Verösterreichert Deutschland?
Große Koalition vs. Türkis-Blau. Warum Österreich und Deutschland die Rollen tauschen und Martin Schulz an Wolfgang Schüssel erinnert: ein politischer Vergleich.
Wien. In Österreich war die Große Koalition immer die Regel, in Deutschland die Ausnahme. Jetzt hat Österreich eine türkisblaue Regierung, während Deutschland zum zweiten Mal en suite und zum dritten Mal in der Ära Angela Merkel eine „GroKo“bekommt. Kommt es hier zum Rollentausch? Oder, anders gefragt: Verösterreichert Deutschland?
Scheint so: Von der Großen Koalition hat in Österreich stets die FPÖ profitiert, zulasten von Sozialdemokraten und Konservativen. Die Geschichte könnte sich in Deutschland wiederholen – mit der AfD. Ansonsten gibt es allerdings mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten, politisch gesehen. Wir haben hier einige aufgelistet:
Notlösung vs. Liebesheirat. Eigentlich hätte Deutschland ja eine „Jamaika“-Koalition bekommen sollen, also eine Regierung aus CDU/CSU, Grünen und Liberalen. Doch am 20. November, vier Wochen nach Beginn der Sondierungsgespräche, sprang die FDP ab. „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, sagte Liberalen-Chef Christian Lindner.
Die Große Koalition ist also nur die Notlösung. In Österreich dagegen kann man durchaus von einer Liebesheirat zwischen ÖVP und FPÖ sprechen – aufgrund der inhaltlichen Nähe in vielen Bereichen (Stichwort Zuwanderung). So haben die Österreicher schon im Dezember eine Regierung bekommen, eineinhalb Monate vor den Deutschen. Obwohl sie zwei Wochen später gewählt haben.
Urgesteine vs. Novizen. Angela Merkel bleibt Kanzlerin, Martin Schulz soll Außenminister werden, Horst Seehofer Innenminister und Olaf Scholz Finanzminister. Das sind allesamt Routiniers, bekannt als Regierungs- oder Parteichefs, Ministerpräsidenten (Seehofer in Bayern) oder Bürgermeister (Scholz in Hamburg), am Abend ihrer Karriere angelangt.
In Österreich ist das erfahrenste Regierungsmitglied 31 Jahre alt und Bundeskanzler. Im Kabinett Sebastian Kurz sitzen ausschließlich Regierungsnovizen wie Heinz-Christian Strache und Quereinsteiger wie Finanzminister Hartwig Löger oder Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck, die einer breiten Öffentlichkeit bis vor Kurzem unbekannt waren.
Schulz vs. Schüssel. Nach der Wahlschlappe der SPD (20,5 Prozent) hat Martin Schulz ausgeschlossen, dass seine Partei der nächsten Regierung angehören wird. Nach dem Scheitern von Jamaika hat er dann ausgeschlossen, dass Martin Schulz einem Kabinett Merkel als Minister angehören wird. Jetzt ist die SPD in der Regierung und Schulz vermutlich bald Außenminister.
Ein wenig erinnert das an Wolfgang Schüssel, der vor der Nationalratswahl 1999 versichert hat, dass die ÖVP in Opposition gehen werde, wenn sie Dritte wird. Der Unterschied: Wolfgang Schüssel ließ sich von der FPÖ zum Kanzler machen und blieb bis 2007 ÖVP-Obmann. Martin Schulz jedoch ist als SPD-Chef nach nur einem Jahr schon fast wieder Geschichte.
Frauen vs. Männer. Statt Martin Schulz kommt nun eine Frau an die Macht, zumindest in der SPD: Fraktionschefin Andrea Nahles soll den Parteivorsitz übernehmen. In Deutschland regiert ohnehin schon länger eine Frau: Für Angela Merkel ist es bereits die vierte Amtszeit als Kanzlerin. Und auch ihre Nachfolge wird im Hintergrund geregelt: mit einer möglichen Nachfolgerin. Gute Chancen hat die Saarländerin Annegret Kramp-Karrenbauer.
Und in Österreich? Der Frauenanteil in der Regierung liegt bei 37,5 Prozent, das ist immerhin mehr als unter Rot-Schwarz. Parteichefin gibt es allerdings keine.
Mehr vs. weniger Europa. Die „GroKo“widmet sich in ihrem Koalitionspakt gleich zu Beginn einem zentralen Kapitel: Europa. Die Union soll international stärker mit einer Stimme auftreten, gleichzeitig soll die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten gestärkt werden. Man deutet sogar an, sich finanziell stärker am EU-Haushalt beteiligen zu wollen. Das nötige Budget gibt es theoretisch, immerhin erzielte Deutschland seinen bisher höchsten Budgetüberschuss (wovon die österreichischen Kollegen nur träumen können). Türkis-Blau hingegen bekennt sich zwar zu einem pro-europäischen Kurs. Im Zweifelsfall ist man aber für weniger als mehr Europa.
Mitgliederbefragung vs. Carte blanche. Ob die Koalition in dieser Form in Deutschland tatsächlich zustande kommt, ist trotz zäher Verhandlungen nicht fix. Die SPD-Mitglieder müssen den Koalitionspakt erst bei einem Sonderparteitag absegnen. In Österreich läuft es weniger basisdemokratisch ab. Sebastian Kurz etwa führt die ÖVP – und zwar alleine. Für alle inhaltlichen und personellen Entscheidungen hat er sich eine Vollmacht ausstellen lassen.