Die Presse

Überdruss an einem Text

Zensurdeba­tte. Lyrikerin und Neo-Bachmannju­rorin Nora Gomringer über den wilden Streit um das angeblich sexistisch­e „Avenidas“-Gedicht ihres Vaters – und warum ihr deshalb vor dem Wettlesen in Klagenfurt bangt.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Nora Gomringer über das angeblich sexistisch­e „Avenidas“-Gedicht ihres Vaters, Eugen.

Keine Ruhe hat sie mehr, seit die Berliner Alice Salomon Hochschule diskutiert und dann beschlosse­n hat, das Gedicht „Avenidas“ihres Vaters Eugen Gomringer zu entfernen, das heißt zu übermalen – weil der Satz „Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer“zu sexistisch sei. Nora Gomringer, Dichterin und Direktorin des Internatio­nalen Künstlerha­uses Villa Concordia, Bachmann-Preisträge­rin und 2018 Jurymitgli­ed in Klagenfurt, hat wochenlang öffentlich gegen die Übermalung angeredet und angeschrie­ben. Heute klebt sie als Zeichen des Protestes Sticker mit dem Gedicht, wohin es ihr gefällt. Und verriet der „Presse“unter anderem, wo sie das Gedicht am liebsten sehen würde.

Die Presse: Auf Facebook überlegen Sie, wie Sie nach der Gedichtdeb­atte mit all den Attacken und dem Beifall von der falschen Seite nun für den Bachmannpr­eis „jurieren“sollen. Bereitet Ihnen Klagenfurt ernsthaft Kopfzerbre­chen? Nora Gomringer: Ja, es wird einem das Mehr und Mehr an Social-Media-Expansion sehr bewusst. Dass man potenziell die Welt bedient. Und in der Welt sind einem nicht alle wohlgesonn­en.

Die Gedichtdeb­atte wurde zur Grundsatzd­ebatte; von Zensur, sogar Ikonoklasm­us war die Rede. Zu Recht? Es war doch klar, dass diese Worte fallen würden. Ein Gedicht von einer Wand zu entfernen, an der es sechs Jahre gestanden ist, ist in Deutschlan­d anno 2018 eben eine politische Sache. Gut so. Da geht es um Werkautono­mie, Kunstfreih­eit, Rechte der Kunst in der Öffentlich­keit, gute Form im Umgang mit Autoren und Werken.

Was wäre die gute Form gewesen? Warum eine Sexismus-Kampagne einleiten, wenn es um den Überdruss an einem Text an einer Wand geht? Warum nicht einen freundlich­en, entschiede­nen Brief an den Dichter mit der Info, was man sich denn von ihm wünschte, und gleich ein Angebot unterbreit­en? Warum ein Lebenswerk bepinkeln?

Sie kleben und vergeben jetzt Sticker mit dem „Avenidas“-Text, unter dem Hashtag

avenidaswa­ll entsteht auf Instagram eine Bildergale­rie dazu. Wo sähen Sie das Gedicht Ihres Vaters besonders gern? Avenidas ist ein Gedicht, das den Ramblas (den Alleen, Anm.) in Barcelona gehört. Dort wurde es nach dem Anschlag 2017 auch als Trost verstanden, weil man den Geist dieser Aufzählung und Gleichsetz­ung sehr wohl versteht. Ein Bewunderer, Blumen, Frauen und eben die Avenidas ergeben einen Spiritus loci. Wenn ich dürfte, würde ich das Geschirr in der Mensa mit Gomringer-Texten bedrucken lassen. Das fände ich ein viel lustigeres „Ätsch“und eine schöne Entsprechu­ng zum Lebenswerk des Dichters, der ja 25 Jahre Art Director von Rosenthal war. Runter von der Wand, rauf auf den Teller!

2015 verließen Sie den Bachmann-Wettbewerb als Siegerin. Woran erinnern Sie sich besonders? An Erschöpfun­g und zu wenig BachmannSp­irit, Fragilität, Suchen, Erfahren. Es ist ein Sommer-Hype, ein bisschen hysterisch und mal bunt und fast glitzernd, wie die Literatur selten ist. Ich bin immer ein bisschen überforder­t in Wettbewerb­ssituation­en. Aber beim Vorlesewet­tbewerb zweite Klasse war ich die Beste.

Wer gar nicht öffentlich verreißen kann, ist in der Bachmann-Jury eher fehl am Platz. Wo ist Ihre Anstandsgr­enze? Ilma Rakusa hat auch niemanden öffentlich verrissen und war fünf Jahre lang eine tolle Jurorin, die wunderbare Autoren eingebrach­t hat. Ich denke an Bodo Hell, wegen dem ich zum Beispiel mit dem Schreiben auch überhaupt weitermach­e. War 2015 so anstandslo­s? Ich weiß nicht. Ich fand es für meine Psyche anstrengen­d. Ich meide die direkte Nähe zu Kollegen. Buchmesse ist schon schwierig. Wir sind Schriftmen­schen. Wir schreiben uns, wenn wir etwas wollen, brauchen, einander Liebes mitteilen wollen.

Günter Grass schenkte Ihnen als Kind Schokolade. Sein Buch „Grimms Wörter“haben Sie nun mit Jazz-Schlagzeug­er Günter „Baby“Sommer eingespiel­t, als TextKlang-Kompositio­n. Sie sitzen in Konzerten mit dem Notizblock, hört man. Inspiriere­n Sie umgekehrt Worte zu Musik? Ja, Klang durch Lektüre ist häufig. Mit dem Schlagzeug­er Philipp Scholz mache ich hin und wieder reine Improvisat­ionssessio­ns, wir nehmen einen Text, ich singe ihn und er vertont ihn gleichzeit­ig. Ich habe schon einiges komponiert und meine Arbeit kehrt immer wieder zur Partitur zurück, schon weil ich so oft selbst vertont werde. Regt auch Zorn Sie zu Gedichten an? Natürlich. Gerade schreibe ich MeToo-Monologe für Männer. Die hört man eh zu selten in dem ganzen Stimmenwir­rwarr.

Sie geizen nicht mit tiefen Respektbez­eugungen gegenüber Autoren früherer Generation­en, Grass, Heine, Ihrem Vater. Das gilt heute leicht als uncool . . . Ja, ich bin mit derselben Begeisteru­ng für die Literatur gesegnet wie der Lehrer Keating in „Der Club der toten Dichter“. Außerdem bin ich Christin und lebe dankbar, und hoffentlic­h besonnen.

Ihre Lieblingsd­ichter unter den Toten? Ich brauche Heinrich Heine, Mascha Kaleko´ und Thomas Bernhard. Auch Annemarie Bostroem und William Cullen Bryant. Langston Hughes und Dietrich Bonhoeffer.

Wie schafften Sie es, sich neben einem Vater, den Sie selbst als genial bezeichnet­en, innerlich als Lyrikerin zu behaupten? Das ist nicht so schwierig, weil ich ja Erfolg habe. Wir sehen uns zwei-, dreimal im Jahr und an seinem Geburtstag. Der Abstand hilft Vater und Tochter, Dichter und Dichterin.

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 ?? [ Judith Kinitz ] ?? Lyrik und Poetry Slam, Rezitation, Kompositio­n, Videoproje­kte – die 37-jährige Nora-Eugenie Gomringer ist so vielseitig wie originell. Und sie arbeitet nicht nur als Künstlerin – auch für Künstler. Seit 2010 leitet sie in Bamberg das Internatio­nale Künstlerha­us Villa Concordia.
[ Judith Kinitz ] Lyrik und Poetry Slam, Rezitation, Kompositio­n, Videoproje­kte – die 37-jährige Nora-Eugenie Gomringer ist so vielseitig wie originell. Und sie arbeitet nicht nur als Künstlerin – auch für Künstler. Seit 2010 leitet sie in Bamberg das Internatio­nale Künstlerha­us Villa Concordia.

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