Merkels teuer erkaufte Koalition
Deutschland. Die Kanzlerin gibt den Sozialdemokraten die drei Schlüsselressorts Äußeres, Finanzen und Soziales. Horst Seehofer bekommt ein aufgewertetes Innenministerium. In der CDU rumort es.
Das ist eine Überraschung. Mit dem Verteidigungsressort kann man nichts gewinnen.
Ein CDU-Mann kritisiert den Verhandlungsausgang
Die drei Parteichefs Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz hatten kaum ein Auge zugedrückt, als sie am Mittwoch im Konrad-Adenauer-Haus die Einigung verkündeten. Der Koalitionsvertrag steht. 136 Tage liegt die Bundestagswahl zu diesem Zeitpunkt schon zurück, an die sich weder Merkel noch Seehofer noch Schulz gern erinnern. Auf allen drei Karrieren klebt seither ein Ablaufdatum. Doch nun rettet sich das angeschlagene Trio in eine neue Regierung. Läuft alles glatt, wird die SPD Merkel noch vor Ostern ein drittes Mal zur Kanzlerin wählen. Die Große Koalition (GroKo), die Ausnahme in der Vor-MerkelÄra, wäre dann zur neuen Normalität geworden.
Gut 24 Stunden hatten CDU, CSU und SPD seit Dienstagfrüh durchverhandelt. Bilder von leeren Pizzakartons und gestapelten Kaffeebechern kündeten von der schlaflosen Berliner Verhandlungsnacht. Mittwochfrüh drang dann ein Kompromiss nach außen, der den Sozialdemokraten schmeichelt: Die SPD räumt sechs Ressorts ab, darunter die prestigeträchtigen Ministerien für Finanzen, Außen und Soziales. Das gab es zuletzt 2005. Damals hatten die Sozialdemokraten jedoch bei 34,2 Prozent gelegen - und nicht bei historisch schlechten 20,5 Prozent.
Für CSU–Chef Horst Seehofer wird ein Superministerium gezimmert, das neben Innerem und Heimat auch den Bereich Bau beinhaltet. Zudem erhält die CSU ein neues Digital- und das Entwicklungsministerium. Für die CDU bleiben Verteidigung, Wirtschaft, Gesundheit und Landwirtschaft. Von einem „Desaster“schreibt das „Handelsblatt“in einer ersten Analyse. Bald kursiert in den sozialen Netzwerken das Bonmot, wonach die CDU zumindest das Kanzleramt behalte. „Das ist schon eine Überraschung“, stöhnt ein konsternierter CDUMann gegenüber der „Presse“: „Mit dem Verteidigungsressort kann man nichts gewinnen.“Und Landwirtschaft sei „bei allem Respekt“auch nichts, das sich groß vermarkten lasse.
Merkel redet den Unmut klein: Man bedaure doch immer, was man gerade nicht habe, sagt sie sinngemäß im Konrad-Adenauer-Haus.
Doch in der CDU rumort es. Zwar will die Kanzlerin ein paar junge Gesichter wie Julia Klöckner (45) in die Regierung holen. Jens Spahn jedoch, der inoffizielle Anführer des konservativen Flügels der Merkel-Kritiker, geht wohl leer aus. Mit ernster Miene soll er den Verhandlungsort verlassen haben. Ein parteiinternes Versöhnungssignal an ihre Kritiker sei das definitiv nicht, hört man aus dem konservativen CDU-Lager. Aber die Kanzlerin stünde ja nicht mehr am Anfang ihrer Karriere. Sie müsse keine Rücksicht mehr nehmen.
Das Kabinett Merkel IV ist jedenfalls teuer erkauft. Im Wortsinn. Der finanzielle Spielraum von 46 Milliarden Euro soll in den nächsten vier Jahren ausgeschöpft werden, allein in den Bildungsbereich fließen auf Drängen der SPD elf Milliarden Euro. Martin Schulz wähnte sodann in dem 177-seitigen Koalitionsvertrag eine „sozialdemokratische Handschrift“. CSU-Chef Seehofer sah das zwar anders, war jedoch zu müde, um zu kontern. Er hebe sich das für den „politischen Aschermittwoch“auf, scherzte er in Richtung des „lieben Martin“.
Tandem Schulz/Scholz in Europapolitik
Der Plan der SPD ging jedenfalls auf: Mit Finanzen und Äußerem besetzt die Partei nun zwei Schlüsselressorts in der Europapolitik, die Union und SPD im 177-seitigen Koalitionsvertrag auch ganz nach vorn gestellt haben. Hamburgs Bürgermeister, Olaf Scholz, wechselt nach Berlin an die Spitze des Finanzministeriums – und soll zudem Vizekanzler, werden. Schulz selbst will sich ins Außenministerium retten. „Ganz klar. In eine Regierung unter Merkel werde ich nicht eintreten“, hatte er noch vor einigen Wochen vollmundig angekündigt. Die 180-Grad-Wende kostet ihn nun Glaubwürdigkeit – und nach nur einem Jahr auch das Amt des SPD-Chefs. Schulz wird es an Andrea Nahles abgeben, die ihm auf dem jüngsten Parteitag ohnehin die Show gestohlen hat. Sie soll nun die SPD-Basis von der GroKo überzeugen. Denn die politischen Schicksale von Schulz, aber auch von Merkel und Seehofer, haben nun die SPD-Mitglieder in die Hand. Sie müssen den Koalitionsvertrag abnicken.
Mit Widerstand ist zu rechnen. Die Jusos hatten mit dem griffigen Slogan „Tritt ein, sag Nein“Gegner der Großen Koalition dazu aufgerufen, SPD-Mitglieder zu werden. Die Kampagne lief offenbar ziemlich erfolgreich: Seit Jahresbeginn zählte die älteste Partei Deutschlands 24.339 neue Mitglieder, weshalb nun insgesamt 463.723 Genossen über den Koalitionsvertrag abstimmen dürfen. Am Wochenende des 3./4. März soll das Ergebnis feststehen.