Westbalkan wirtschaftlich nicht EU-tauglich
EU-Erweiterung. Die Kommission hofft, die Nachfolgestaaten Jugoslawiens sowie Albanien mit möglichen Beitritten ab 2025 zu Reformen zu motivieren. Doch in ihrer eigenen Strategie warnt sie vor der enormen Rückständigkeit dieser Länder.
Vier Jahre lang ließ die Europäische Kommission vom heiklen Thema möglicher EU-Beitritte der sechs Westbalkanstaaten die Finger, nachdem ihr Vorsitzender, JeanClaude Juncker, zu Beginn seiner Amtszeit jegliche Erweiterung der Union und selbst vage Versprechen über eine Beschleunigung der bestehenden Beitrittsverhandlungen unter seiner Ägide kategorisch ausgeschlossen hatte. Juncker änderte voriges Jahr seine Meinung unter dem Eindruck der politischen und wirtschaftlichen Verschlechterung vor der Haustür der Union, die zu einem wachsenden geopolitischen Problem wurde. Ergebnis dessen ist jenes knapp 20-seitige Strategiepapier über eine „Glaubwürdige Erweiterungsperspektive für den Westbalkan“, welches die Kommission am heutigen Dienstag bei ihrer Sitzung in Straß- burg beschließen wird. Es liegt der „Presse“in seiner Endfassung vorbehaltlich kleiner sprachlicher Änderungen, die während der Sitzung der Kommissare möglich sind, vor und veranschaulicht das Dilemma, welches das politische Erbe des Zerfalls Jugoslawiens für die EU nach einem Vierteljahrhundert noch immer darstellt.
Denn einerseits ist der Wille in der Generaldirektion unter dem österreichischen Erweiterungskommissar Johannes Hahn groß, den einstigen Teilen Jugoslawiens – Serbien, Montenegro, Mazedonien, dem Kosovo und Bosnien und Herzegowina – sowie Albanien eine Aussicht auf Modernisierung und Wohlstand im Rahmen der Union zu bewahren. Serbien und Montenegro seien hierbei am weitesten vorangeschritten. „Mit starkem politischen Willen, der Erfüllung echter und nachhaltiger Reformen und endgültigen Lö- sungen für Streitigkeiten mit Nachbarn könnten sie möglicherweise ab 2025 bereit für die Mitgliedschaft sein“, heißt es in dem Papier. Die Kommission sei zudem bereit, die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Mazedonien zu empfehlen. Bosnien und Herzegowina könne „mit andauerndem Aufwand und Bemühungen“Beitrittskandidat werden. Der Kosovo wiederum, den die Unionsmitglieder Spanien, die Slowakei, Griechenland, Zypern, Bulgarien und Rumänien nicht als Staat anerkennen, habe „die Gelegenheit für nachhaltigen Fortschritt“, falls es das Assoziierungsabkommen mit der EU ordentlich umsetze.
Doch zugleich hält die Kommission all die Gründe fest, weshalb die Unionsmitgliedschaft dieser sechs Staaten in weiter Ferne liegt. Das fängt bei der wirtschaftlichen Rückständigkeit an: „Wesentliche Teile der Volkswirtschaften der Region sind nicht wettbewerbsfähig. Keines der Westbalkanländer kann derzeit als funktionierende Marktwirtschaft bezeichnet werden, noch hat es die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der Union standzuhalten.“
Noch schwerer wiegen die Probleme mit dem organisierten Verbrechen und der Korruption. Die Kommission verwendet den englischen Begriff „state capture“, mit dem man den Missstand bezeichnet, dass politische Klüngel und mafiöse Gruppen einen Staat unterwandern und zu ihren Zwecken missbrauchen. Alle sechs Staaten zeigten „klare Anzeichen“für dieses Phänomen, und das „auf allen Ebenen der Regierung und Verwaltung“.
Und schließlich droht die Kommission einen Fehler zu wiederholen, welcher ihr beim Beitritt Kroatiens unterlief. Zwar heißt es im Papier, die EU könne und werde keine Grenzstreitigkeiten importieren. Doch gleichzeitig erklärt sie sich damit zufrieden, wenn etwaige Dispute durch ein internationales Schiedsgericht behandelt würden. Genau dies hat allerdings im Streit zwischen Slowenien und Kroatien nicht funktioniert, warnt Thomas Bickl, der an der Universität Duisburg-Essen dazu dissertiert hat: „Es wäre ein Fehler, wenn die Kommission nun einseitig auf internationale Schiedsverfahren setzte“, schreibt er in seiner Arbeit. „Das Beispiel Slowenien-Kroatien hat gezeigt, dass solche Verfahren anfällig sind für Manipulationen, wenn jede Partei auch einen eigenen Richter nominieren darf.“