Die Presse

Sehnsucht nach Churchill und Ozeanriese­n

London. Eine Ausstellun­g feiert die „Ocean Liners“, Filme wie „Churchill“beschwören den Mythos einer kleinen Nation, die allein gegen einen übermächti­gen Gegner steht. Wie Post-Brexit-Großbritan­nien seine Identität sucht.

- VON GABRIEL RATH „Ocean Liners: Speed and Style“: Victoria & Albert Museum, Cromwell Road, London SW7 2RL, bis 17. Juni. „Darkest Hour“: derzeit im Kino; „The Mercy“: ab 30. 3.

Erst machte sich der Mensch die Erde untertan, dann bezwang er die Meere. Die gigantisch­en Ozeandampf­er, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts regelmäßig verkehrten, brachten Millionen in die Neue Welt und in ein neues Leben. Die sehenswert­e Ausstellun­g „Ocean Liners: Speed and Style“im Londoner V&A Museum zitiert den Architekte­n Le Corbusier mit den Worten: „Der Ozeandampf­er ist die erste Stufe in der Verwirklic­hung einer Welt, die nach einem neuen Geist organisier­t ist.“

Die Schau könnte nicht aktueller sein. Wie Millionen Auswandere­r zuvor hat Großbritan­nien am 23. Juni 2016 mit dem BrexitVotu­m Europa den Rücken gekehrt. Anhänger des EU-Austritts sprechen von einer „Befreiung aus den Fesseln eines bürokratis­chen Monsters“(so der Ex-Abgeordnet­e Douglas Carswell), Gegner von „einem der haltlosest­en und dümmsten Akt der Selbstbesc­hädigung in der Geschichte unserer Nation“(so der Historiker Max Hastings).

Unklar ist, wohin nun die Reise des von Shakespear­e besungenen „Kleinods, in die Silbersee gefasst“gehen wird, umso heftiger tobt der Kampf um die Deutungsho­heit. Die Schlacht wird vorwiegend dort geschlagen, wo auch die Brexit-Debatte stattfand: auf emotionale­r Ebene. Binnen weniger Monate sind mit „Churchill“, „Dunkirk“und „Darkest Hour“drei Filme in die britischen Kinos gekommen, die den Mythos einer kleinen Nation beschwören, die sich allein, mutig und gegen alle Chancen einem übermächti­gen Gegner stellt: „Wir werden niemals kapitulier­en“, sagt Kriegsprem­ier Winston Churchill; „Blut, Schweiß und Tränen“verkündet er, während das Kinopublik­um eine weitere Handvoll Popcorn einwirft.

„Darkest Hour“: Applaus im Kino

Dass die Filme nun laufen, mag Zufall sein. Alle drei waren jahrelang geplant und wurden vor der EU-Volksabsti­mmung fertiggest­ellt. Weitere sind in Vorbereitu­ng. Doch kein Zufall ist wohl der Zuspruch, den sie in der post-brexitalen Tristesse der Briten finden: Bei „Darkest Hour“wird spontan applaudier­t, die aufrütteln­de Schlussred­e Churchills („We shall fight on the beaches“) reißt Zuseher gar zu Standing Ovations hin.

Um allein auf hoher See wie ein Ozeandampf­er gegen Wind und Wellen bestehen zu können, bedarf es starker Führung: Das ist eine weitere Botschaft der Filme. Der in Großbritan­nien ohnehin weit verbreitet­e Churchill-Kult (regelmäßig wird er zum „größten Briten“gewählt) erlebt nun im Kino eine neue Hochmesse. Gerade weil „Darkest Hour“, wie „Dunkirk“für eine Vielzahl von Oscars nominiert, ein vielschich­tiges Porträt von Churchill (in schauspiel­erischer Glanzleist­ung) entwirft, strahlt sein Heldenmyth­os umso heller.

Das Bild der kleinen Insel der Guten, die sich dem übermächti­gen Bösen damals und heute todesmutig entgegenst­ellt, funktionie­rt aber nur, wenn man die EU mit HitlerDeut­schland gleichsetz­t. Der derzeitige britische Außenminis­ter Boris Johnson, ein Vorreiter des Brexit, hat genau das getan. Er ist auch ein führender Jünger des ChurchillK­ults. Der italienisc­he Kolumnist Beppe Severgnini schrieb: „1940 allein gegen die Feinde zu sein, war heroisch. 2016 allein unter Freunden zu sein, ist absurd.“

Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, als die Welt noch in Ordnung, als die Guten gut (und Briten) und die Bösen böse waren, lebt auch in den „Keep Calm and Carry On“-Plakaten aus dem Jahr 1941 fort, die heute wieder allgegenwä­rtig sind, auf Kaffeehäfe­rln, T-Shirts, Postern. Nicht nur im Krieg suchen viele einen Anknüpfung­spunkt für die Neubestimm­ung der Identität in der Vergangenh­eit. Sheila Malone, Psychologi­n an der Lancaster University, führt etwa die rapide Zunahme an Inlandsurl­auben auf „Nervosität und Unsicherhe­it rund um den Brexit“zurück: In dieser Situation spielten „Nostalgie und Sehnsucht nach Kindheitse­rinnerunge­n“eine große Rolle.

„The Mercy“: Aufbruch ins Ungewisse

Der neue Film „The Mercy“erzählt die Geschichte von Donald Crowhurst, der 1968 in patriotisc­hem Überschwan­g völlig unzureiche­nd ausgerüste­t zur Weltumsegl­ung aufbrach und auf hoher See verscholle­n ist. Regisseur James Marsh sieht das als Metapher: „ein Wagnis, das einer eingeht, der sicher auf trockenem Land sitzt, der alles zu verlieren hat, der sich selbst von allen Sicherheit­en abschneide­t, ohne angemessen­e Finanzieru­ng oder Vorbereitu­ng.“

Die viel beschworen­e Vergangenh­eit ist auch eine Zeit ohne Fremde – als die Briten noch unter sich waren. Umfragen belegen, dass Migration der entscheide­nde Faktor für die Brexit-Entscheidu­ng war. Dass die Mehr- heit der Briten für den EU-Austritt stimmte, obwohl sie wussten, damit wirtschaft­liche Nachteile einzugehen, erklären Maria Sobolewska und Robert Ford von der University of Manchester mit dem Gefühl der Bedrohung der Identität: „Im Referendum ging es nicht nur um die EU, sondern es teilte die Menschen nach ihrer Ansicht über die Art von Großbritan­nien, in dem sie leben wollen.“Wer gegen Förderung von Minderheit­en ist, stimmte für den Brexit.

Der Besuch im V&A bietet noch einen weiteren Schlüssel zur Identitäts­suche der Briten: Eine zweite Ausstellun­g dort feiert Winnie-the-Pooh. Dem weltberühm­ten Bären „von sehr geringem Verstand“verdanken wir die weisen Verse: „Am Montag scheint die Sonne heiß./Ich stelle mir die Frage:/ Weiß ich es, dass ich dieses weiß?/Wie sieht sie aus, die Lage?“Auch darauf findet man im Museum eine mögliche Antwort: Der letzte Saal der Ocean-Liners-Schau ist dem Untergang der Titanic gewidmet.

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[ V&A Museum/Getty Images] Aufbruch ins Ungewisse: Der letzte Saal der sehenswert­en Schau „Ocean Liners“im Victoria & Albert Museum ist der Titanic (hier noch am Trockendoc­k) gewidmet.

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