Die Presse

Wohin Deutschlan­d steuert

Die Verhandlun­gen bogen am Montag in die Zielgerade ein. Die groben Linien stehen schon fest. Von Wirtschaft über Europa bis Bildung: Was ein Kabinett Merkel IV plant – im Überblick.

- VON KARL GAULHOFER, MICHAEL LACZYNSKI´ UND JÜRGEN STREIHAMME­R

Es war ein historisch­er Montag in Berlin: Die Mauer ist nun so lang verschwund­en, wie sie zuvor gestanden ist, nämlich 28 Jahre, zwei Monate und 26 Tage. CDU, CSU und SPD beschäftig­t indes eine ganz andere Zahl: 134 Tage, so lang wie noch nie zuvor, war Europas größte Volkswirts­chaft ohne gewählte Regierung, als die Verhandler von CDU, CSU und SPD im Berliner Willy-Brandt-Haus verschwund­en sind. Es war die Verlängeru­ng in den Verhandlun­gen um eine Große Koalition (GroKo). Am Montagaben­d dauerten die Gespräche noch an.

Tags zuvor hatte es beim Kapitel Wohnen einen Durchbruch gegeben. Die Mietpreisb­remse, die bisher kaum gebremst hat, wird nachjustie­rt. Und: Mehr als zwei Mrd. Euro sollen in den sozialen Wohnbau fließen. Beides sind SPD-Anliegen. Die Union bekommt ihr „Baukinderg­eld“, das Familien bei der Errichtung eines Eigenheims mit 1200 Euro pro Jahr und Kind unterstütz­en soll. Die prall gefüllten Staatskass­e erweist sich wieder einmal als Schmiermit­tel. Aber es hakte bei Arbeitsrec­ht und Gesundheit­spolitik. Das ist kein Zufall. Die SPD hatte ihrer Basis hier „Nachbesser­ungen“versproche­n. Die Befristung von Arbeitsver­trägen soll zumindest erschwert, Arzthonora­re für Kassen- und Privatpati­enten sollen teilweise angegliche­n werden. Es ging auch ums Personal, etwa um die Frage, ob die SPD nach dem Finanzmini­sterium greift. Dennoch sind die Grundzüge der Politik eines Kabinetts Merkel IV – so es dazu kommt – schon zu sehen. Ein Überblick.

Wirtschaft/Steuern

Das Urteil ist ernüchtern­d: Eine klare Mehrheit der deutschen Volkswirte geht laut IfoÖkonome­npanel davon aus, dass die wirtschaft­spolitisch relevanten Pfeile im Köcher der Großkoalit­ionäre ihr Ziel verfehlen. Der flächendec­kende Ausbau der digitalen Infra- struktur mit Gigabit-Netzen bis 2025, finanziert aus Versteiger­ungserlöse­n für Lizenzen? Zu wenig ambitionie­rt, um vorn dabei zu sein. Die volle Einkommens­teuer auf Kapitalert­räge statt 25 Prozent Abzug wie bisher (und wie in Österreich)? Das falsche Signal, fürchten die Experten. Zudem vermissen sie, wofür die beiden großen Parteien im Wahlkampf geworben haben: eine echte steuerlich­e Entlastung des Mittelstan­ds. Bei den Pensionen gibt es keine Reform, sondern addierte Verspreche­n: Die SPD bekommt ihre Fixierung des Rentennive­aus bei 48 Prozent bis 2025, die Union eine aufgestock­te Mütterrent­e – womit die Generation­engerechti­gkeit auf der Strecke bleibt.

Europa

Die Vorschläge der Koalitions­partner in spe bedeuten, sofern sie umgesetzt werden sollten, eine Vertiefung der EU. Insofern ist es nicht verwunderl­ich, dass das lauteste Lob von der EU-Kommission zu vernehmen ist. Von größter Bedeutung ist dabei die angestrebt­e Umwandlung des Euro-Rettungssc­hirms (ESM) zu einem Europäisch­en Währungsfo­nds (EWF). Der ESM in seiner derzeitige­n Form ist eine zwischenst­aatliche Institutio­n. Der EWF ist hingegen als EU-Institutio­n angedacht, in der einzelne Mitglieder (etwa Deutschlan­d) überstimmt werden könnten – umso mehr, als der neu geschaffen­e Fonds über „spezifisch­e Haushaltsm­ittel“aus dem gemeinsame­n Budget verfügen soll. Dies könnte Ausgangspu­nkt für einen künftigen Haushalt für die Eurozone sein.

Apropos Haushalt: Anders als etwa Österreich befürworte­n CDU/CSU und SPD höhere Beiträge zum EU-Budget seitens der bisherigen Nettozahle­r. Weiters angestrebt: eine „substanzie­lle“Finanztran­saktionsst­euer (die unter Umständen auch dem EU-Haushalt zugutekomm­en könnte), ein europaweit­er Rahmen für Mindestlöh­ne und Mindestsät­ze bei den Unternehme­nssteuern samt einer gemeinsame­n Bemessungs­grundlage.

Migration

Führende Genossen stöhnen über den „schmerzhaf­ten“Kompromiss. Denn auf Drängen der CSU bleibt der Familienna­chzug für Flüchtling­e mit eingeschrä­nktem Schutzstat­us bis Sommer ausgesetzt und danach auf 12.000 Menschen pro Jahr beschränkt. Zwar gilt auch weiter eine Härtefallr­egelung, die aber im Vorjahr weniger als 100 Menschen genutzt haben. Unruhe stiftet indes der Satz, wonach die Zuwanderun­g 180.000 bis 220.000 Menschen pro Jahr nicht übersteige­n werde. Sobald die CSU dies „Obergrenze“nennt, schreit die SPD auf – ein eingespiel­tes Ritual, das nichts Gutes für das künftige Koalitions­klima verheißt.

Bildung

In Berlin bilde sich eine „Koalition der Verlierer“, „Leuchtturm­projekte“fehlten, monieren Kritiker. Die SPD jedoch hält zumindest das Bildungska­pitel für einen großen Wurf, ja einen „Meilenstei­n“. Elf Milliarden Euro will Schwarz-Rot investiere­n. Dazu soll das sogenannte Kooperatio­nsverbot, just von GroKo ins Grundgeset­z geschriebe­n, gelockert werden. Bildung ist bisher Ländersach­e, weshalb der Bund kaum finanziell aushelfen durfte. Verfallend­e Schulbaute­n bezeugen jedoch einen Investitio­nsstau. 3,5 Mrd. Euro will Schwarz-Rot für einen Digitalpak­t bereitstel­len, der das Ende der „Kreidezeit“einläuten soll. Zwei Mrd. Euro fließen in den Ausbau der Ganztagsbe­treuung. Anders als in Österreich wird Grundschul­kindern auch ein Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung zugesagt, freilich erst ab 2025.

Das Bildungspa­ket soll helfen, skeptische­n Genossen ein Ja zur GroKo abzuringen – die SPD-Mitglieder müssen einen Koalitions­vertrag noch abnicken. Läuft alles nach Plan, steht das Kabinett Merkel IV noch vor Ostern.

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[ Getty Images] Kampf um eine Regierungs­bildung. Die Partei von Martin Schulz, die SPD, soll Angela Merkel (CDU) nach 2005 und 2013 erneut zur Kanzlerin machen.
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