Sehnsucht nach Churchill und Ozeanriesen
London. Eine Ausstellung feiert die „Ocean Liners“, Filme wie „Churchill“beschwören den Mythos einer kleinen Nation, die allein gegen einen übermächtigen Gegner steht. Wie Post-Brexit-Großbritannien seine Identität sucht.
Erst machte sich der Mensch die Erde untertan, dann bezwang er die Meere. Die gigantischen Ozeandampfer, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts regelmäßig verkehrten, brachten Millionen in die Neue Welt und in ein neues Leben. Die sehenswerte Ausstellung „Ocean Liners: Speed and Style“im Londoner V&A Museum zitiert den Architekten Le Corbusier mit den Worten: „Der Ozeandampfer ist die erste Stufe in der Verwirklichung einer Welt, die nach einem neuen Geist organisiert ist.“
Die Schau könnte nicht aktueller sein. Wie Millionen Auswanderer zuvor hat Großbritannien am 23. Juni 2016 mit dem BrexitVotum Europa den Rücken gekehrt. Anhänger des EU-Austritts sprechen von einer „Befreiung aus den Fesseln eines bürokratischen Monsters“(so der Ex-Abgeordnete Douglas Carswell), Gegner von „einem der haltlosesten und dümmsten Akt der Selbstbeschädigung in der Geschichte unserer Nation“(so der Historiker Max Hastings).
Unklar ist, wohin nun die Reise des von Shakespeare besungenen „Kleinods, in die Silbersee gefasst“gehen wird, umso heftiger tobt der Kampf um die Deutungshoheit. Die Schlacht wird vorwiegend dort geschlagen, wo auch die Brexit-Debatte stattfand: auf emotionaler Ebene. Binnen weniger Monate sind mit „Churchill“, „Dunkirk“und „Darkest Hour“drei Filme in die britischen Kinos gekommen, die den Mythos einer kleinen Nation beschwören, die sich allein, mutig und gegen alle Chancen einem übermächtigen Gegner stellt: „Wir werden niemals kapitulieren“, sagt Kriegspremier Winston Churchill; „Blut, Schweiß und Tränen“verkündet er, während das Kinopublikum eine weitere Handvoll Popcorn einwirft.
„Darkest Hour“: Applaus im Kino
Dass die Filme nun laufen, mag Zufall sein. Alle drei waren jahrelang geplant und wurden vor der EU-Volksabstimmung fertiggestellt. Weitere sind in Vorbereitung. Doch kein Zufall ist wohl der Zuspruch, den sie in der post-brexitalen Tristesse der Briten finden: Bei „Darkest Hour“wird spontan applaudiert, die aufrüttelnde Schlussrede Churchills („We shall fight on the beaches“) reißt Zuseher gar zu Standing Ovations hin.
Um allein auf hoher See wie ein Ozeandampfer gegen Wind und Wellen bestehen zu können, bedarf es starker Führung: Das ist eine weitere Botschaft der Filme. Der in Großbritannien ohnehin weit verbreitete Churchill-Kult (regelmäßig wird er zum „größten Briten“gewählt) erlebt nun im Kino eine neue Hochmesse. Gerade weil „Darkest Hour“, wie „Dunkirk“für eine Vielzahl von Oscars nominiert, ein vielschichtiges Porträt von Churchill (in schauspielerischer Glanzleistung) entwirft, strahlt sein Heldenmythos umso heller.
Das Bild der kleinen Insel der Guten, die sich dem übermächtigen Bösen damals und heute todesmutig entgegenstellt, funktioniert aber nur, wenn man die EU mit HitlerDeutschland gleichsetzt. Der derzeitige britische Außenminister Boris Johnson, ein Vorreiter des Brexit, hat genau das getan. Er ist auch ein führender Jünger des ChurchillKults. Der italienische Kolumnist Beppe Severgnini schrieb: „1940 allein gegen die Feinde zu sein, war heroisch. 2016 allein unter Freunden zu sein, ist absurd.“
Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, als die Welt noch in Ordnung, als die Guten gut (und Briten) und die Bösen böse waren, lebt auch in den „Keep Calm and Carry On“-Plakaten aus dem Jahr 1941 fort, die heute wieder allgegenwärtig sind, auf Kaffeehäferln, T-Shirts, Postern. Nicht nur im Krieg suchen viele einen Anknüpfungspunkt für die Neubestimmung der Identität in der Vergangenheit. Sheila Malone, Psychologin an der Lancaster University, führt etwa die rapide Zunahme an Inlandsurlauben auf „Nervosität und Unsicherheit rund um den Brexit“zurück: In dieser Situation spielten „Nostalgie und Sehnsucht nach Kindheitserinnerungen“eine große Rolle.
„The Mercy“: Aufbruch ins Ungewisse
Der neue Film „The Mercy“erzählt die Geschichte von Donald Crowhurst, der 1968 in patriotischem Überschwang völlig unzureichend ausgerüstet zur Weltumseglung aufbrach und auf hoher See verschollen ist. Regisseur James Marsh sieht das als Metapher: „ein Wagnis, das einer eingeht, der sicher auf trockenem Land sitzt, der alles zu verlieren hat, der sich selbst von allen Sicherheiten abschneidet, ohne angemessene Finanzierung oder Vorbereitung.“
Die viel beschworene Vergangenheit ist auch eine Zeit ohne Fremde – als die Briten noch unter sich waren. Umfragen belegen, dass Migration der entscheidende Faktor für die Brexit-Entscheidung war. Dass die Mehr- heit der Briten für den EU-Austritt stimmte, obwohl sie wussten, damit wirtschaftliche Nachteile einzugehen, erklären Maria Sobolewska und Robert Ford von der University of Manchester mit dem Gefühl der Bedrohung der Identität: „Im Referendum ging es nicht nur um die EU, sondern es teilte die Menschen nach ihrer Ansicht über die Art von Großbritannien, in dem sie leben wollen.“Wer gegen Förderung von Minderheiten ist, stimmte für den Brexit.
Der Besuch im V&A bietet noch einen weiteren Schlüssel zur Identitätssuche der Briten: Eine zweite Ausstellung dort feiert Winnie-the-Pooh. Dem weltberühmten Bären „von sehr geringem Verstand“verdanken wir die weisen Verse: „Am Montag scheint die Sonne heiß./Ich stelle mir die Frage:/ Weiß ich es, dass ich dieses weiß?/Wie sieht sie aus, die Lage?“Auch darauf findet man im Museum eine mögliche Antwort: Der letzte Saal der Ocean-Liners-Schau ist dem Untergang der Titanic gewidmet.