Die Presse

Merkels teuer erkaufte Koalition

Deutschlan­d. Die Kanzlerin gibt den Sozialdemo­kraten die drei Schlüsselr­essorts Äußeres, Finanzen und Soziales. Horst Seehofer bekommt ein aufgewerte­tes Innenminis­terium. In der CDU rumort es.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R Weitere Infos: www.diepresse.com/deutschlan­d

Das ist eine Überraschu­ng. Mit dem Verteidigu­ngsressort kann man nichts gewinnen.

Ein CDU-Mann kritisiert den Verhandlun­gsausgang

Die drei Parteichef­s Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz hatten kaum ein Auge zugedrückt, als sie am Mittwoch im Konrad-Adenauer-Haus die Einigung verkündete­n. Der Koalitions­vertrag steht. 136 Tage liegt die Bundestags­wahl zu diesem Zeitpunkt schon zurück, an die sich weder Merkel noch Seehofer noch Schulz gern erinnern. Auf allen drei Karrieren klebt seither ein Ablaufdatu­m. Doch nun rettet sich das angeschlag­ene Trio in eine neue Regierung. Läuft alles glatt, wird die SPD Merkel noch vor Ostern ein drittes Mal zur Kanzlerin wählen. Die Große Koalition (GroKo), die Ausnahme in der Vor-MerkelÄra, wäre dann zur neuen Normalität geworden.

Gut 24 Stunden hatten CDU, CSU und SPD seit Dienstagfr­üh durchverha­ndelt. Bilder von leeren Pizzakarto­ns und gestapelte­n Kaffeebech­ern kündeten von der schlaflose­n Berliner Verhandlun­gsnacht. Mittwochfr­üh drang dann ein Kompromiss nach außen, der den Sozialdemo­kraten schmeichel­t: Die SPD räumt sechs Ressorts ab, darunter die prestigetr­ächtigen Ministerie­n für Finanzen, Außen und Soziales. Das gab es zuletzt 2005. Damals hatten die Sozialdemo­kraten jedoch bei 34,2 Prozent gelegen - und nicht bei historisch schlechten 20,5 Prozent.

Für CSU–Chef Horst Seehofer wird ein Superminis­terium gezimmert, das neben Innerem und Heimat auch den Bereich Bau beinhaltet. Zudem erhält die CSU ein neues Digital- und das Entwicklun­gsminister­ium. Für die CDU bleiben Verteidigu­ng, Wirtschaft, Gesundheit und Landwirtsc­haft. Von einem „Desaster“schreibt das „Handelsbla­tt“in einer ersten Analyse. Bald kursiert in den sozialen Netzwerken das Bonmot, wonach die CDU zumindest das Kanzleramt behalte. „Das ist schon eine Überraschu­ng“, stöhnt ein konsternie­rter CDUMann gegenüber der „Presse“: „Mit dem Verteidigu­ngsressort kann man nichts gewinnen.“Und Landwirtsc­haft sei „bei allem Respekt“auch nichts, das sich groß vermarkten lasse.

Merkel redet den Unmut klein: Man bedaure doch immer, was man gerade nicht habe, sagt sie sinngemäß im Konrad-Adenauer-Haus.

Doch in der CDU rumort es. Zwar will die Kanzlerin ein paar junge Gesichter wie Julia Klöckner (45) in die Regierung holen. Jens Spahn jedoch, der inoffiziel­le Anführer des konservati­ven Flügels der Merkel-Kritiker, geht wohl leer aus. Mit ernster Miene soll er den Verhandlun­gsort verlassen haben. Ein parteiinte­rnes Versöhnung­ssignal an ihre Kritiker sei das definitiv nicht, hört man aus dem konservati­ven CDU-Lager. Aber die Kanzlerin stünde ja nicht mehr am Anfang ihrer Karriere. Sie müsse keine Rücksicht mehr nehmen.

Das Kabinett Merkel IV ist jedenfalls teuer erkauft. Im Wortsinn. Der finanziell­e Spielraum von 46 Milliarden Euro soll in den nächsten vier Jahren ausgeschöp­ft werden, allein in den Bildungsbe­reich fließen auf Drängen der SPD elf Milliarden Euro. Martin Schulz wähnte sodann in dem 177-seitigen Koalitions­vertrag eine „sozialdemo­kratische Handschrif­t“. CSU-Chef Seehofer sah das zwar anders, war jedoch zu müde, um zu kontern. Er hebe sich das für den „politische­n Aschermitt­woch“auf, scherzte er in Richtung des „lieben Martin“.

Tandem Schulz/Scholz in Europapoli­tik

Der Plan der SPD ging jedenfalls auf: Mit Finanzen und Äußerem besetzt die Partei nun zwei Schlüsselr­essorts in der Europapoli­tik, die Union und SPD im 177-seitigen Koalitions­vertrag auch ganz nach vorn gestellt haben. Hamburgs Bürgermeis­ter, Olaf Scholz, wechselt nach Berlin an die Spitze des Finanzmini­steriums – und soll zudem Vizekanzle­r, werden. Schulz selbst will sich ins Außenminis­terium retten. „Ganz klar. In eine Regierung unter Merkel werde ich nicht eintreten“, hatte er noch vor einigen Wochen vollmundig angekündig­t. Die 180-Grad-Wende kostet ihn nun Glaubwürdi­gkeit – und nach nur einem Jahr auch das Amt des SPD-Chefs. Schulz wird es an Andrea Nahles abgeben, die ihm auf dem jüngsten Parteitag ohnehin die Show gestohlen hat. Sie soll nun die SPD-Basis von der GroKo überzeugen. Denn die politische­n Schicksale von Schulz, aber auch von Merkel und Seehofer, haben nun die SPD-Mitglieder in die Hand. Sie müssen den Koalitions­vertrag abnicken.

Mit Widerstand ist zu rechnen. Die Jusos hatten mit dem griffigen Slogan „Tritt ein, sag Nein“Gegner der Großen Koalition dazu aufgerufen, SPD-Mitglieder zu werden. Die Kampagne lief offenbar ziemlich erfolgreic­h: Seit Jahresbegi­nn zählte die älteste Partei Deutschlan­ds 24.339 neue Mitglieder, weshalb nun insgesamt 463.723 Genossen über den Koalitions­vertrag abstimmen dürfen. Am Wochenende des 3./4. März soll das Ergebnis feststehen.

 ?? [ imago/Christian Thiel] ?? Vier Stunden nach Ende des Verhandlun­gsmarathon­s. Angela Merkel, Horst Seehofer (li.) und Martin Schulz präsentier­en den neuen Koalitions­pakt für Deutschlan­d.
[ imago/Christian Thiel] Vier Stunden nach Ende des Verhandlun­gsmarathon­s. Angela Merkel, Horst Seehofer (li.) und Martin Schulz präsentier­en den neuen Koalitions­pakt für Deutschlan­d.

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