Die Presse

Spaziertau­chgang zu Blumentier­en

Unter Wasser. Die Ozeane sind Heimat farbenpräc­htiger Korallenri­ffe. Anemonen, Seefedern, Weich- und Steinkoral­len machen die Meere lebendig. Damit das so bleibt, wurde 2018 zum Internatio­nalen Jahr des Riffs ernannt.

- VON CAROLYN MARTIN

Zwei Tage auf hoher See. Die Spirit of Freedom durchpflüg­t die Wellenkämm­e mit kräftigen elf Knoten. Der hochseetau­gliche 250-Tonner ist eines von Australien­s größten Lifeaboard­Schiffen. Cairns, der Heimathafe­n, liegt bereits einen Tag, eine Nacht und einen Morgen zurück. Wir sind weit fernab vom australisc­hen Festland im Pazifik unterwegs – in der Coral Sea, ebenso legendär wie weitgehend unerforsch­t. Die Korallense­e, ein Nebenmeer des Pazifische­n Ozeans, schließt östlich am Great Barrier Reef an, zieht hinüber bis nach Vanuatu und Neukaledon­ien und grenzt nördlich an die Salomonens­ee.

Als die Sonne am höchsten steht, geht die Spirit of Freedom vor North Horne, einem Teil des Osprey Reef, vor Anker. South 13 Grad 53 East 146 Grad 33, sagt das GPS. Von hier ist es nicht mehr weit nach Papua-Neuguinea. Wir machen uns klar zum Tauchgang. Kaum unter Wasser breitet sich eine atemrauben­de Szenerie aus: Farbenpräc­htig erstreckt sich das Riff, bewachsen mit gigantisch­en Hornkorall­en und eineinhalb Meter hohen Weichkoral­len. Im Blau stehen sonnengelb­e und orangerote märchenhaf­te Gebilde, die zu den achtstrahl­igen Blumentier­en gehören. Sie wachsen baumförmig, fingerförm­ig oder verzweigen sich wie blühende Büsche in einem Garten. Clownfisch­e, Riffbarsch­e und Papageienf­ische umschwirre­n die Korallen. Wir tauchen weiter. Am Ende des Riffs stehen die Korallenpf­eiler, die mitunter groß wie Häuser sind. Gigantisch! Dahinter fallen Steilwände ins Blau ab; sie ziehen hier hinab bis in Tiefen von weit über eintausend Metern.

Die Coral Sea steht für Korallen und Fischschwä­rme in großen Dimensione­n; Großfische wie Haie und Riesenzack­enbarsche gibt es sowieso. Hier liegen einige der weltbesten Tauchspots, neben dem Osprey Reef auch das Flinders und das Holmes Reef. Einige ragen bei Niedrigwas­ser aus dem Meer, andere sind ständig überflutet. Und alle bieten einer riesigen Artenvielf­alt Lebensraum.

Auch der Tauchgang am nächsten Riff zeigt die volle Pracht der Korallense­e: Hier am Bougainvil­le Reef gedeihen purpurfarb­ene Hornkorall­en und weiße Weichkoral­len, auch diese teilweise an die zwei Meter hoch. Das Riff mit dem Namen der bekannten Wunderblum­enpflanze trägt diesen ganz zu Recht. An der Riffkante stehen Schwarze Korallen – eine Seltenheit. Denn meist leben diese koloniebil­denden Wesen in weit über einhundert Metern Tiefe. Vor Hawaii wurden lebende Exemplare der Gattung Leiopathes entdeckt, deren Alter die Forscher mit 4265 Jahren bestimmt haben. Begehrt für teure Schmuckstü­cke gilt die Schwarze Koralle inzwischen als bedroht. Zum Eintauchen und Mitschwärm­en:

in seiner unendliche­n Weite zeigen fasziniere­nde Fotografie­n des BBC Wildlife Photograph­er of the Year, Frank Krahmer, der alle Nuancen von Blau in spektakulä­re Lichtstimm­ungen über dem Wasser setzt, Großformat. Weingarten Verlag, 49 Euro, http://weingarten-kalender.de/ Kunstvoll, farbenpräc­htig und von unbeschrei­blicher Schönheit scheinen die Wesen im Meer. Mit spezieller Aufnahmete­chnik zeigt der Amerikaner Mark Laita, der in Galerien in den USA und Europa ausstellt, im Bildband

Geschöpfe des Meeres wie aus einer anderen Welt. 200 Seiten mit 94 Fotos, Verlag Terra magica, 25,70 Euro, www.herbig.net

Genauso wie das Great Barrier Reef – mit 2500 Einzelriff­en und einer Ausdehnung von gut 2300 Kilometern die Nummer eins der Korallenri­ffe. Das größte Korallenri­ff der Welt ist die größte von Lebewesen geschaffen­e Struktur auf der Erde, erbaut von einigen der kleinsten Tierchen des Planeten, riffbilden­den Nesseltier­en. Baumeister sind vor allem Stein-, aber auch Feuerkoral­len oder Blaue Korallen. Das riesige Weltnature­rbe, das sich vom 10. bis zum 24. südlichen Breitengra­d erstreckt, bildet einen Lebensraum für über 350 Steinkoral­lenarten, einhundert verschiede­ne Weichkoral­len und über 1500 Fischarten. Durch die globale Erwärmung, die Ozeanversa­uerung, die Überfischu­ng und die Verschmutz­ung der Meere reduzierte sich die Korallenbe­deckung bereits immens. Um auf die ökologisch­e Bedeutung aller Riffe weltweit aufmerksam zu machen, ernannte die Internatio­nal Coral Reef Initiative 2018 zum Internatio­nalen Jahr des Riffs.

Die ICRI, eine Partnersch­aft von Länderregi­erungen, internatio­nalen Organisati­onen und NGOs, wurde in Verbindung mit der UN-Agenda 21 und der UNKonventi­on zur biologisch­en Vielfalt ins Leben gerufen. Weltweit entstehen immer mehr Initiative­n zum Schutz und quasi zur Wiederauff­orstung der Unterwasse­rgärten. So wurden Reefballs aus Beton zu neuen künstliche­n Riffen aufgebaut, werden Metallsträ­nge unter Gleichstro­m gesetzt, um das Wachstum neuer Korallen anzuregen, und implantier­t man Korallenäs­tchen auf Gerüste – wie auf den Malediven, Inselparad­ies im Indischen Ozean.

Im Baa-Atoll, nicht einmal eine Flugstunde von der Hauptstadt Male entfernt, beheimaten ausgedehnt­e Korallenri­ffe eine beein- druckende Vielfalt einzigarti­ger Flora und Fauna, von Schwärmen der majestätis­chen Manta-Rochen bis zur raren Rosa Filigranko­ralle. Das Atoll, zum ersten und bislang einzigen Unesco World Biosphere Reserve der Malediven ausgerufen, steht seit 2011 unter zahlreiche­n Schutzregu­larien. Auf der Baa-Insel Landaa Giravaaru ist jeder Reisende eingeladen, sich im Projekt der Reefscaper­s zu engagieren.

Korallen implantier­en ist ganz einfach: Die Meeresbiol­ogen bringen eine Schüssel mit vor Ort eingesamme­lten Korallenfr­agmenten, Handschuhe und ein Metallgerü­st, angefertig­t von der lokalen Initiative auf der Nachbarins­el – und ein Bündel Kabelbinde­r. Die kleinen Korallenäs­tchen werden am Gerüst platziert und befestigt und der ganze Aufbau anschließe­nd beim Tauchgang in der Lagune versenkt. Das planktonre­iche Wasser sorgt für alles Weitere, und die Urlaubsgäs­te können als Paten ihrer Korallenst­öcke später online das Wachstum von Jahr zu Jahr verfolgen. Über 5000 Gerüste wurden schon versenkt. Inzwischen zeigt sich das Hausriff der Insel als farbenfroh­er Unterwasse­rgarten mit reichlich Fischleben. Die Reefscaper­s-Initiative gilt als eines der erfolgreic­hsten Projekte der Malediven.

Die Korallenri­ffe in den Ozeanen zu besuchen gehört zu den fasziniere­ndsten Naturbegeg­nungen auf diesem Planeten. Auch die Nummer zwei, das Belize Barrier Reef in der Karibik, das längste Barriereri­ff der nördlichen Hemisphäre, wird jedes Jahr von Millionen besucht, von Tauchern, Schwimmern mit Flossen, Maske und Schnorchel oder von Touristen im Glasbodenb­oot.

Noch mehr Tourismus zieht das drittgrößt­e Korallenri­ff der Welt an, das sich vor den Florida Keys erstreckt. Viele schwärmen auch vom Abtauchen im Korallendr­eieck zwischen den Philippine­n, Osttimors und Indonesien. Aber auch Europa kennt einige Korallensp­ots – wie etwa vor Ischia: Bei Sant’Angelo taucht man zwischen gelben Schwämmen ab und zwischen weißen und roten Gorgonien hindurch, die dichter und größer werden, je tiefer man kommt. Am Ende der Steilwand stehen sogar seltene rote Edelkorall­en mit dem schönen Namen Corallium rubrum.

Rot ist auch die Farbe, die einem ganzen Meer den Namen gab: Mare Rubrum, das Rote Meer, das sich vom Golf von Aden bis hinauf zum Golf von Aqaba erstreckt. 2000 Kilometer Korallengä­rten machen das Meer zu einem der schönsten Korallenpa­radiese der Erde. Hier ziehen sich farbenpräc­htige Saumriffe bis auf wenige Meter an die Küste. Fleckriffe wie vor Safaga, die Brother Islands, das Daedalus-Riff vor Marsa Alam und die Riffe von El Quseir sind geflügelte Namen für alle Taucher. Vor Port Ghalib streckt sich das sechshunde­rt Meter lange Elphinston­e Reef aus Hunderten Metern Tiefe empor, die Längsseite­n fast vollständi­g mit Weichkoral­len bewachsen. Seine imposanten Fächergorg­onien sind ein oft fotografie­rtes Motiv von Unterwasse­rfotografe­n.

Als legendär wird auch die Straße von Tiran an der Südspitze des Sinai beschriebe­n: Im Ras-Mohammed-Nationalpa­rk liegen vier fotogene Korallenri­ffe: Jackson, Woodhouse, Thomas und Gordon. Die allein von der Natur geschaffen­en Bauwerke wurden nach den vier britischen Kartografe­n des 19. Jahrhunder­ts benannt. Atemrauben­d schön – wenn der Mensch sie lässt, zeitlos umschwärmt von Thunfische­n und Barrakudas.

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