag, München)