Eine Meerjungfrau muss nicht Jungfrau sein
Eine Märchenfigur nach ihrer sexuellen Unberührtheit benennen? Das Theater der Jugend will das nicht und erzählt lieber vom „Meermädchen“. Für die Liebe des Prinzen gibt sie ihre Stimme auf – welch Symbol!
Eine Einladung erreichte jüngst die Feuilletonredaktion der „Presse“: Theater der Jugend, „Das kleine Meermädchen“, frei nach Hans Christian Andersen. Das klang uns fremd: Heißt das Märchen auf Deutsch nicht „Die kleine Meerjungfrau“? Meister Google bestätigt’s, schlägt Versionen mit Meer- und Seejungfern vor (auch Disneys „Arielle“ist darunter), kaum jedoch welche über „Meermädchen“– und wenn doch, dann sind es meist Rückübersetzungen russischer Adaptionen.
Damit hat das Stück am Theater der Jugend wohl nichts zu tun. Warum dann dieser neue, irgendwie sperrige Titel? Tatsächlich hat es mit dem Wörtchen „Jungfrau“zu tun, wie das Theater auf Anfrage erklärt: Die Kategorisierung weiblicher Personen nach ihrem Familienstand und ihrer sexuellen Unberührtheit sei im Jahr 2018 schlicht veraltet. Das stimmt, auch „Fräulein“sagt man heute schließlich kaum noch. Und: Niemand würde wohl auf die Idee kommen, die Männer des Märchens, den Prinzen etwa, nach ihrem sexuellen Erfahrungsgrad zu benennen.
Dabei sind die Unerfahrenheit und Naivität der Meerjungfrau freilich nicht nur in ihrem Namen enthalten, sie sind charakterimmanent – was sich etwa im Wortwitz ausdrückt: „Egal wie Jungfrau du bist, Arielle ist Meerjungfrau.“Während andere Wasserbewohnerinnen der Mythologie (man denke an die Sirenen, an Nixen, an das Donauweibchen) ihre Opfer betören und ins Verderben stürzen, zeichnet sich die Meerjungfrau durch Hilflosigkeit und Erlösungsbedürftigkeit aus. Sie wartet darauf, geliebt zu werden. Bis dahin ist sie keusch – ja, gar zur Keuschheit gezwungen, ist sie doch schon aus anatomischen Gründen asexuell. Das erfährt auch Adrian Leverkühn aus Thomas Manns „Doktor Faustus“, dem (zumindest in seiner Fantasie) der Teufel eine Meerjungfrau als Bettgenossin schickt. Die erscheint ihm in zwei Gestalten – meist im schuppigen Fischschwanz, da ihr die gespaltenen Beine „Messerschmerzen“bereiten, aber, so berichtet Leverkühn, „höher war mein Entzücken doch an der reinen Menschengestalt, und so hatte ich meines Teils größere Lust, wenn sie sich zu mir gesellte mit Beinen“.
Das Schicksal der Meerjungfrau ist: die Liebe ihres Prinzen bekommen oder alles verlieren. Dafür bringt sie große Opfer, erduldet schlimme Schmerzen, gibt gar ihre Stimme auf – welch Symbol! Als Galionsfigur der Emanzipation taugt die Meerjungfrau damit nicht, so dekorativ sie auch aussieht. Den Wassersporttrend, im glitzernden Fischschwanzkostüm zu schwimmen („Mermaiding“), deuten Soziologen denn auch als rückschrittliche Antwort auf den Feminismus.
Das passt natürlich nicht zum Auftrag des Theaters der Jugend, das die aktuelle Spielzeit unter das Motto „Widerstand üben“gestellt hat. Man will die Kinder im Publikum zu Mündigkeit und Selbstbestimmtheit ermutigen. Und tatsächlich kann man die grobe Handlung des Andersen-Märchens auch anders lesen: Die Menschwerdung als Akt der Selbstermächtigung. Ein Mädchen, das sich in ein Abenteuer stürzt, in eine Welt, die sie nicht kennt, in der sie anders ist – und sich dort behaupten lernen muss.
Davon wird wohl auch im Theater der Jugend erzählt werden (Premiere am 20. Februar, ab sechs Jahren). Dass die Hauptfigur dort Meermädchen heißt, wäre ihrem Schöpfer Andersen vermutlich gar nicht so unrecht: Eine „havfrue“nannte er seine Protagonistin im dänischen Original, also wörtlich eine „Meerfrau“. Von Jungfräulichkeit keine Rede.