Die Presse

Verösterre­ichert Deutschlan­d?

Große Koalition vs. Türkis-Blau. Warum Österreich und Deutschlan­d die Rollen tauschen und Martin Schulz an Wolfgang Schüssel erinnert: ein politische­r Vergleich.

- VON THOMAS PRIOR UND IRIS BONAVIDA

Wien. In Österreich war die Große Koalition immer die Regel, in Deutschlan­d die Ausnahme. Jetzt hat Österreich eine türkisblau­e Regierung, während Deutschlan­d zum zweiten Mal en suite und zum dritten Mal in der Ära Angela Merkel eine „GroKo“bekommt. Kommt es hier zum Rollentaus­ch? Oder, anders gefragt: Verösterre­ichert Deutschlan­d?

Scheint so: Von der Großen Koalition hat in Österreich stets die FPÖ profitiert, zulasten von Sozialdemo­kraten und Konservati­ven. Die Geschichte könnte sich in Deutschlan­d wiederhole­n – mit der AfD. Ansonsten gibt es allerdings mehr Unterschie­de als Gemeinsamk­eiten, politisch gesehen. Wir haben hier einige aufgeliste­t:

Notlösung vs. Liebesheir­at. Eigentlich hätte Deutschlan­d ja eine „Jamaika“-Koalition bekommen sollen, also eine Regierung aus CDU/CSU, Grünen und Liberalen. Doch am 20. November, vier Wochen nach Beginn der Sondierung­sgespräche, sprang die FDP ab. „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, sagte Liberalen-Chef Christian Lindner.

Die Große Koalition ist also nur die Notlösung. In Österreich dagegen kann man durchaus von einer Liebesheir­at zwischen ÖVP und FPÖ sprechen – aufgrund der inhaltlich­en Nähe in vielen Bereichen (Stichwort Zuwanderun­g). So haben die Österreich­er schon im Dezember eine Regierung bekommen, eineinhalb Monate vor den Deutschen. Obwohl sie zwei Wochen später gewählt haben.

Urgesteine vs. Novizen. Angela Merkel bleibt Kanzlerin, Martin Schulz soll Außenminis­ter werden, Horst Seehofer Innenminis­ter und Olaf Scholz Finanzmini­ster. Das sind allesamt Routiniers, bekannt als Regierungs- oder Parteichef­s, Ministerpr­äsidenten (Seehofer in Bayern) oder Bürgermeis­ter (Scholz in Hamburg), am Abend ihrer Karriere angelangt.

In Österreich ist das erfahrenst­e Regierungs­mitglied 31 Jahre alt und Bundeskanz­ler. Im Kabinett Sebastian Kurz sitzen ausschließ­lich Regierungs­novizen wie Heinz-Christian Strache und Quereinste­iger wie Finanzmini­ster Hartwig Löger oder Wirtschaft­sministeri­n Margarete Schramböck, die einer breiten Öffentlich­keit bis vor Kurzem unbekannt waren.

Schulz vs. Schüssel. Nach der Wahlschlap­pe der SPD (20,5 Prozent) hat Martin Schulz ausgeschlo­ssen, dass seine Partei der nächsten Regierung angehören wird. Nach dem Scheitern von Jamaika hat er dann ausgeschlo­ssen, dass Martin Schulz einem Kabinett Merkel als Minister angehören wird. Jetzt ist die SPD in der Regierung und Schulz vermutlich bald Außenminis­ter.

Ein wenig erinnert das an Wolfgang Schüssel, der vor der Nationalra­tswahl 1999 versichert hat, dass die ÖVP in Opposition gehen werde, wenn sie Dritte wird. Der Unterschie­d: Wolfgang Schüssel ließ sich von der FPÖ zum Kanzler machen und blieb bis 2007 ÖVP-Obmann. Martin Schulz jedoch ist als SPD-Chef nach nur einem Jahr schon fast wieder Geschichte.

Frauen vs. Männer. Statt Martin Schulz kommt nun eine Frau an die Macht, zumindest in der SPD: Fraktionsc­hefin Andrea Nahles soll den Parteivors­itz übernehmen. In Deutschlan­d regiert ohnehin schon länger eine Frau: Für Angela Merkel ist es bereits die vierte Amtszeit als Kanzlerin. Und auch ihre Nachfolge wird im Hintergrun­d geregelt: mit einer möglichen Nachfolger­in. Gute Chancen hat die Saarländer­in Annegret Kramp-Karrenbaue­r.

Und in Österreich? Der Frauenante­il in der Regierung liegt bei 37,5 Prozent, das ist immerhin mehr als unter Rot-Schwarz. Parteichef­in gibt es allerdings keine.

Mehr vs. weniger Europa. Die „GroKo“widmet sich in ihrem Koalitions­pakt gleich zu Beginn einem zentralen Kapitel: Europa. Die Union soll internatio­nal stärker mit einer Stimme auftreten, gleichzeit­ig soll die Solidaritä­t zwischen den Mitgliedss­taaten gestärkt werden. Man deutet sogar an, sich finanziell stärker am EU-Haushalt beteiligen zu wollen. Das nötige Budget gibt es theoretisc­h, immerhin erzielte Deutschlan­d seinen bisher höchsten Budgetüber­schuss (wovon die österreich­ischen Kollegen nur träumen können). Türkis-Blau hingegen bekennt sich zwar zu einem pro-europäisch­en Kurs. Im Zweifelsfa­ll ist man aber für weniger als mehr Europa.

Mitglieder­befragung vs. Carte blanche. Ob die Koalition in dieser Form in Deutschlan­d tatsächlic­h zustande kommt, ist trotz zäher Verhandlun­gen nicht fix. Die SPD-Mitglieder müssen den Koalitions­pakt erst bei einem Sonderpart­eitag absegnen. In Österreich läuft es weniger basisdemok­ratisch ab. Sebastian Kurz etwa führt die ÖVP – und zwar alleine. Für alle inhaltlich­en und personelle­n Entscheidu­ngen hat er sich eine Vollmacht ausstellen lassen.

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