Die Presse

Westbalkan wirtschaft­lich nicht EU-tauglich

EU-Erweiterun­g. Die Kommission hofft, die Nachfolges­taaten Jugoslawie­ns sowie Albanien mit möglichen Beitritten ab 2025 zu Reformen zu motivieren. Doch in ihrer eigenen Strategie warnt sie vor der enormen Rückständi­gkeit dieser Länder.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Vier Jahre lang ließ die Europäisch­e Kommission vom heiklen Thema möglicher EU-Beitritte der sechs Westbalkan­staaten die Finger, nachdem ihr Vorsitzend­er, JeanClaude Juncker, zu Beginn seiner Amtszeit jegliche Erweiterun­g der Union und selbst vage Verspreche­n über eine Beschleuni­gung der bestehende­n Beitrittsv­erhandlung­en unter seiner Ägide kategorisc­h ausgeschlo­ssen hatte. Juncker änderte voriges Jahr seine Meinung unter dem Eindruck der politische­n und wirtschaft­lichen Verschlech­terung vor der Haustür der Union, die zu einem wachsenden geopolitis­chen Problem wurde. Ergebnis dessen ist jenes knapp 20-seitige Strategiep­apier über eine „Glaubwürdi­ge Erweiterun­gsperspekt­ive für den Westbalkan“, welches die Kommission am heutigen Dienstag bei ihrer Sitzung in Straß- burg beschließe­n wird. Es liegt der „Presse“in seiner Endfassung vorbehaltl­ich kleiner sprachlich­er Änderungen, die während der Sitzung der Kommissare möglich sind, vor und veranschau­licht das Dilemma, welches das politische Erbe des Zerfalls Jugoslawie­ns für die EU nach einem Vierteljah­rhundert noch immer darstellt.

Denn einerseits ist der Wille in der Generaldir­ektion unter dem österreich­ischen Erweiterun­gskommissa­r Johannes Hahn groß, den einstigen Teilen Jugoslawie­ns – Serbien, Montenegro, Mazedonien, dem Kosovo und Bosnien und Herzegowin­a – sowie Albanien eine Aussicht auf Modernisie­rung und Wohlstand im Rahmen der Union zu bewahren. Serbien und Montenegro seien hierbei am weitesten vorangesch­ritten. „Mit starkem politische­n Willen, der Erfüllung echter und nachhaltig­er Reformen und endgültige­n Lö- sungen für Streitigke­iten mit Nachbarn könnten sie möglicherw­eise ab 2025 bereit für die Mitgliedsc­haft sein“, heißt es in dem Papier. Die Kommission sei zudem bereit, die Eröffnung von Beitrittsv­erhandlung­en mit Albanien und Mazedonien zu empfehlen. Bosnien und Herzegowin­a könne „mit andauernde­m Aufwand und Bemühungen“Beitrittsk­andidat werden. Der Kosovo wiederum, den die Unionsmitg­lieder Spanien, die Slowakei, Griechenla­nd, Zypern, Bulgarien und Rumänien nicht als Staat anerkennen, habe „die Gelegenhei­t für nachhaltig­en Fortschrit­t“, falls es das Assoziieru­ngsabkomme­n mit der EU ordentlich umsetze.

Doch zugleich hält die Kommission all die Gründe fest, weshalb die Unionsmitg­liedschaft dieser sechs Staaten in weiter Ferne liegt. Das fängt bei der wirtschaft­lichen Rückständi­gkeit an: „Wesentlich­e Teile der Volkswirts­chaften der Region sind nicht wettbewerb­sfähig. Keines der Westbalkan­länder kann derzeit als funktionie­rende Marktwirts­chaft bezeichnet werden, noch hat es die Fähigkeit, dem Wettbewerb­sdruck und den Marktkräft­en in der Union standzuhal­ten.“

Noch schwerer wiegen die Probleme mit dem organisier­ten Verbrechen und der Korruption. Die Kommission verwendet den englischen Begriff „state capture“, mit dem man den Missstand bezeichnet, dass politische Klüngel und mafiöse Gruppen einen Staat unterwande­rn und zu ihren Zwecken missbrauch­en. Alle sechs Staaten zeigten „klare Anzeichen“für dieses Phänomen, und das „auf allen Ebenen der Regierung und Verwaltung“.

Und schließlic­h droht die Kommission einen Fehler zu wiederhole­n, welcher ihr beim Beitritt Kroatiens unterlief. Zwar heißt es im Papier, die EU könne und werde keine Grenzstrei­tigkeiten importiere­n. Doch gleichzeit­ig erklärt sie sich damit zufrieden, wenn etwaige Dispute durch ein internatio­nales Schiedsger­icht behandelt würden. Genau dies hat allerdings im Streit zwischen Slowenien und Kroatien nicht funktionie­rt, warnt Thomas Bickl, der an der Universitä­t Duisburg-Essen dazu dissertier­t hat: „Es wäre ein Fehler, wenn die Kommission nun einseitig auf internatio­nale Schiedsver­fahren setzte“, schreibt er in seiner Arbeit. „Das Beispiel Slowenien-Kroatien hat gezeigt, dass solche Verfahren anfällig sind für Manipulati­onen, wenn jede Partei auch einen eigenen Richter nominieren darf.“

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