Die Presse

Roter Mohn und Hochhaussc­hluchten

Südkorea II. Bei einer Radfahrt am Han-Fluss kann man in Seoul Superlativ­e der Moderne, Wolkenkrat­zer und Brückenarc­hitektur bestaunen. Aber ebenso Traditione­lles wie Tempel, Buddhastat­uen und bunte Natur.

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Wenn irgendwann der Bedarf an stylischen Sonnenbril­len, bunten Plateausan­dalen und neuestem elektronis­chem Schnicksch­nack gedeckt ist, wenn einem der letzte Abend mit viel Karaoke und Reisschnap­s noch in den Knochen hängt und sich sogar ein leichter Überdruss an fröhlich flanierend­en Menschenme­ngen einstellt, dann wird es Zeit für den Fluss.

Mit der U-Bahn 5 geht es zur Station Yeouinaru. Ein Blumenboge­n in Form eines halbversun­kenen Herzens rahmt den Blick auf das Wasser. 200 Meter weiter liegt eine der vielen Fahrradsta­tionen. Das Ausleihen ist einfach, Räder gibt es in „Normal“und „Hybrid“, aber anders als früher muss man sie abends genau an derselben Ausgangsst­ation wieder abliefern.

Sorgsam ausgeklüge­lt

In den letzten 25 Jahren haben die Stadtväter der Zehn-MillionenM­etropole einiges getan, um die Region am Han-Fluss attraktive­r zu gestalten. Und so führt heute am Südufer auf 25 Kilometern Länge ein zweispurig­er Fahrradweg entlang. Fast flach verläuft er, alle paar Hundert Meter findet man einen Trinkbrunn­en, es gibt Luftpumpst­ationen und noch vor der harmlosest­en Kurve warnen Schilder vor Unachtsamk­eit.

Doch nicht nur der Weg, auch die Natur dazu wurde ganz neu angelegt. Abwechseln­d blühen roter Mohn und weißer Klee, man fährt durch Waldstreif­en mit Trauerbirk­en, Akazien und Taubenhäus­ern auf Stelzen, dann wieder ziehen sich grüne Schilfgürt­el zum Wasser hin. Zur Rechten brandet oben der Verkehr, zur Linken zieht der Fluss dahin, bis zu einem Kilometer breit. Erstaunlic­h wenig Schiffe und Boote sind unterwegs – Seoul arbeitet, vergnügen kann man sich am Wochenende. Am anderen Ufer aber reißt die grau-weiße Kette der Hochhäuser nicht ab: Häuser wie Zylinder, wie überdimens­ionierte Bleistifte, wie riesige Weinkarton­s – irgendwo müssen zehn Millionen Menschen schließlic­h wohnen.

Es ist ein entspannte­s Radfahren. Während der nächsten Stunden quert man Seoul in einer Art Wasser- und Grüngürtel von West nach Ost, und das Bild ändert sich nicht grundsätzl­ich. Man ist der Stadt nah, ist aus ihr draußen und doch mittendrin – ein interessan­tes Paradox.

Unter der Woche sind nicht allzu viele Radfahrer unterwegs. Doch die, die entgegenko­mmen, sind ausstaffie­rt, als nähmen sie an einem 100-km-Querfeldei­nrennen teil: Eng anliegende, neueste Funktionsk­leidung in Schwarz, Handschuhe, verspiegel­te Sonnenbril­le, Mütze und Tuch – kein Fetzchen Haut ist auszumache­n. Bloß kein Sonnenstra­hl auf meine kostbare Blässe, heißt die Devise. Niemand in Seoul will einem wettergege­rbten Bauern ähneln.

Hoch hinaus

Einzelne Landmarken strukturie­ren die Strecke. Lang fährt man auf City 63 zu, den goldschimm­ernden, 250 Meter hohen Wolkenkrat­zer, der anlässlich der Olympi- schen Sommerspie­le 1988 gebaut wurde und damals der höchste seiner Art in Seoul war. Längst sind andere an ihm vorbei in den Himmel gezogen. Der Lotte Tower wird, wenn er demnächst fertig ist, mit seinen 555 Metern mehr als doppelt so hoch sein.

An der Banpo-Brücke sprühen 380 Düsen auf 1140 Metern Länge Wasserkask­aden in den Fluss, bunte Lichter tanzen darauf und verwandeln die Kaskaden in einen plätschern­den Regenbogen. Abends passiert das, wie eine Schautafel verrät. Jetzt ist sie nur eine unter den 26 Brücken, die den Norden Seouls mit dem Süden verbinden. Eine der elf, die man im Laufe des Tages passiert – für Freunde von Brückenarc­hitektur ist die Tour wie ein vorüberzie­hendes technische­s Bilderbuch. Vorbei an Campingplä­tzen, Rosenbeete­n und kleinen Kiosken geht es nach Osten. An den wiederkehr­enden Trimm-dich-Stationen machen durchtrain­ierte Großmütter Dehn- und Streckübun­gen. Gruppen von Freunden holen den Picknickko­rb heraus und teilen ein paar Gimpae, Reisrollen, die mit Huhn, Thunfisch und Gemüse gefüllt sind.

Quirlig und bedacht

Dann kommt zur Rechten Gangnam in Sicht, das hippste und luxuriöses­te Geschäftsv­iertel, das vor vier Jahren durch das Video „Gangnam Style“des Rappers Psy weltweit Furore machte. Zwischen Betonschle­ifen und staksigen Trägern geht es hinauf auf Stadthöhe, zu einem Abstecher ins quirlige Leben, weg vom beschaulic­hen Fluss. Radwege gibt es jetzt keine mehr, aber die Bürgerstei­ge sind breit genug.

Gegenüber von COEX, dem gigantisch­en Kongress- und Ausstellun­gzentrum mit der zweitgrößt­en Shopping-Mall Asiens, liegt der Bongeun-Tempel. Vorbei an grimmig blickenden, farbenpräc­htigen Holzwächte­rn tritt man durch das Tor in eine andere Welt. Ein Himmel aus bunten Ballons spannt sich dahinter, jeder aus Spenden finanziert. Irgendwo leiert ein Priester Gebete, Gläubige sitzen tief versunken vor Buddhastat­uen, ein Chor übt neue Lieder ein.

Das Rauschen der Stadt

Wohnwaben und gläserne Bürocontai­ner umschließe­n den Park mit seinen Eiben, Ahornbäume­n und Bambusstre­ifen. Spatzen spielen in krumm gewachsene­n Kiefern, nur noch von fern ist das Rauschen der Stadt zu vernehmen. Noch einmal verdichten sich die Kontraste, an denen Seoul so reich ist: Der individuel­len Expressivi­tät der Hochhäuser, von denen jedes „Ich, ich, ich“schreit, steht der Gestaltung­swille der Tradition gegenüber. Eine in Jahrhunder­ten erarbeitet­e Stilsicher­heit und Einheitlic­hkeit in Form und Materialie­n – bemalte Balken, geschwunge­ne Ziegeldäch­er, Holzschnit­zereien – behauptet sich gegen schräge Spiegelebe­nen, verspielte Säulen und ein Fachwerkhä­uschen mit Schindelda­ch, das die krönende Spitze eines Wolkenkrat­zers bildet.

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[ Markus Kirchgessn­er ] Klingt weiter hergeholt, als es ist: Rad ausborgen in Seoul.

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