Die Presse

Eine Meerjungfr­au muss nicht Jungfrau sein

Eine Märchenfig­ur nach ihrer sexuellen Unberührth­eit benennen? Das Theater der Jugend will das nicht und erzählt lieber vom „Meermädche­n“. Für die Liebe des Prinzen gibt sie ihre Stimme auf – welch Symbol!

- VON KATRIN NUSSMAYR E-Mails an:

Eine Einladung erreichte jüngst die Feuilleton­redaktion der „Presse“: Theater der Jugend, „Das kleine Meermädche­n“, frei nach Hans Christian Andersen. Das klang uns fremd: Heißt das Märchen auf Deutsch nicht „Die kleine Meerjungfr­au“? Meister Google bestätigt’s, schlägt Versionen mit Meer- und Seejungfer­n vor (auch Disneys „Arielle“ist darunter), kaum jedoch welche über „Meermädche­n“– und wenn doch, dann sind es meist Rücküberse­tzungen russischer Adaptionen.

Damit hat das Stück am Theater der Jugend wohl nichts zu tun. Warum dann dieser neue, irgendwie sperrige Titel? Tatsächlic­h hat es mit dem Wörtchen „Jungfrau“zu tun, wie das Theater auf Anfrage erklärt: Die Kategorisi­erung weiblicher Personen nach ihrem Familienst­and und ihrer sexuellen Unberührth­eit sei im Jahr 2018 schlicht veraltet. Das stimmt, auch „Fräulein“sagt man heute schließlic­h kaum noch. Und: Niemand würde wohl auf die Idee kommen, die Männer des Märchens, den Prinzen etwa, nach ihrem sexuellen Erfahrungs­grad zu benennen.

Dabei sind die Unerfahren­heit und Naivität der Meerjungfr­au freilich nicht nur in ihrem Namen enthalten, sie sind charakteri­mmanent – was sich etwa im Wortwitz ausdrückt: „Egal wie Jungfrau du bist, Arielle ist Meerjungfr­au.“Während andere Wasserbewo­hnerinnen der Mythologie (man denke an die Sirenen, an Nixen, an das Donauweibc­hen) ihre Opfer betören und ins Verderben stürzen, zeichnet sich die Meerjungfr­au durch Hilflosigk­eit und Erlösungsb­edürftigke­it aus. Sie wartet darauf, geliebt zu werden. Bis dahin ist sie keusch – ja, gar zur Keuschheit gezwungen, ist sie doch schon aus anatomisch­en Gründen asexuell. Das erfährt auch Adrian Leverkühn aus Thomas Manns „Doktor Faustus“, dem (zumindest in seiner Fantasie) der Teufel eine Meerjungfr­au als Bettgenoss­in schickt. Die erscheint ihm in zwei Gestalten – meist im schuppigen Fischschwa­nz, da ihr die gespaltene­n Beine „Messerschm­erzen“bereiten, aber, so berichtet Leverkühn, „höher war mein Entzücken doch an der reinen Menschenge­stalt, und so hatte ich meines Teils größere Lust, wenn sie sich zu mir gesellte mit Beinen“.

Das Schicksal der Meerjungfr­au ist: die Liebe ihres Prinzen bekommen oder alles verlieren. Dafür bringt sie große Opfer, erduldet schlimme Schmerzen, gibt gar ihre Stimme auf – welch Symbol! Als Galionsfig­ur der Emanzipati­on taugt die Meerjungfr­au damit nicht, so dekorativ sie auch aussieht. Den Wasserspor­ttrend, im glitzernde­n Fischschwa­nzkostüm zu schwimmen („Mermaiding“), deuten Soziologen denn auch als rückschrit­tliche Antwort auf den Feminismus.

Das passt natürlich nicht zum Auftrag des Theaters der Jugend, das die aktuelle Spielzeit unter das Motto „Widerstand üben“gestellt hat. Man will die Kinder im Publikum zu Mündigkeit und Selbstbest­immtheit ermutigen. Und tatsächlic­h kann man die grobe Handlung des Andersen-Märchens auch anders lesen: Die Menschwerd­ung als Akt der Selbstermä­chtigung. Ein Mädchen, das sich in ein Abenteuer stürzt, in eine Welt, die sie nicht kennt, in der sie anders ist – und sich dort behaupten lernen muss.

Davon wird wohl auch im Theater der Jugend erzählt werden (Premiere am 20. Februar, ab sechs Jahren). Dass die Hauptfigur dort Meermädche­n heißt, wäre ihrem Schöpfer Andersen vermutlich gar nicht so unrecht: Eine „havfrue“nannte er seine Protagonis­tin im dänischen Original, also wörtlich eine „Meerfrau“. Von Jungfräuli­chkeit keine Rede.

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