„Wir können die Raffsucht überwinden“
Interview. Was teilen wir gerne, was wollen wir unbedingt besitzen? Der kanadische Konsumforscher Russell Belk hält das Haben-Wollen für ein Auslaufmodell und erklärt, warum er sein liebstes Kaffeehäferl dennoch nie hergeben würde.
Besitzen Sie ein eigenes Auto? Russell Belk: Ja.
Warum sind Sie das denn noch nicht losgeworden? In Ihren Studien schreiben Sie doch ständig, dass ein Auto in Nordamerika im Schnitt nur acht Prozent seines Lebens genutzt wird. Ich lebe am Land mit wenig Nachbarn und da ist es schwierig, öffentliche Verkehrsmittel oder Uber zu nutzen. Auch eine Bohrmaschine wird übrigens in Summe nur 13 Minuten lang aktiv genutzt. Es gibt also gute Gründe, zu teilen.
Zuletzt gab es einen regelrechten Hype um die sogenannte Sharing-Economy. Ist das klassische Besitzen von Dingen wirklich ein Auslaufmodell? Das hängt stark davon ab, welche Generation wir betrachten. Seit der Finanzkrise 2008 gibt es einen Trend hin zum Teilen. Das hat finanzielle Gründe, aber nicht nur. Die Millennials, die zwischen 1980 und 2000 geboren wurden, sind mit dem Selbstverständnis aufgewachsen, dass es wichtiger ist, Zugriff auf etwas zu haben, als es zu besitzen. Sie haben viel seltener ein eigenes Auto oder einen Führerschein. Das ist in Europa nicht anders als in den USA. Ob der Trend anhält, wird sich weisen, wenn sie in eine neue Lebensphase treten und Kinder bekommen. Aber vieles deutet darauf hin, dass diese Generation nicht mehr so stark am Besitz hängt.
Ist das wirklich so neu? Menschen teilen doch, seit es sie gibt. Das Phänomen ist neu, weil es kommerzialisiert wird. Über die digitalen Medien haben sich Mittelsmänner ins Spiel gebracht, die Menschen zusammenbringen, die gerne etwas verborgen oder ausleihen würden. Denn im Grunde ist Sharing-Economy ein irreführender Begriff. Echtes Teilen ohne Profit, so wie in der Familie, ist das nicht. Wir sehen eher, dass Kurzzeitmieten den Besitz in manchen Bereichen ablösen. Der positive Effekt auf die Umwelt bleibt aber dennoch bestehen. Ist das so? Wir wissen nicht erst seit dem Kommunismus, dass Menschen unachtsamer mit Dingen umgehen, die allen – also niemandem so richtig – gehören. Dass das in der Sharing Economy ähnlich ist, zeigen Chinas Müllhalden voll kaputter Leihräder. Der Carsharing-Anbieter Zipcar hat versucht, das Problem zu lösen. Er wollte eine Gemeinschaft aus seinen Nutzern aufbauen – und ist gescheitert. Die Menschen wollen nicht wissen, wer vor ihnen (*1945) ist ein kanadischer Ökonom, der sich seit Jahrzehnten damit beschäftigt, warum Menschen besitzen, sammeln, teilen und schenken. Der Konsumforscher hält den Kraft Foods Canada Lehrstuhl an der Schulich School of Business und war auf Einladung von A1 in Wien. im Auto gesessen hat, sie wollen das Auto nutzen und das wars. In Schweden gibt es ein Gegenbeispiel: Dort haben 300 Menschen ein privates Carsharing gegründet und kümmern sich abwechselnd um Wartung und Pflege der Autos.
Das Problem ist also die Kommerzialisierung einer guten Idee? Die Kommerzialisierung ist ein Teil des Problems, weil es alles so unpersönlich und Menschen unachtsamer macht. Aber auch private Tauschkreise etwa für Werkzeug stoßen oft an Grenzen. Teilen funktioniert meist nur für eine gewisse Zeit, bis die Menschen aus der Phase herauswachsen.
Sie forschen seit Jahrzehnten darüber, warum Menschen besitzen, sammeln, teilen und schenken. Was teilen wir gerne mit anderen – und wo ist die Grenze? Männer und Frauen sind sehr unterschiedlich darin, was sie besitzen und was sie teilen wollen. Unsere Studien haben gezeigt, dass es tatsächlich nicht unüblich ist, dass Frauen hundert Paar Schuhe besitzen. Sie haben in der Tendenz eine stärkere emotionale Bindung zu diesen Gegenständen als Männer. Die hängen wiederum stärker an ihren elektronischen Spielzeugen. Wir haben für eine Studie etwa eine Ballerina kennengelernt, die säckeweise alte Tanzschuhe daheim hatte. Die waren für nichts mehr gut, aber sie konnte sie nicht weggeben, weil in ihnen so viel Schweiß und Blut von ihr steckte.
Gibt es einen Gegenstand, an dem Sie wirklich hängen? Ich habe einen Lieblingskaffeebecher. Den würde ich mit niemandem teilen. Aber wo diese Grenze genau zu ziehen ist, ist schwer zu sagen. Musik ist ein Grenzfall. Wer Musik kennenlernen will, ist bei Streamingdiensten wie Spotify oder Google Music gut aufgehoben. Aber sobald Menschen sich in einen Künstler oder eine Musikrichtung verlieben, haben sie oft das Verlangen, etwas in Händen halten zu wollen. Der große Vorteil der Sharing Economy ist wiederum, dass man damit – zumindest in einer anonymen Großstadt – so wirken kann, als hätte man mehr, als man tatsächlich besitzt. Es gibt zum Beispiel ein Unternehmen, das Luxushandtaschen und Sonnenbrillen tageweise vermietet. Heute Gucci, morgen Prada, übermorgen Louis Vuitton. So kann sich jeder fühlen, als hätte er eine große Garderobe, obwohl es gar nicht so ist. Das ist vielen Menschen wichtig. Die Raffsucht können wir jedoch überwinden.
Und was wird das ändern, wenn wir Dinge nur noch kurzfristig besitzen? Es ist besser für die Umwelt und für das Individuum.
Warum? Wir haben viel darüber geforscht, was Besitz mit Menschen macht. In den USA geht es traditionellerweise so: Man verdient Geld, kauft ein Haus und füllt es mit Zeug. Dann verdient man etwas mehr, kauft ein größeres Haus und füllt es wieder mit Zeug. Und so weiter und so fort. Wir haben in Kalifornien Menschen besucht, die hatten eine Garage für drei große Autos und konnten nicht einmal ein Fahrrad hineinstellen, weil sie so vollgestopft war. Niemand braucht das Zeug, aber wir können es nicht loslassen. Als die Menschen 2008 ihre Häuser verloren haben, haben viele ihre Einrichtung in Lagern geparkt. Heute haben sie wieder Häuser und merken, nichts davon geht ihnen ab. Besitz gibt ein psychologische Sicherheit. Zum persönlichen Wohlbefinden trägt er nichts bei. Da sind die digitalen Modelle, die nur Zugang zu gewissen Diensten bieten, schon besser. Für die Musiksammlung auf Spotify braucht man weder einen Plattenspieler noch sonderlich viel Platz im Wohnzimmer.
Dafür ein gesundes Vertrauen in die Vitalität der Unternehmen, die unsere Musik, Bilder und Kontakte speichern. Das stimmt. Gehen die Unternehmen bankrott, können wir alles wieder verlieren.