Leitartikel von Thomas Vieregge: Kraftlose Neuauflage
Die Verhandler in Deutschland haben sich ins Ziel gerettet. Es regiert Pragmatismus pur. Im Finale gab die Kanzlerin Posten und Positionen auf.
Nach
einem finalen 24-stündigen Verhandlungsmarathon war das Werk vollbracht. Erschöpft schleppten sich die Parteichefs Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz über die Ziellinie und entschwanden durch die Tiefgarage. Nach Jubel und Triumphgeheul war niemandem zumute nach viereinhalb zähen Monaten seit der Bundestagswahl und dem jähen Platzen der Jamaika-Koalitionsträume, in denen die Politik auf der Stelle trat, die Wirtschaft indes florierte. Ein Kraftakt für eine kraftlose Neuauflage der GroKo, der Großen Koalition. Viel länger hätten die Chefverhandler die Geduld der Deutschen zur Hochsaison des Karnevals aber nicht strapazieren dürfen. In Umfragen manifestierte sich zuletzt der massive Unmut der Wähler über CDU/CSU und SPD.
Noch steht die Neuversion der ungeliebten Großen Koalition – der bereits dritten in der Ära Merkel – allerdings nicht fest. In einem Mitgliedervotum, einer basisdemokratischen Urwahl, haben vorerst die SPD-Parteigänger das letzte Wort. Sie könnten die Koalition in vier Wochen noch kippen. Ausgeschlossen ist es nicht. Die „No GroKo“-Kampagne der Jusos erhielt durch fast 25.000 neue Mitglieder einen sensationellen Zulauf. Beim Parteitag in Bonn hatten sich die Befürworter eines neuerlichen Bündnisses mit der Union nur überraschend knapp behauptet. Die 463.000 Mitglieder haben die Wahl zwischen Pest und Cholera: einer Fortdauer des Abwärtstrends mit der vagen Hoffnung auf eine Umkehr durch eine neue Profilierung und neues Personal in der Regierung und einem Untergang bei einer Neuwahl.
Dabei gewannen die Sozialdemokraten das Finale just im Auswärtsmatch im Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Zentrale – wie 2005 und 2013. Mit dem Rücken zur Wand haben sie für eine 20-ProzentPartei inhaltlich erstaunlich viel durchgeboxt. Der Koalitionsvertrag trägt neuerlich eine sozialdemokratische Handschrift, worauf Noch-SPD-Chef Martin Schulz mit einigem Recht pochte. Vor allem hat er personell das Maximum herausgeholt. Wie 2005, als sie beinahe gleichauf mit der Union ins Ziel gegangen war, eroberte die SPD drei Schlüsselressorts: das Außen-, Finanzund Arbeitsministerium. Für die SPD-Urwahl hat Schulz gute Argumente parat.
Der SPD-Chef, der innerhalb eines Jahres eine einzigartige Achterbahnfahrt durchlebt hatte, zahlreiche Volten schlug und zunehmend eine unglückliche Figur machte, rettete sich durch einen Überraschungscoup: Er wird den Parteivorsitz wohl aufgeben, um sich sein Wunschressort – das Außenamt – zu sichern. Mit dem Generationswechsel zu Andrea Nahles stellt er personell die Weichen für eine Erneuerung. Zudem spekuliert die SPD auf ein Ende der Koalition zur Mitte der Legislaturperiode. Zumindest klammern sich die Sozialdemokraten an das Szenario einer Post-Merkel-Ära – wenn das nur keine Illusion ist.
Neben der SPD quittierte die CSU das Ergebnis mit Zufriedenheit. Seehofer brachte es strahlend auf die Formel: „Passt scho.“Die CSU erreichte mehr als 2013. Der als Ministerpräsident bald abgehalfterte Seehofer erfocht für sich selbst ein aufgewertetes Innenministerium. Darauf lässt sich für die Landtagswahlen in Bayern im Oktober aufbauen. Zu
den Verlieren zählen – neben den Ministern Sigmar Gabriel und Thomas de Maizi`ere – Angela Merkel und ihre CDU. „Puh, wir haben wenigstens das Kanzleramt bekommen“, kommentierte ein CDU-Hinterbänkler sarkastisch. Um den Preis des Machterhalts gab die Regierungschefin Posten und Positionen auf. Wer sich von Merkel einen großen Wurf oder eine kleine Vision zur Abschiedsvorstellung erhofft hatte, sah sich wieder einmal enttäuscht. Mehr als Pragmatismus pur war von der Kanzlerin nicht zu erwarten. „Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland“, der bombastische Titel des Koalitionsvertrags, ist als Euphemismus zu verstehen. Wie gehabt moderierte sie Unebenheiten weg und kaschierte den Unmut in den eigenen Reihen.
In der CDU rumort es, und Merkel wird eher früher als später ihre Nachfolge regeln müssen, will sie nicht eine Palastrevolte des Kanzlerwahlvereins riskieren. Merkel sollte klug genug sein, das zu erkennen. So oder so – Deutschland steht eine Zäsur bevor, vielleicht schon 2020.