Wohin Deutschland steuert
Die Verhandlungen bogen am Montag in die Zielgerade ein. Die groben Linien stehen schon fest. Von Wirtschaft über Europa bis Bildung: Was ein Kabinett Merkel IV plant – im Überblick.
Es war ein historischer Montag in Berlin: Die Mauer ist nun so lang verschwunden, wie sie zuvor gestanden ist, nämlich 28 Jahre, zwei Monate und 26 Tage. CDU, CSU und SPD beschäftigt indes eine ganz andere Zahl: 134 Tage, so lang wie noch nie zuvor, war Europas größte Volkswirtschaft ohne gewählte Regierung, als die Verhandler von CDU, CSU und SPD im Berliner Willy-Brandt-Haus verschwunden sind. Es war die Verlängerung in den Verhandlungen um eine Große Koalition (GroKo). Am Montagabend dauerten die Gespräche noch an.
Tags zuvor hatte es beim Kapitel Wohnen einen Durchbruch gegeben. Die Mietpreisbremse, die bisher kaum gebremst hat, wird nachjustiert. Und: Mehr als zwei Mrd. Euro sollen in den sozialen Wohnbau fließen. Beides sind SPD-Anliegen. Die Union bekommt ihr „Baukindergeld“, das Familien bei der Errichtung eines Eigenheims mit 1200 Euro pro Jahr und Kind unterstützen soll. Die prall gefüllten Staatskasse erweist sich wieder einmal als Schmiermittel. Aber es hakte bei Arbeitsrecht und Gesundheitspolitik. Das ist kein Zufall. Die SPD hatte ihrer Basis hier „Nachbesserungen“versprochen. Die Befristung von Arbeitsverträgen soll zumindest erschwert, Arzthonorare für Kassen- und Privatpatienten sollen teilweise angeglichen werden. Es ging auch ums Personal, etwa um die Frage, ob die SPD nach dem Finanzministerium greift. Dennoch sind die Grundzüge der Politik eines Kabinetts Merkel IV – so es dazu kommt – schon zu sehen. Ein Überblick.
Wirtschaft/Steuern
Das Urteil ist ernüchternd: Eine klare Mehrheit der deutschen Volkswirte geht laut IfoÖkonomenpanel davon aus, dass die wirtschaftspolitisch relevanten Pfeile im Köcher der Großkoalitionäre ihr Ziel verfehlen. Der flächendeckende Ausbau der digitalen Infra- struktur mit Gigabit-Netzen bis 2025, finanziert aus Versteigerungserlösen für Lizenzen? Zu wenig ambitioniert, um vorn dabei zu sein. Die volle Einkommensteuer auf Kapitalerträge statt 25 Prozent Abzug wie bisher (und wie in Österreich)? Das falsche Signal, fürchten die Experten. Zudem vermissen sie, wofür die beiden großen Parteien im Wahlkampf geworben haben: eine echte steuerliche Entlastung des Mittelstands. Bei den Pensionen gibt es keine Reform, sondern addierte Versprechen: Die SPD bekommt ihre Fixierung des Rentenniveaus bei 48 Prozent bis 2025, die Union eine aufgestockte Mütterrente – womit die Generationengerechtigkeit auf der Strecke bleibt.
Europa
Die Vorschläge der Koalitionspartner in spe bedeuten, sofern sie umgesetzt werden sollten, eine Vertiefung der EU. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das lauteste Lob von der EU-Kommission zu vernehmen ist. Von größter Bedeutung ist dabei die angestrebte Umwandlung des Euro-Rettungsschirms (ESM) zu einem Europäischen Währungsfonds (EWF). Der ESM in seiner derzeitigen Form ist eine zwischenstaatliche Institution. Der EWF ist hingegen als EU-Institution angedacht, in der einzelne Mitglieder (etwa Deutschland) überstimmt werden könnten – umso mehr, als der neu geschaffene Fonds über „spezifische Haushaltsmittel“aus dem gemeinsamen Budget verfügen soll. Dies könnte Ausgangspunkt für einen künftigen Haushalt für die Eurozone sein.
Apropos Haushalt: Anders als etwa Österreich befürworten CDU/CSU und SPD höhere Beiträge zum EU-Budget seitens der bisherigen Nettozahler. Weiters angestrebt: eine „substanzielle“Finanztransaktionssteuer (die unter Umständen auch dem EU-Haushalt zugutekommen könnte), ein europaweiter Rahmen für Mindestlöhne und Mindestsätze bei den Unternehmenssteuern samt einer gemeinsamen Bemessungsgrundlage.
Migration
Führende Genossen stöhnen über den „schmerzhaften“Kompromiss. Denn auf Drängen der CSU bleibt der Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus bis Sommer ausgesetzt und danach auf 12.000 Menschen pro Jahr beschränkt. Zwar gilt auch weiter eine Härtefallregelung, die aber im Vorjahr weniger als 100 Menschen genutzt haben. Unruhe stiftet indes der Satz, wonach die Zuwanderung 180.000 bis 220.000 Menschen pro Jahr nicht übersteigen werde. Sobald die CSU dies „Obergrenze“nennt, schreit die SPD auf – ein eingespieltes Ritual, das nichts Gutes für das künftige Koalitionsklima verheißt.
Bildung
In Berlin bilde sich eine „Koalition der Verlierer“, „Leuchtturmprojekte“fehlten, monieren Kritiker. Die SPD jedoch hält zumindest das Bildungskapitel für einen großen Wurf, ja einen „Meilenstein“. Elf Milliarden Euro will Schwarz-Rot investieren. Dazu soll das sogenannte Kooperationsverbot, just von GroKo ins Grundgesetz geschrieben, gelockert werden. Bildung ist bisher Ländersache, weshalb der Bund kaum finanziell aushelfen durfte. Verfallende Schulbauten bezeugen jedoch einen Investitionsstau. 3,5 Mrd. Euro will Schwarz-Rot für einen Digitalpakt bereitstellen, der das Ende der „Kreidezeit“einläuten soll. Zwei Mrd. Euro fließen in den Ausbau der Ganztagsbetreuung. Anders als in Österreich wird Grundschulkindern auch ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung zugesagt, freilich erst ab 2025.
Das Bildungspaket soll helfen, skeptischen Genossen ein Ja zur GroKo abzuringen – die SPD-Mitglieder müssen einen Koalitionsvertrag noch abnicken. Läuft alles nach Plan, steht das Kabinett Merkel IV noch vor Ostern.